21. Jahrgang | Nummer 25 | 3. Dezember 2018

Bemerkungen

Ein Träumer des Kinos

„Die Ewigkeit des Menschengeschlechts sind seine Träume“, hat Bernardo Bertolucci einmal gesagt. Als letzter Vertreter der großen realistisch-poetischen Regie-Titanen des italienischen Kinos ist er, der unter seinen Kollegen und Vorbildern Antonioni, De Sica, Fellini, Pasolini, Rosselini und Visconti der Jüngste war, nun 77-jährig einem langen Leiden erlegen. Zumindest zeitweise stand ihm Pasolini am nächsten, den er schon als Jugendlicher kennengelernt hatte, weil er in einem literarisch geprägten Elternhaus auf einem Dorf bei Parma, später in Rom aufwuchs. Der um zwei Jahrzehnte ältere Pier Paolo Pasolini war Schriftsteller, vom Film fasziniert, und Bertolucci ging es ebenso (mit einem Gedichtband gewann er 1962 einen angesehenen Preis). Mit 39 konnte Pasolini seinen ersten Film realisieren, und der 19-jährige Bertolucci war bei „Accatone“ sein Regieassistent. Er fiel dem Produzenten auf, der ihm kurz darauf die erste Regiearbeit (nach einen Pasolini-Stoff) anvertraute.
Einen zu wenig beachteten Film drehte der Regisseur, der inzwischen wie Pasolini auch Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens geworden war, 1964 mit „Vor der Revolution“, in dem er den Zwiespalt des bürgerlichen Intellektuellen gestaltete, der für die revolutionären Massen arbeiten will. Er träumte vom sozialen Ausgleich. (Noch 1984 beteiligte er sich an einem Film über den KPI-Generalsekretär Enrico Berlinguer). Mehr Aufsehen erregte in der ganzen Welt sein „Letzter Tango in Paris“ (1972), ein Film um Erotik, der in seiner Drastik die bürgerlichen Sehgewohnheiten verletzte, aber die Liebe propagierte und entgegen damals geäußerten Meinungen nicht pornografisch war. In der DDR kam der Film ebenso wenig wie Bertoluccis vorherige Filme in die Kinos, wurde aber wegen der außergewöhnlichen Filmsprache des Meisters immer mal wieder Babelsberger Filmstudenten gezeigt.
Umso stärker war die Wucht, die auf DDR-Kinogänger wirkte, als Bertoluccis monumentaler Zweiteiler „1900“ dann 1978 überall lief. Er gab anhand der Geschichte zweier Jugendfreunde (Gérard Depardieu und Robert de Niro) mit eindrucksvollen stilistischen Mitteln einen Überblick über die politische Entwicklung Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zeigte die Dekadenz der Oberschicht und geißelte die Brutalität des Faschismus. Nur ein weiterer Film des Meisters kam in die DDR: „Der letzte Kaiser“ (1987), der als faszinierende Parabel die Dualität von Individuum und historischen Zwängen am Beispiel der chinesischen Mandschu-Dynastie erzählt. In dieser Phase waren Bertoluccis Filme ausladend, opernhaft und melodramatisch geworden. Das kam an. Der an Originalschauplätzen gedrehte Film gewann acht Oscars.
Zu seinen Anfängen kehrte Bertolucci 2003 mit dem Alterswerk „Die Träumer“ zurück. Er erzählte eine Ménage à trois unter Pariser Studenten zur Zeit der Unruhen von 1968. Das Trio lernt sich bei den Vorführungen in der Cinémathèque française kennen, ist von Filmen fasziniert, spielt sie frappierend genau nach. Dass die Unruhen ausbrechen, hat viel mit der Entlassung des verehrten Chefs der Cinémathèque, Henri Langlois, zu tun. Wie Visconti in seinem Spätwerk „Gewalt und Leidenschaft“ verengt Bertolucci den Blick auf die Außenwelt immer mehr, verfolgt die erotischen Eskapaden des Trios, bis es am Schluss zum Erwachen kommt. In dieser Qualität hätte der filmverrückte Träumer Bertolucci sicherlich noch viel zu erzählen gehabt.

