Forum

Das Forum ist ein Ort, an dem Leser, Autoren und Redakteure ins Gespräch kommen können, vorzugsweise natürlich über Das Blättchen, seine Beiträge und Kontroverses sowie Interessantes mit Bezug dazu. Die Redaktion behält sich das Recht zur Kürzung von Forum-Einträgen vor.

Sie können einen neuen Kommentar schreiben und auf vorhandene Kommentare antworten. Nutzen Sie gern die Absatzfunktion, um längere Texte leserfreundlicher zu gestalten.

Die Redaktion behält sich vor, Beiträge mit Positionen deutlich außerhalb des vom Blättchen vertretenen Spektrums, mit persönlichen Angriffen gegen Dritte sowie mit extrem einseitigen oder aggressiven Inhalten auch ohne gesonderte Angabe von Gründen gegenüber den Verfassern nicht freizuschalten.

Hinweis: Bitte keine – auch keine kurzen – kompletten Beiträge anderer Autoren (z. B. aus Tageszeitungen oder dem Internet), auf denen ein Copyright liegt, ins Forum stellen, da dies zu urheberrechtlichen Problemen führen könnte. Es spricht allerdings nichts gegen entsprechend gekennzeichnete – auch längere – Zitate.

Falls Sie Antworten auf Ihre Kommentare abonniert und Fragen zu Ihren Daten haben, schreiben Sie bitte an redaktion@das-blaettchen.de.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

 Zeichen können Sie noch einfügen.

*

3.319 Beiträge im Forum

  1. Stephan Wohanka sagt:

    Drastische Zwangsmaßnahmen Trumps gegen Kuba von Edgar Göll
    Vor Kurzem traf ich einen Mann, der eine kleine Tafel an sein Rad montiert hatte, auf der zur Unterstützung Kubas aufgefordert wird. Wir kamen ins Gespräch. Die Misere Kubas sei auf die US-amerikanischen Sanktionen zurückzuführen; mein fragender Einwand: Ausschließlich, allein? wischte er beiseite… Der Kabarettist Dieter Nuhr gab ebenfalls kürzlich zum Besten: Ist es Ihnen auch schon aufgefallen – es sind immer die anderen… Offenbar sind es im Falle Kubas vor allem auch „immer die anderen“.
    Also nochmals die Frage: Tragen nicht über US-Sanktionen hinaus nicht auch massive Fehlentwicklungen und Versäumnisse auf der Insel selbst zur kubanischen Misere bei?
    Der Autor schreibt auch von „innovativen Modernisierungsansätze der Regierung“ – worin bestehen diese? Und verhindern nur US-Sanktionen deren Umsetzung?