F.-B. Habel

Die zweite Revolution

Gestern war Revolution. Endlich! Die Minister wurden eingesperrt, den Verkehrsminister traf der Schlag vor Freude, der Innenminister wurde verprügelt in einem Keller (Der Kriegsminister war immer schon dabei.) der Ministerpräsident floh über die Grenze. Endlich, endlich!
Es herrscht ein gewaltiger Jubel. Das Volk tanzt auf den Straßen und marschiert hin und her. Überall werden die alten Flaggen zerrissen und verbrannt, die neuen feierlich gehißt. Das Militär präsentiert der neuen Fahne.
Der Führer hat Tränen in den Augen.
Die alte Frau Hatschmaier hat vor Freunde der Schlag getroffen.
Endlich, endlich, hat es das Volk erreicht!
Verschwunden waren die Kasten, die Klassen. Es gab nur das Volk! Verschwunden die falschen Götter, die Zivilisation!
Man kannte nur eine Nation.
Es gab zwar welche, die sagten, wieso ist das Volk geeint, wieso gibt es Gleichheit und Brüderlichkeit und Freiheit, wo doch manche viel Geld haben und manche nichts? Sie wurden kurzerhand erschlagen, die das behaupteten

Ödön von Horváth (1937)

Richtiger Schritt aus falschem Anlass

Endlich, mochte man denken. Die Bundesregierung stoppt alle Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Es wird keine neuen Exportgenehmigungen mehr geben und wichtiger noch: Bereits erteilte Einzelausfuhrgenehmigungen dürfen nicht weiter genutzt werden. Die erst vor wenigen Monaten genehmigten Artillerieortungsradare sollen ebenso wenig geliefert werden wie bereits gebaute Patrouillenboote der Firma Lürssen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie auch zur Blockade des jemenitischen Hafens von Hodeidah eingesetzt wurden, dem derzeit wichtigsten Anlandehafen für humanitäre Hilfe im Jemen.
Doch Vorsicht ist angebracht. Außenminister Maaß sprach kürzlich davon, „derzeit“ seien die Voraussetzungen für positive Genehmigungsentscheidungen nicht gegeben, und in der Bundespressekonferenz bemühten sich die Sprecher der Bundesregierung wiederholt und redlich, nur ja keine Klarheit aufkommen zu lassen, wie man mit bestehenden Exportgenehmigungen und den betroffenen Firmen umgehe. Darauf könne man aus „verfassungsrechtlichen Gründen“ nicht „näher eingehen“.
Anlass für das Umdenken der Bundesregierung ist erklärtermaßen vor allem die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi in Istanbul. Saudi-Arabien soll reinen Tisch machen, die Tat nachvollziehbar erklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Und dann, so fragt man sich, gibt es auch wieder deutsche Rüstungsgüter für den Kriegseinsatz im Jemen? Genauso so scheint es zu sein. Das Dilemma der deutschen Politik wird hier sichtbar: Tausende jemenitischer Zivilisten, die seit März 2015 Opfer des von Saudi-Arabien geführten Krieges gegen die Houthis wurden, haben die Bundesregierung im Verlauf von dreieinhalb Jahren nicht zu einem völligen Stopp aller Waffenlieferungen an die Länder veranlasst, die im Jemen interveniert haben. Und jetzt soll dieser Schritt aufgrund der willkürlichen, brutalen Ermordung eines einzelnen Journalisten erfolgen.
Das damit verbundene politische Signal ist fatal: Riad muss die Causa Khashoggi bereinigen, nicht aber den Krieg im Jemen beenden, wenn es wieder deutsche Rüstungsgüter kaufen will. Die humanitäre Krise im Jemen darf dagegen weitergehen. Dieser Eindruck wird weiter verstärkt, da die Bundesregierung gegen das zweite Land, das im Jemen direkt und aktiv Krieg führt, die Vereinigten Arabischen Emirate, keinen solchen vollständigen Lieferstopp verhängt hat.
Das Verdikt bezieht sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums zudem nur auf Einzelausfuhrgenehmigungen. Zulieferungen deutscher Firmen für große, internationale Waffenprojekte wie den Eurofighter, die per Sammelausfuhrgenehmigung erlaubt wurden, sind scheinbar nicht betroffen. Hier strebt die Bundesregierung lediglich eine gemeinsame Haltung in der Europäischen Union an. Die aber dürfte es kaum oder auch nur vorübergehend geben. Schließlich berichtet der Spiegel, der Stopp der Genehmigungen und Lieferungen gelte zunächst nur für zwei Monate. Dann solle im Lichte der aktuellen Entwicklungen im Fall Khashoggi eine neue Entscheidung getroffen werden. Vergrößert wird also lediglich der zeitliche Druck auf Saudi-Arabien, schnell eine zufriedenstellende Erklärung für den Mord in Istanbul und die dafür Verantwortlichen zu liefern.
Im Jemen kauft die Bundesregierung der von Saudi-Arabien angeführten Koalition damit politisch mehr Zeit, um den Krieg zu ihren Bedingungen zu beenden.
Bezahlen werden dies jemenitische Zivilisten – nicht zuletzt mit ihrem Leben.

Otfried Nassauer

Too little, too late

Ist man nicht nur Pessimist oder Defätist, sondern sogar Saboteur einer Idee, wenn man diese trotz Anerkennung bester Absichten für nicht hoffnungsvoll hält? Sofern diese Frage zu bejahen ist, muss ich mich einer solchen Sabotage selbst bezichtigen. Ihr Gegenstand ist der Migrationspakt, der im Dezember in Marrakesch beschlossen werden soll und nun heftig in kontroverser Diskussion steht. Und nicht nur das, denn da dieses Abkommen nicht völkerrechtsverbindlich ist, bleibt es den Einzelstaaten sowieso überlassen, sich dessen Programmatik und den daraus resultierenden Zielen anzuschließen. Und allein in Europa haben das mehrere Staaten (Ungarn, Österreich, Tschechien und Bulgarien und wohl auch Estland) bereits abgelehnt, die USA und Australien gehören zu jenen außerhalb Europas. Dies allein wäre nun allerdings kein zwingender Grund, davon abzulassen, was der Pakt bewirken soll: die Schaffung von Voraussetzungen, um die Migration künftig minimieren, und dort, wo sie weiter stattfindet, sie kollektiv zu bewältigen.
Und da liegt der Hase im Pfeffer. Denn in den 23 festgeschriebenen Zielen des Paktes ist Paragraf 2 wohl der wichtigste, da letztlich wirklich nachhaltig: „Minimierung nachteiliger Triebkräfte und struktureller Faktoren, die Menschen dazu bewegen, ihre Herkunftsländer zu verlassen”. Gar keine Frage: Das ist die Frage aller Fragen, beziehungsweise die Aufgabe aller Aufgaben, für die die anderen 22 formulierten Zielpunkte einen programmatischen und organisatorischen Unterbau zu schaffen haben. Nur eben dort setzt mein Zweifel ein. Denn zum einen ist die „Minimierung nachteiliger Triebkräfte und struktureller Faktoren, die Menschen dazu bewegen, ihre Herkunftsländer zu verlassen“ eine Art Jahrhundertwerk, selbst wenn umgehend, kollektiv, konsequent und massiv damit begonnen würde. Und entsprechend langfristig sind dann auch jene sinngebenden Erfolge bei der Migrationsminimierung, die aber eigentlich rasch zu zeitigen wären. Zudem: Dank der völkerrechtlichen Unverbindlichkeit des Abkommens darf nach einschlägigen politischen Erfahrungen leider wohl davon ausgegangen werden, dass selbst unter den beigetretenen Staaten einige sein werden, die wenig oder viel zu Langsames für seine Realisierung tun werden – würde es anders verlaufen, dürften wir von einem globalem Wunder reden.
Nein, was dieser Pakt will, hätte in gleicher globaler Kollektivität und Komplexität vor Jahrzehnten beschlossen und umgesetzt werden müssen, um zu verhindern, wenigstens aber drastisch zu lindern, womit wir es heute weltweit zu tun haben. Aber solange die Dritte Welt darauf verzichtet hatte, Druck durch Massenmigration aufzubauen, war man im Westen mit sich und der milliardenschweren Entwicklungshilfe zufrieden, und etliche, aber eben wenige afrikanische Nutznießer dessen wohl auch. Und ebenfalls: Wäre man im Westen an einer sozialökonomischen Stabilisierung und wirklichen Entwicklung der Dritten Welt ernsthaft interessiert gewesen, wäre auch jenes Zerstörungswerk unterblieben, mit dem allen voran die USA bisher so blutig dem abendländischen Demokratieverständnis in Afrika und dem Nahen Osten zum Erfolg verhelfen wollten; mit dem Ergebnis, dass vor allem dieser Nahen Osten und Nordafrika für seine Bewohner unsicherer und zum Teil unbewohnbarer denn je sind, von der Lebensgefährlichkeit, dort leben und ein Auskommen fristen zu müssen, ganz zu schweigen.
Ich gebe zu – diese Zeilen atmen blanken Pessimismus. Aber zum Gegenteil, nicht mal zu nennenswerter Hoffnung sehe ich leider keinen Anlass. Bleibt nur die Hoffnung, dass der Migrationspakt vielleicht graduelle Verbesserungen gebiert, vielleicht!
Wenn nicht, wird ihm nachzusagen bleiben: Too little, too late…