    Lebensmittel fallen nur teilweise unter das Embargo; die USA sind einer der wichtigsten Lebensmittelexporteure nach Kuba. 2023 gingen Nahrungsmittel im Wert von 342 Millionen US-Dollar aus den USA nach Kuba. Die Lieferungen müssen allerdings vom notorisch klammen Kuba voraus in Cash bezahlt werden. Allzu viel Lust, Kubas Mangelwirtschaft zu subventionieren, scheint nicht einmal mehr China zu haben. China sei verärgert über hunderte Millionen US-Dollar ausstehende Schulden. Mangels ausreichender Zuckerproduktion auf Kuba stornierte Peking zudem einen Liefervertrag über 400.000 Tonnen jährlich und forderte von der Führung endlich strukturelle Reformen der Wirtschaft.
    Damit sind zwei Punkte benannt – die Zuckerente und Wirtschaftsreformen: Gerade 350.000 Tonnen Zucker wurden in der Ernte 2022/23 produziert, deutlich unter der Planvorgabe von 455.000 – und auch deutlich unter dem Durchschnittskonsum der eigenen Bevölkerung von mindestens 400.000 Tonnen. Dafür machen kubanisch Fachleute eine Fehlentscheidung aus dem Jahr 2002 verantwortlich: „Damals wurde auf höchster Ebene, also mit Billigung Fidel Castros, entschieden, den Zuckersektor des Landes herunterzufahren“. Die ehemalige Zuckerinsel, die noch in den 1980er Jahren ein Ernte von acht Millionen Tonnen und mehr Zucker produzierte, wäre auf das Produktionsniveau von 1880 zurückgefallen – als noch per Hand und nicht mechanisiert geerntet wurde.
    Die Folgen dieser Politik: Mindestens eine Million Hektar der rund sechs Millionen Hektar Anbaufläche liegt brach. Oft überwuchert von stacheligen Büschen, die Marabú oder Aroma genannt werden, und nur mit schwerem Gerät wieder entfernt werden können; Flächen, die früher meist mit Zuckerrohr bepflanzt waren. Kuba leistet sich stattdessen seit rund 30 Jahren den Import von Nahrungsmitteln in Milliarden-Höhe, hat aber offenbar nicht den politischen Mut zu strukturellen Reformen. Im kubanischen Parlament wurde diese verfehlte Investitionspolitik kritisiert: „Über acht Jahre wurden rund 35 Prozent der Investitionen in den Tourismus gelenkt. Die Fischerei, der Zuckersektor, die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelindustrie wurden massiv vernachlässigt“. Wobei nota bene ein großes staatliches Unternehmen, das Hotels, Restaurants, Reisebüros und Transport betreibt, eng mit den kubanischen Streitkräften (FAR) verbunden ist.
    2021 wurde der größte Protest seit der Revolution von 1959 mit einer harten Reaktion beantwortet, die nach Angaben von Beobachtern einen Toten, Dutzende Verletzte und mehr als 1.300 Inhaftierte zur Folge hatte. Seitdem hat Kuba einen beispiellosen Exodus erlebt: Allein im Jahr 2022 sind mehr als 300.000 Kubaner zu anderen Ufern aufgebrochen. Warum?
    Alles in allem – Kuba könnte wohl aus eigener Kraft einiges zum Positiven verändern.