Hajo Jasper

Medien-Mosaik

Die Filmverleiher bringen gerade in der Vorweihnachtszeit gern Filme „für die ganze Familie“ heraus, liegen damit aber auch gelegentlich falsch. Den neuen Film „Astrid“, eine schwedisch-dänische Koproduktion, sollte man sich nicht mit allzu kleinen Kindern ansehen, denn er erzählt den ersten Lebensabschnitt der später als Lindgren bekannten Astrid Ericsson. Die in reifen Jahren gefeierte Kinderbuchautorin hatte schwere Zeiten zu durchleben, weil ihr Sexualverhalten nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach. Sie verführte ihren noch nicht geschiedenen Chef und wurde schwanger, wollte das Kind, aber nicht den Vater, und musste ihren kleinen Lars in Kopenhagen zur Welt bringen, damit es nicht ruchbar wird. Es brach ihr fast das Herz, dass sie Lars dort bei einer Pflegemutter lassen musste. Der Schluss des Films deutet auf zarte Weise an, dass sie mit ihrem neuen Chef Sture Lindgren vielleicht glücklich werden könnte. Die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen hat sich eng an die Biografie gehalten, und Alba August in der Hauptrolle zeigt eine Astrid so dicht zwischen Phantasie und Ernsthaftigkeit, Verzweiflung und Lebenslust, dass man ihr einen wirklich großen Filmpreis gönnen würde.

„Astrid“, Regie: Pernille Fischer Christensen, DCM Distribution; ab 6. Dezember in vielen Kinos.

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Das konnte doch nicht alles gewesen sein! Immerhin neun Jahre nach ihrem Erstling „Fürs Schubfach zu dick“ hat Franziska Troegner ihr zweites Buch „Permanent trendresistent“ vorgelegt. In bewährter Weise hat Autor Andreas Püschel der Schauspielerin unter die Arme gegriffen. Beide verstehen charmant zu plaudern, und wer Franziska Troegner kennt, weiß, dass gewisse Bemerkungen wider Zeitgeist und Trend durchaus aus ihrem Alltag erwachsen sind. Auch, wenn biografische Notizen nicht fehlen, Anekdoten von Theatergastspielen und Filmdreharbeiten, ist es doch eine gute Mischung von Erinnerungen und aktuellen Beobachtungen geworden. Besonders liebevoll liest sich eine Betrachtung des Alltags am Berliner Humannplatz, in dessen Nähe die kleine Franziska aufwuchs. Man muss an Autoren wie Holtz-Baumert oder Bosetzky denken. Sie erinnert an einst beliebte Künstler aus Ost und West, wie Gina Presgott und Achim Grubel, verrät, wie Schauspieler mit Nacktaufnahmen umgehen, und weil man es von dem „Wonneproppen“ wohl erwartet, streut sie auch interessante Kochrezepte mit ein, alles voller Humor und Ironie! Man merkt, dass sie von den vielen Gesprächen mit ihrer Freundin Renate Holland-Moritz profitiert hat: eine Geschichte wie die von der allergiebehafteten Burglinde ist einer RHM würdig. Eines macht die viel zu diskrete Schauspielerin allerdings anders: RHM wäre an ihrem Wissen erstickt, wenn sie nicht die Klarnamen aller handelnden Personen genannt hätte!

Franziska Troegner mit Andreas Püschel: Permanent trendresistent, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2018, 176 Seiten, 12,99 Euro.