    • Dr. Edgar Göll sagt:

      Sehr geehrter Herr Wohanka,
      In meinem kurzen Beitrag bin ich – wie der Titel beweist – auf die jüngsten völkerrechtswidrigen, menschenverachtenden Maßnahmen des psychopathischen Immobilienmilliardärs Trump und seinen Mannen gegen Cuba eingegangen. Ich kann mich nicht erinnern, dort geschrieben zu haben, dass die seit 63 Jahren in Kraft befindliche Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der US-Regierungen sowie die permanenten, oftmals kriminellen, teils sogar terroristischen Subversionen der USA (inkl. CIA, NSA, DIA etc.pp.) gegen das souveräne Land Cuba, der alleinige Faktor der ökonomischen und anderen Probleme sei. Vielmehr habe ich nach Aufzählung weiterer externer, von der kubanischen Regierung nicht direkt beeinflussbarer Faktoren (Corona-Pandemie, Wetterkatastrophen) formuliert, die USA-Interventionen seien „eine wesentliche Ursache für viele Probleme in Kuba“.
      Die kubanische Regierung veröffentlicht jährlich einen detaillierten Bericht über die von der US-Blockade – die aus Angst vor dem „großen Bruder“ auch von anderen Staaten, inkl. der BRD moniert aber keineswegs umgangen oder abgewehrt wird (z.B. durch Klage vor der WTO oder dem IStGH) – unterbrochenen und verhinderten Wirtschaftsbeziehungen und Transaktionen. Auch die geldwerten Schätzungen über die großen jährlichen Schäden durch die Blockade hatte ich zitiert. Zusätzlich hier eine jüngere Schätzung des renomierten US-Ökonomen Jeffrey Sachs: „Die Auswirkungen der Blockade sind sehr ernst. Das kubanische Pro-Kopf-Einkommen liegt wahrscheinlich bei einem Drittel oder einem Viertel dessen, was es ohne die Blockade betragen würde.“
      Eine fatale und strukturell sehr negative Folge dieser andauernden Strangulation und Intervention der USA ist die Auswanderung von über 500.000 meist jungen Cubanern und Cubanerinnen – und die fehlen, unterbrechen Wertschöpfungsketten etc.pp. Diese Menschen glauben nicht daran, dass die USA ihre Vernichtungspolitik stoppen werden, Obama war eine winzige Ausnahme (und damals gab es einen deutlichen Aufschwung in Cuba!). Das alles muss sozial und organisatorisch aufgefangen und gemanaged werden, also in Zeiten eines gezielten, aufwändige, raffinierten Wirtschaftskrieges der imperialistischen Supermacht gegen den kleinen Nachbarstaat.
      Zu Ihrer ersten Frage: Ja, ich stimme zu, dass Fehler und Versäumnisse, eher auch Fehleinschätzungen etc. zu der sozioökonomischen Misere beitrugen. Das gestehen auch die Regierungsmitglieder und Parteikader ein, in fast jeder Ansprache wird dies eingestanden. Ich kenne kein Land, in welchem die jeweilige Regierung „fehlerfrei“ agiert!
      Sie fragen weiter, ob denn die „innovativen Modernisierungsansätze der Regierung“ überhaupt von den US-Sanktionen verhindert werden? Ja, auch! Denn wie Sie als Ökonom wissen, bedarf es bspw. für die Modernisierung eines Energiesystems und z.B. der Etablierung von Solarkraftwerken enormen Investitionssummen, und meist Devisen. Genau die werden durch das US-Finanzministerium und deren Spezialbüro (OFAC) be- und verhindert. Dann muss die kubanische Regierung und die Provinzregierungen mit extrem knappen Mitteln haushalten. Und in Kuba sind Streichungen im Sozialen und Kulturellen tabu – völlig anders als hier in der BRD.
      Ihr Beispiel von hohen Investitionen in die Tourismusbranche: diese beruhen auf langfristigen Investitionsabkommen mit den entsprechenden ausländischen Unternehmen, und diesen die Weiterführung von Bauten und Infrastruktur zu untersagen, zumal unter Bedingungen der Schwierigkeiten überhaupt Investoren für Cuba zu gewinnen wegen der US-Drohung, wäre höchst kontraproduktiv. Zudem ist der Tourismus der größte Devisenbringer gewesen. Also, wenn jemand gute große Investoren kennt, die in Cuba in das Energiesystem zu investieren bereit sind: her damit!
      Leider muss ich hier stoppen…
      Aber Cuba lebt weiter – und benötigt gegen die rücksichtslos agierende Militärsupermacht, nun unter einem infantilen Egomanen „geführt“, unser Aller Unterstützung und Solidarität.

    • Stephan Wohanka sagt:

      Sehr geehrter Herr Göll,
      ich danke Ihnen für Ihre Antwort. Was den „infantilen Egomanen“ angeht, bin ich ausdrücklich bei Ihnen. Besessene fahren das Land an die Wand…
      Auch dem was Sie schreiben, widerspreche ich nicht. Es gibt jedoch darüber hinaus noch den berühmten Elefant im Raum – die Kommunistische Partei Kubas. Die verjüngte Staats- und Parteiführung unter Miguel Díaz-Canel und Manuel Marrero Cruz, die nach über sechs Jahrzehnten faktischer Alleinherrschaft der Partei installiert wurde, ist demonstrativ entschlossen, ihr Machtmonopol mit Härte zu verteidigen. Das Führungsduo hat weder die Legitimität der historischen Revolutionsführer noch deren Charisma. Hinter der Fassade der immer noch martialischen Revolutionsrhetorik und paternalistischen Fürsorgeversprechen hat sich längst in eine parasitäre Struktur gebildet, deren politisches und soziologisches Rückgrat nicht mehr bärtige comandantes und in Moskau geschulte Kader sind, sondern smarte Funktionäre aus Partei, Staatsjugend und Massenorganisationen, beamtete Technokraten und professionelle Militärs sowie Geheimdienstler. Sie haben die claims abgesteckt, über die sie als Ministeriale, Aufsichtsräte oder Lizenznehmer Teile der humanen und natürlichen Ressourcen des Landes abschöpfen; sei es im Tourismus, in der Erschließung und Ausbeutung der Öl- und Erzvorkommen, der Zigarrenindustrie oder über die Ausleihe qualifizierter Arbeitskräfte ins Ausland, darunter vor allem Ärzte und Sanitätspersonal.
      Kubas Planwirtschaft wird von großen Staatsunternehmen dominiert, während im chinesisch-vietnamesischen Marktsozialismus kleine und mittlere Unternehmen eine wichtige Rolle spielen. Der Anteil des Staatssektors am Bruttoinlandsprodukt lag 2019 in Vietnam bei 27 Prozent, in China bei 31 Prozent und in Kuba bei 91 Prozent. Eine gewisse marktwirtschaftliche Öffnung scheitert in Kuba also immer wieder; und zwar eben auch – siehe oben – am Widerstand der kommunistischen respektive wirtschaftlichen Bürokratie, die um ihre politische Kontrolle fürchtet und an den Apparaten des Sicherheitsbereiches, die bei einer Öffnung für andere Mitbewerber wenigstens in Teilen ihrer wirtschaftlichen Privilegien verlustig gingen. Diese Eliten haben etwas zu verlieren! Fehlende Innovationsanreize und eine unzureichende Kontrolle der Korruption werden von Kritikern desgleichen als Ursachen der Krise genannt.
      Kubas Reformspielräume sind nicht nur durch die fatalen, schädlichen Sanktionen, sondern auch aufgrund des allmächtigen bürokratischen Gesamtapparats minimal. Zugleich sind diese Sanktionen auch eine Ausflucht, ein Deckmantel für das Versagen ebendieser Bürokratie.
      Freundliche Grüße
      Stephan Wohanka

  2. Dr. Dr. Friedrich Erich Dobberahn sagt:

    Sehr geehrter Herr Hildebraa!
    Zutiefst pazifistische Religion: Ja, wenn man vom 5. Gebot (Ex. 20, 13), der Bergpredigt (Matth. 5, 9; 5, 21 ff; 5, 43 f; Luk. 6, 27 f u.a. (S. 596-610) und dem von mir zitierten Amsterdamer Votum von 1948 als Hauptnenner ausgeht. Die Sache ist jedoch bei der staatlichen Militärseelsorge komplizierter. Eine ausführlichere „Aufhellung“ wäre hierzu vonnöten: zur Problematik des bellum iustum (hierzu oft genannt Mark. 13, 7; S. 420 ff), zur Aufspaltung des Liebesgebotes in Individualethik und Staats-, bzw. Amtsethik (vgl. z.B. zum Krieg Deut. 20, 1 ff), zur Rolle der von Gott eingesetzten Obrigkeit (mit samt des von ihr geführten Schwertes) als Gottes Dienerin (Röm. 13, 1 ff; 1. Petr. 2, 13 f) u.a.m. – alles Dinge, die ein Militärseelsorger nicht nur, weil er im Dienst der Obrigkeit steht, sondern auch, um nicht in einen biblischen, exegetischen und dogmatischen Eklektizismus zu verfallen, ebenso berücksichtigen muss, zumal diese Verse ebenfalls wie die Bergpredigt in der Bibel stehen. – Auf die Schwertleite bin ich ausführlich in meinem Buch S. 118-158 eingegangen. Das von Gustav II. Adolf hergeleitete „Gott mit uns“ bezog sich auf keine Nation, sondern auf den evangelischen Glauben (S. 399.415). Die Segnungen der vexillorum (= Feldzeichen, Standarten; Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Wörterbuch, Bd. II, Basel, 1962, Sp. 3463) standen nicht im Zusammenhang der Nationalisierung der Theologie, so auch nicht im Pontificale Romanum. Das theologische Verständnis dieser „Fahnen“ war, dass sie als Signalzeichen sozusagen „mitkämpften“ für die göttliche Gerechtigkeit, also nicht für die gewaltsame Durchsetzung nationaler Machtinteressen.