bebe

Film ab

Wem seit „Easy Rider“ (1969) klassischer, satt wummernder Sound schwerer Bykes das sine qua non entsprechender Road Movies war, der wird sich am Ende dieses Streifens verwundert die Augen reiben: Das asthmatische Falsett altersschwacher Mofas vermag eine vergleichbare Sogwirkung zu entfalten. Das hat, wie bei „Easy Rider“, natürlich zuvorderst auch mit den Bildern, den Landschaften, den Kamerafahrten und den Schauspielern zu tun. In diesem Fall mit Lars Eidinger und Bjarne Mädel, die sich auf den stullenbrettschmalen Sitzbänkchen ihrer Nähmaschinchen auf dem Weg vom Schwarzwald über NRW – mit einem Schlenker über Berlin – bis an die Ostsee ihre Pos wund reiten. Der Hamlet von der Berliner Schaubühne und der Tatortreiniger vom NDR erweisen sich dabei als geniales Casting eines ziemlich gegensätzlichen Brüderpaares, das aber, wenn es gegen feindlich gesinnte Dritte geht, wie Pech und Schwefel zusammenhalten kann. Der DNA des Genres folgend widerfährt ihnen unterwegs manches Widrige und manches Unwidrige. Neues natürlich auch. Der eine von beiden musste erst 45 Jahre alt werden, um zu erfahren, was eine reizende weibliche Zufallsbekanntschaft meinen könnte, wenn sie am Ende des Tages sagt: „Sex ist OK. Aber fi…cken geht nicht.“ Den Film „The Counselor“ (2013) hatte er offenbar nicht gesehen …
In einer lebensbedrohlichen Situation schließlich bringen die Brüder den Mut der Verzweiflung auf und liefern en passant eine atemberaubende Hommage an einen anderen Klassiker des Genres ab, an „Thelma & Louise“ (1991). Vor allem aber lernen sich die beiden nach dreißigjähriger Trennung endlich richtig kennen. Das ist anrührend, das ist komisch, das ist tragisch, und das ist immer wieder ziemlich sanguinisch. Wer bisher noch kein Road Movie gesehen hatte, könnte am Ende von „25 km/h“ eine Ahnung davon haben, was er im Kino bisher alles verpasst hat.

Clemens Fischer

25 km/h – Regie und Mitarbeit an Drehbuch und Schnitt: Markus Goller; derzeit in den Kinos.

Auch für Veteranen: kein richtiges Leben im falschen!

In den USA und Großbritannien gilt jeder gewesene Soldat als Veteran. In den Niederlanden und Dänemark müssen Soldaten im Auslandseinsatz gewesen sein, um als solcher zu gelten. Wieder andere Staaten wie zum Beispiel Israel haben keine präzisen Festlegungen zu diesem Begriff. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen haben sich das Verteidigungsministerium (BMVg) und die größten soldatischen Interessenvertretungen hierzulande, Bundeswehrverband und Reservistenverband, darauf verständigt, wer ab sofort in Deutschland als Veteran gilt – nämlich sämtliche Soldaten, die je in der Bundeswehr gedient haben. Aktive werden ebenso erfasst wie Reservisten, die nur zeitweise den Streitkräften angehörten. Damit sind nunmehr zehn Millionen Menschen in Deutschland Veteranen.
Was die von ihrem neuen Status haben? Rabatte, wie in den USA? Bessere Betreuung und Versorgung im Hinblick auf gesundheitliche Probleme und Schäden infolge von Auslandseinsätzen? Mehr Zuwendung für die Hinterbliebenen Gefallener? Ein identitätsstiftendes Veteranen-Abzeichen, wie der Wehrbeauftragte des Bundestages angeregt hat? Oder wenigstens halbierte Kinoeintrittspreise bei Kriegsfilmen als Ausdruck gesellschaftlicher Wertschätzung? (Gewesenen Soldaten gebühre, so Ursula von der Leyen, „ein Leben lang Respekt und Anerkennung“.)
Nichts davon jedenfalls ist Bestandteil der jetzigen Einigung zwischen BMVg und Interessenvertretungen. Mit deutscher Gründlichkeit hat man jedoch festgelegt, wer alles nicht unter die Definition fällt – nämlich Bundeswehrsoldaten, die unehrenhaft aus dem Dienst entlassen wurden, und sämtliche ehemaligen Angehörigen der NVA, so sie nicht im Vollzug der deutschen Einheit von der Bundeswehr übernommen wurden. Dass diese ebenfalls Millionen nicht minder in Ehren ihrem Land gedient haben könnten, das darf einfach nicht sein. Eine erneute demonstrative, weil vorsätzliche Zeichensetzung dafür, dass eben doch nicht zusammenwächst, was wahrscheinlich auch gar nicht zusammengehört.
Rührt euch!
Weitermachen!

Alfons Markuske

Im Lehnstuhl

Herrn Robert Koppel zugeeignet

von Otto Julius Bierbaum

Laßt uns nicht schelten und schmä..hä..hen,
Das Leben ist so wie so schlimm (ja schlimm!)
Laßt Friedenskeime uns sä…ä…en,
Begraben den grimmigen Grimm!

Was hilft es, die Fäuste zu ba…a…llen,
Dadurch wird der Böse nicht gut (ja gut!)
Und ist ein Schimpfwort gefa…a…llen,
Verdoppelt sich blos seine Wut.

Zähneknirschen und Augenro…o…llen
Hat gleichfalls gar keinen Sinn (ja Sinn!)
Sie thun ja doch was sie wo…o…llen,
Gehn ihres Weges dahin.