  3. Bernhard Mankwald sagt:

    In seiner aktuellen Buchbesprechung erwähnt Jürgen Leibiger eine Fülle offener Fragen im Zusammenhang mit dem „Kapital“ von Karl Marx; ich möchte mich hier auf diejenige nach der Bedeutung der Reproduktionsschemata in Band II beschränken.
    Meines Erachtens handelt es sich um einen Versuch, die recht summarischen Prognosen des „Kommunistischen Manifests“ auf eine solide empirische Basis zu stellen – der nicht unbedingt zum erwarteten Ergebnis führte.
    Marx bediente sich dabei einer Modellrechnung, was mit erheblichen methodischen Schwierigkeiten verbunden ist. Vor fast 20 Jahren schrieb ich dazu: „Die Hauptschwierigkeit liegt dabei in der hochgradigen Unbestimmtheit des verwendeten Modells. Je nach ihrer Formulierung enthalten die Gleichungen sechs bis acht Variablen, die nur durch wenige Nebenbedingungen miteinander verknüpft sind. Bei der Wahl konkreter Zahlen für Beispielrechnungen hat man also sehr viele Freiheiten; entsprechend niedrig ist ihre Aussagekraft. Man kann mit solchen Rechnungen wohl belegen, daß ein Modell mit bestimmten Eigenschaften möglich ist – wenn man Zahlenwerte findet, bei denen sich das Modell entsprechend verhält. Man kann auf diese Weise aber nicht ausschließen, daß es ein Modell mit bestimmten Eigenschaften gibt.“ [52] Marx entwickelte da also einen ähnlichen Ansatz wie heutige Computersimulationen – nur dass ihm eben kein Computer zur Verfügung stand.
    Nach den genannten Kriterien hat Marx in seinen Rechnungen die theoretische Möglichkeit einer krisenfreien stationären Wirtschaft und eines ebenso harmonischen Wachstums demonstriert; die Praxis aber sah, wie er bereits nachgewiesen hatte, anders aus: „Die kapitalistischen Produzenten können sich nicht mit einer gegebenen Verteilung von konstantem und variablem Kapital zufriedengeben, sondern sie müssen versuchen, durch erhöhten Einsatz von Maschinen Arbeitskräfte einzusparen. Auch in diesem Fall wird wieder das Gleichgewicht gestört, Konsumgüter werden schwer verkäuflich, während bei Investitionsgütern ein Boom entsteht.“ [53]
    Mein Resümé lautete so: „Marx hätte mit dem skizzierten Gedankengang seine These von der grundsätzlichen Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems belegt: eine Steigerung der Wachstumsrate wie ein Zuwachs an Produktivität müssen letzten Endes zu Schwierigkeiten bei der Verwertung der produzierten Güter führen, die nur durch die Vernichtung von Werten behoben werden können. […] Marx hätte aber auch zugeben müssen, daß die Größenordnung dieser Verwerfungen jeweils der Größenordnung der Zuwächse entspricht, also wohl kaum Ausmaße annehmen kann, die das gesamte System zum Kollaps bringen.“[54]
    So weit also Auszüge aus meinem gewagten Versuch, die Ökonomie von Marx auf 20 Buchseiten zusammenzufassen. Die Zahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf die entsprechenden Seitenzahlen. – Zitiert nach Mankwald, Bernhard: Die Diktatur der Sekretäre. Marxismus und bürokratische Herrschaft. Norderstedt 2006.