Drum rat ich euch, zündet die Pfei..ei..fe
Des Friedens im Lehnstuhle an (ja an!)
Zorn ist eine giftige Sei..ei..fe,
Die Unheil anrichten kann.

(1901)

Über Kunstraub, Kunstganoven und andere Leute

Es war vor allem der Untertitel „Kunsthandel und Kunstraub in der DDR“, der mich als Krimifreund und Auslandssachsen anzog und veranlasste dem neusten Buch von Klaus Behling „Auf den Spuren der alten Meister“ den Vorzug in der Lesefolge meiner Bücherwunschliste zu geben. Ich wurde nicht enttäuscht.
„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ Diese Aufforderung vom Geheimen Rat Johann Wolfgang von Goethe im „Faust I“ interpretierten nach Individualität suchende DDR-Bürger gewiss anders als die von Partei- und Staatsführung der DDR „Beauftragten“ zur Beschaffung von Devisen, die im Kulturguthandel zwischen Ost und West eine attraktive Marktnische entdeckten. Dass dabei die Grenzen zwischen legitimem, legalem und illegalem Handel oft verwischten, DDR-Recht und internationale Vereinbarungen wissentlich und nicht selten skrupellos gebrochen wurden und dies, oft mit staatlicher Billigung, als Unrecht geschah, beschreibt Klaus Behling faktenreich und packend an Hand zahlreicher Einzelfälle.
Dank sorgfältiger Recherche gelingt es Bestsellersautor Behling meisterhaft, neue Erkenntnisse mit brisanten Fakten zu belegen und Hintergründe für den rücksichtslosen Ausverkauf der Kulturgüter zwischen Ostsee und Erzgebirge darzulegen. Seine akribische Bestandsaufnahme leuchtet sowohl die Grauzonen der SED-Politik als auch die Wirkungsmechanismen der unterschiedlichen Interpretationen deutsch-deutscher Kulturpolitik in Bonn und Ost-Berlin aus. In fesselnder Weise beschreibt Klaus Behling die enge Verflechtung von halblegalem und illegalem Kunsthandel in den Ost-West-Beziehungen, die zu Unrecht führenden „Zwänge“ der devisenklammen DDR auf der einen Seite und die schnellen Profit suchenden und Millionen scheffelnden Akteure auf der anderen Seite und auf dem internationalen Kunstmarkt. Seine bildhaften Beschreibungen der Täter-Opfer-Beziehungen, krimineller Handlungsorte, kriegsbedingter Kunst- und Antiquitätenverstecke und nicht zuletzt sein damit verbundener Verweis auf viele bis heute ungelöste und unaufgeklärte Kunstraubfälle heben den Doku-Krimi von Klaus Behling aus dem umfangreichen Sachbuchangebot zu diesem Thema heraus.

Juri Klugmann, Cannington (Ontario)

Klaus Behling: Auf den Spuren der alten Meister. Kunsthandel und Kunstraub in der DDR, Bild und Heimat, Berlin 2018, 560 Seiten, 19,99 Euro.
Juri Klugmann, kanadischer Staatsbürger, ist Journalist und Politologe, lebt seit 30 Jahren in Kanada und war von 1997 bis 2014 Herausgeber und Chefredakteur der Internationalen Deutschen Rundschau, Ontario.