  4. Dr. Markus Hildebraa sagt:

    Sehr geehrter Herr Dobberahn, was – Sie schreiben darüber in der aktuellen Blättchen-Ausgabe – Kyrill. I., Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, an kriegstheologischen Pirouetten zur Unterstützung des russischen Vorgehens im Ukraine-Krieg dreht, ist wirklich höchst abstoßend. Da wünscht selbst ein Agnostiker wie ich: für solche Leute möge es die Hölle doch geben!
    Man sollte allerdings den Balken im eigenen Auge ebenfalls nicht ignorieren.
    Das neutestamentarische, sich insbesondere aus den Evangelien ableitende Christentum westlichen, sprich römischen Zuschnitts entstand als zutiefst pazifistische Religion. Den Turnaround, dass auch Krieg und aktive Teilnahme an einem solchen ein gottgefälliges Werk sein können, vollzog erst Papst Gregor VII. (1073 – 1085) und schuf damit eine condicio sine qua non für die anschließenden Kreuzzüge sowie dafür, dass seither auch in Kriegen christlicher Staaten gegeneinander kirchliche Amts- und Würdenträger jeweils auf beiden Seiten die Waffen im Brustton tiefster Überzeugungen segnen konnten.
    In dieser Tradition steht bis zum heutigen Tage auch die Militärseelsorge in der Bundeswehr.
    Mitte März gab der von Papst Benedikt XVI. 2011 ernannte, mithin katholische Militärbischof Franz-Josef Overbeck Domradio.de (Eigenwerbung: „Der gute Draht nach oben“) ein Interview (https://www.domradio.de/artikel/militaerbischof-overbeck-fordert-verteidigungsfaehiges-deutschland), das unter der Überschrift publiziert wurde: „Es wird keine Komfortzone mehr geben“. Im Verlaufe des Gesprächs stellte sich heraus – das war die Antwort des Seelsorgers auf die Frage: „Sollen Wehrpflichtige auch für Fronteinsätze eingesetzt werden?“ Gemeint waren Wehrpflichtige der Bundeswehr.
    Meine Frage an den theologischen Experten, also an Sie: Ist Militärseelsorge nicht ein Widerspruch in sich oder zumindest zu wesentlichen Aspekten der christlichen Botschaft? Und was ist von einem Militärbischof zu halten, der Wehrpflichtige beauskunftet, im Falle des Falles ihre Haut zu Markte tragen zu müssen? (Worauf im Ukraine-Krieg meines Wissens bisher beide Seiten im Übrigen verzichtet haben.)
    Damit hier aber nicht der Eindruck entsteht, ich schlüge Herrn Overbeck mit Kyrill I. über einen Leisten, will noch erwähnen, dass der Katholik den Wehrpflichtigen, sollten sie denn über die Wupper gehen, zumindest nicht ewiges Seelenheil in Aussicht stellt.

    • Dr. Dr. Friedrich Erich Dobberahn sagt:

      Sehr geehrter Herr Hildebraa,

      Für Ihren Hinweis auf das Interview des katholischen Militärbischofs Franz-Josef Overbeck (in: Domradio) bin ich Ihnen sehr dankbar. Zu der Frage, ob der Krieg und die aktive Teilnahme an einem solchen ein gottgefälliges Werk sein können, habe ich 2021 ein Buch veröffentlicht: „Deutsche Theologie im Dienste der Kriegspropaganda – Umdeutung von Bibel, Gesangbuch und Liturgie 1914-1918“, Brill-Deutschland / Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen; die 2. Auflage erschien 2023 in zwei Bänden. Der Literaturverweis auf Kyrill I. in Bd. II, S. 1161-1179 wird in der nächsten Ausgabe nachgeholt.