Betörend wie verstörend

Er hat immer wieder polarisiert mit seiner Musik, ohne dass er dies beabsichtigt hätte. Seine künstlerischen Erfolge lassen sich auch in konkreten Zahlen benennen. Er kann darauf verweisen, dass die weltweit meist verkaufte Jazz-Solo-Veröffentlichung von ihm stammt. Er hatte aber auch persönliche Abstürze und Tiefpunkte zu verarbeiten: Gescheiterte Ehen, eine langjährige Erkrankung (das „Chronische Erschöpfungssyndrom“ war in den 90er Jahre noch ziemlich unbekannt; mittlerweile werden psychische Krankheiten für die meisten und längsten Krankheitsausfälle verantwortlich gemacht). Bekannt wurde Keith Jarrett unter anderem als Begleitmusiker von Miles Davis. Kultstatus erreichte er mit der Solo-Veröffentlichung „The Köln Concert“ 1975. Die damals als Doppel-Langspielplatte erschienene Aufnahme eines Konzertes im Kölner Opernhaus war nicht nur im Westen Deutschlands ein unverzichtbarer Bestandteil jeglicher progressiver Musiksammlung. Doch nicht jedermann goutierte seinerzeit diese 66-minütige Klavierimprovisation. Der begnadete Satiriker Wiglaf Droste dichtete hierzu beispielsweise: „Junge Menschen wurden greise / Wenn Keith Jarrett klimperte / Auf dem Flokati litt ganz leise / Wer vorher fröhlich pimperte.“ Dabei hätte dieses Konzert um ein Haar nicht stattgefunden, weil sich Keith Jarrett mit äußerst widrigen Begleitumständen arrangieren musste, unter anderem war das ihm zur Verfügung gestellte Tasteninstrument nur ein notdürftig reparierter Ersatz, weil der eigentlich vorgesehene Konzertflügel nicht auffindbar war.
Seine 2018 erschienene Doppel-CD „La Fenice“ ist die Tonaufzeichnung eines Konzerts aus dem altehrwürden Gran Teatro La Fenice am 19. Juli 2006 in Venedig. Betörend wie verstörend bedient er schwarz-weißen Tasten. Er erweist sich – wieder einmal – als atonaler Anarcho, als innovativer Improvisationskünstler, als gefühlvoller Geheimniskrämer. Das Doppelalbum „La Fenice“ bietet neben dem „Impro-Teil“, einer Suite von acht spontan entstandenen Stücken, einige mehr oder weniger bekannte Klassiker, etwa „My Wild Irish Rose“. Die Veröffentlichung von ‚La Fenice‘ fällt zeitlich mit dem Internationalen Festival zeitgenössischer Musik der Biennale di Venezia zusammen, das in diesem Jahr Keith Jarrett mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ehrt. Es ist das erste Mal, dass einem Jazzmusiker diese Auszeichnung zuteil wird. Der mittlerweile 73-jährige Musiker wird sich hoffentlich auf diesen Meriten nicht ausruhen …

Thomas Rüger

Keith Jarrett: „La Fenice” (DoCD), ECM 2018, ca. 23,00 Euro.

Wirsing

Im Zusammenhang mit dem Mordfall an der 14-jährigen Keira berichtete die Berliner Zeitung von den Haftbedingungen, die dem 15-jährigen Mörder bevorstehen: „Alkohol, Medikamente und Drogen sind verboten – wer dennoch damit erwischt wird, riskiert mögliche vorzeitige Entlassungen und Hafterleichterungen.“ Wenn ich einsitzen würde und weder an Alkohol, Medikamenten und Drogen interessiert wäre, würde ich trotzdem alles daransetzen, wenigstens Medikamente zu bekommen, denn Erleichterungen und vorzeitige Entlassungen sind ein Risiko, das ich keinesfalls aufs Spiel setze!