      Ist die Militärseelsorge ein Widerspruch in sich? Bis ins 17. Jh. beschränkte sich die Militärseelsorge auf ethische, katechetische Inhalte (Verschonung von Zivilbevölkerung, Wehrlosen und Eigentum), sie predigte bisweilen wie der Kapuzinermönch in Schillers „Wallensteins Lager“ sogar gegen den Krieg und war wie bei Gustav II. Adolf frei von der Nationalisierung Christi (S. 399.697 f). 1948 stellte die Amsterdamer Weltkirchenkonferenz klar und eindeutig fest: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. [… Krieg] ist eine Sünde wider Gott und eine Entwürdigung des Menschen“ (Amsterdamer Dokumente, hg. v. F. Lüpsen, Bethel bei Bielefeld, 1948, S. 64). Eine Militärseelsorge, die sich um diesen Satz herumdrückt, ist m.E. ein Widerspruch in sich. Es ist also zwar richtig, aber doch zu wenig, wenn Herr Overbeck, der als Theologe von Gott und nicht nur allgemeine Ethik reden sollte, sagt, „dass der erste Weg zum Frieden der ohne Waffen ist.“ Ein Christ, der sich dann trotzdem im Bewusstsein der Sünde zur aktiven Mitwirkung am Verteidigungskrieg entscheidet, weil wir den grausamen Scharnieren der Weltgeschichte nicht entfliehen können, wenn wir einem Angreifer wie Putin keine freie Hand lassen wollen, muss dann vom Seelsorger zumindest auch hören, dass, um hier einmal mit einem Nicht-Christen, mit Laotse, Tao-Te-King, Kap. XXXI zu reden, Waffen in solcher Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten „Werkzeuge der Trauer“ sind; „Waffenfreude ist Mordfreude […]. Wessen Handwerk Tote schafft, der sei wie bei Trauerfeier“.

      Die Aussage, das Gott den Krieg nicht will, muss die allererste sein, auch wenn viele Texte im Alten Testament etwas anderes sagen. Sie nennen Gregor VII., dessen Lieblingszitat nach Jes. 48, 10 lautete: „Verflucht sei, wer sein Schwert aufhält, dass es nicht Blut vergießt“ (S. 149). In Luthers Traktat (1526) „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“ wird der Abwehrkrieg als „Werk der Liebe“ und als „köstlich und göttlich Werk“ bezeichnet (S. 418). Pfarrer Adolf Schettler, Berlin, machte 1916 daraus, denselben Traktat Luthers zitierend: „Dem Soldaten ist das kalte Eisen in die Faust gegeben, und er soll es führen ohne Schwächlichkeit und Weichlichkeit. Der Soldat soll totschießen, soll dem Feinde das Bajonett in die Rippen bohren, soll die sausende Klinge auf den Gegner schmettern, das ist seine heilige Pflicht, ja, das ist sein Gottesdienst. Denn der ihn auf seinen Platz gestellt hat, daß er dem Guten und dem Rechte zum Siege verhelfe, das ist Gott. Wer nicht schießt, wenn er schießen sollte, handelt als ein Schurke. […] Luther sagt, und Luther war ein deutscher Mann und ein frommer Mann: Die Hand, die solches Schwert führt und würgt, ist alsdann nicht mehr Menschenhand, und nicht der Mensch, sondern Gott hängt, rädert, enthauptet, würgt und kriegt; es sind alles seine Werke und Gerichte. […] Fest das Schwert gefaßt! Jeder Hieb muß sitzen, jeder Schuß muß treffen!“ (S. 149)

      Es ist gut, dass heute niemand mehr so predigt – auch nicht die heutige Militärseelsorge in der Bundeswehr (S. 768). Beruht aber das nur auf einer Vorort-Erfahrung aus langer kriegslosen Zeit? Oder muss man – jetzt nach „Beauskunftung“ Wehrpflichtiger, seine Haut zu Markte tragen zu müssen – befürchten, dass, falls nun doch ein Krieg ausbricht, Theologen wieder zu Kriegspropagandisten werden?