Fabian Ärmel

Aus anderen Quellen

Dass Friedrich Merz, der Anwärter erst auf das Amt des CDU-Chefs, dann des Bundeskanzlers, für seine falsche Bescheidenheit verspottet und gescholten wird, dass er Millionär ist und Privatflugzeuge besitzt – alles geschenkt, so Stefan Kuzmany. Zwar sei der US-Finanzkonzern Blackrock, dem Merz als Aufsichtsratsvorsitzender seines deutschen Ablegers dient, gerade erst wegen anrüchiger Cum-Ex-Geschäfte durchsucht worden, aber krumme Geschäfte habe man März persönlich bisher nicht nachweisen können. Kuzmanys umso bemerkenswerterer Schluss: „Und genau deshalb wäre es nicht gut, wenn er Kanzler würde. Denn Friedrich Merz würde einfach damit weitermachen, die ganz legalen Interessen des globalen Finanzkapitalismus zu vertreten – nur eben in neuer Funktion.“ Warum das nicht ratsam wäre, verrät ein Blick auf Blackrock „eines der mächtigsten Unternehmen der Welt. Es verwaltet die unvorstellbare Summe von 6400 Milliarden Dollar und ist an mehr als 17.000 Unternehmen beteiligt. Blackrock ist bei außergewöhnlich vielen relevanten Konzernen Großaktionär – und diese Übermacht wird von Ökonomen als Gefahr für die Marktwirtschaft betrachtet: Wenn Blackrock und einige wenige weitere Vermögensverwalter nicht nur an einem Unternehmen einer Branche, sondern an allen der Branche beteiligt sind, sinkt ihr Interesse an einem Wettbewerb dieser eigentlich konkurrierenden Unternehmen. Es ist für die Großaktionäre nur ein Nullsummenspiel, wenn sich diese gegenseitig Marktanteile abnehmen. Es gibt Untersuchungen, die zum Ergebnis haben, dass dort, wo Blackrock und Konsorten den Markt dominieren, die Preise für die Kunden steigen.“
Stefan Kuzmany: Millionär Merz. Geld spielt eine Rolle, Spiegel Online, 19.11.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Die Schweizer Drogenpolitik „beruht auf den vier Säulen“, listet Cédric Gouverneur auf: „Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. 1994 eröffneten die ersten überwachten Drogenabgabestellen, die meisten von ihnen im deutschsprachigen Teil der Schweiz. Mittlerweile gibt es 22 derartige Zent­ren (eines davon in einem Gefängnis). […] Die positiven Auswirkungen sind nicht zu übersehen. Offene Drogenszenen gibt es seit ihrer Zerschlagung Anfang der 1990er Jahre nicht mehr.“ Und quasi auch keine Kriminalität im Zusammenhang mit Heroin, weil es inzwischen kostenlos zu haben ist.
Cédric Gouverneur: Heroin auf Rezept, Le Monde diplomatique, 11.10.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Dem Eurofighter-Industriekonsortium winkt „ein Riesenschadenersatz“, warnt Gerhard Hegmann. „Womöglich sogar insgesamt in Milliardenhöhe. Es geht um die Auftragskürzung um 124 Kampfjets, die Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien vor zehn Jahren nicht mehr bestellt haben – obwohl es in den Verträgen stand. Fast wären die Ansprüche verjährt gewesen, aber im letzten Moment habe die NATO-Behörde NETMA, die die Abnehmerseite vertritt, mit den Herstellern „im Dezember 2017 […] eine ‚Verjährungsverzichtsvereinbarung‘ unterzeichnet“.
Gerhard Hegmann: Eurofighter wird für Deutschland zum Milliardengrab, welt.de, 03.11.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Früher war auf jedem Windows-Rechner die Installation eines Virenscanners unabdingbar“, schreibt Michael Spehr und fährt fort: “Das hat man den Leuten immer wieder eingebläut. Ein guter und aktueller Virenschutz ist unerlässlich. Viren, Trojaner und Phishing-Angriffe sorgen für ein latentes Gefährdungspotential […]. Niemand sollte mit einem ungeschützten System ins Netz gehen. Das ist nach wie vor richtig. Aber heute sind Schutzprogramme zur Sicherung des Systems von McAfee, Symantec Norton, Kaspersky, Trend Micro, F-Secure, Avast, Avira oder G-Data nicht nur überflüssig, sondern […] sogar bisweilen gefährlich. Weg mit dem Virenscanner lautet jetzt die Devise. […] Der Windows Defender reicht zur Absicherung aus. Antivirensoftware von Dritten […] verursacht mit ihrer Systemarchitektur wie auch mit fortwährenden Mängeln selbst neue Sicherheitsprobleme. […] Dafür gibt es Beispiele en masse.“
Michael Spehr: Weg mit dem Virenscanner!, faz.net, 29.08.2018. Zum Volltext hier klicken.

WeltTrends aktuell

Über Jahrhunderte war das jus ad bellum, das Recht zum Krieg, das zentrale Moment von Staatlichkeit. Die Erkenntnis, dass im Atomzeitalter die Industrienationen Europas und Nordamerikas keinen Krieg gegeneinander führen können, ohne ihre eigene Existenz infrage zu stellen, reifte nur langsam. Ende der 1980er-Jahre gestand man sich in Ost und West ein: Sicherheit war nur gemeinsam zu erreichen, nicht gegeneinander. Im Thema geht es um die Frage, ob man heute in Europa Kriege führen kann. Erster Beitrag ist ein bereits vor 28 Jahren publizierter Text, der zeigt, dass man zu jener Zeit begriffen hatte: Europa ist nicht (mehr) kriegstauglich! Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Apokalypse Kernwaffenkrieg, der Kriegsverhütung durch Sicherheitspartnerschaft und der neuen Konzeption der Bundeswehr.
Im Weltblick analysiert Harald Kujat, ehemaliger Bundeswehr-Generalinspekteur und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, was die Aufkündigung des INF-Vertrages durch die USA für die NATO und Europa bedeuten würde. In weiteren Beiträgen geht es um den weithin vergessenen Krieg im Yemen und die orthodoxe Kirche in der Ukraine.
Die Historie ist dem 100-jährigen Jubiläum der polnischen Republik gewidmet, die Analyse den Halbzeitwahlen in den USA.

am

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 146 (Dezember) 2018 (Schwerpunktthema: „Kriege führen?“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.