    • Dr. Markus Hildebraa sagt:

      Sehr geehrter Herr Dobberahn, überbordende Ausführlichkeit verunklart Sachverhalte bisweilen eher, denn dass es sie aufhellt. Ich versuche es daher nochmal anders:
      Ist das Christentum mit seinem 5. Gebot und dem Gebot der Feindesliebe nicht eine zutiefst pazifistische Religion?
      Ist Militärseelsorge, in deren Praxis beide Gebote praktisch keine Rolle spielen, nicht grundsätzlich ein Widerspruch in sich?
      Und übrigens „Bis ins 17. Jh. beschränkte sich die Militärseelsorge auf ethische, katechetische Inhalte (Verschonung von Zivilbevölkerung, Wehrlosen und Eigentum)“ – da behauptet Wikipedia unter dem Stichwort „Waffensegnung“ doch etwas anderes: „Im Mittelalter wurde von der katholischen Kirche eine als benedictio armorum bezeichnete Waffensegnung im Rahmen der Schwertleite praktiziert. Nach den Texten, die zu diesen Segnungen verlesen wurden, sollten die Waffen die Gerechtigkeit schützen. Als benedictio vexilli bellici wurde auch eine Segnung der Kriegsflagge vorgenommen. Die mittelalterliche Schwertleite fand nach der Evangelienlesung innerhalb einer Heiligen Messe statt.“

  5. Krysztof Daletski sagt:

    zu „Tatsächlich … Sicherheit?“ von Erhard Crome

    Es gibt noch einen weiteren Punkt, der bei Vances Rede bemerkenswert ist: Ausgerechnet auf die massivsten Repressionen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit bei den verbündeten Europäern geht er NICHT ein: die Unterdrückung von Kritik an israelischer Politik. So kann in D die Bild-Zeitung die Entlassung einer Staatsbediensteten erwirken, weil sie sich auf ihrem persönlichen Social Media Account dazu geäußert hat [1], die Polizei stürmt eine Veranstaltung mit der UN-Sonderberichterstatterin für die israelisch besetzten Gebiete, um sie und die Teinehmer einzuschüchtern, damit sie keine „Äußerungstraftaten“ begehen (so die offizielle Begründung für den Einsatz) [2], und in GB wird derart rabiat gegen Journalisten vorgegangen, dass das UN-Menschenrechtsbüro deswegen die britische Regierung angeschrieben hat [3]. In einer Zusammenstellung der Repressionen in D im israelisch-palästinensischen Magazin +972 im März 2024 kommt der Autor zu dem Fazit: „the state’s liberal self-image is fast becoming a story Germans can only tell themselves“ [4].

    Man kann davon ausgehen, dass Vance diesen Teil der Beschränkung der Meinungsfreiheit gerade deshalb beschwieg, weil er sie gutheißt, denn seine Regierung praktiziert sie ja voller Stolz selber [5]. Und diejenigen, die meinen, dass die Meinung trotzdem geäußert werden dürfe, aber die Äußerer halt nur die Konsequenzen zu tragen hätten, seien darauf hingewiesen: Wer mit existenzgefährdenden Sanktionen für das Äußern einer Meinung rechnen muss, für den besteht keine Meinungsfreiheit. Das macht Vances Kritik bei aller Berechtigung etwas unglaubwürdig, denn das Wesen der Meinungsfreiheit ist ja, dass nicht nur eine Meinung zugelassen wird, so dass eine Debatte über kontroverse Themen überhaupt erst möglich wird.

    [1] https://www.jungewelt.de/artikel/495226.pal%C3%A4stina-solidarit%C3%A4t-arbeitsministerium-feuert-juristin.html
    [2] https://www.jungewelt.de/aktion/jwstaerken/494586?sstr=albanese
    [3] https://www.craigmurray.org.uk/archives/2025/02/united-nations-censures-uk-over-abuse-of-terrorism-act-against-journalists-and-activists/
    [4] https://www.972mag.com/germany-israel-palestine-solidarity-repression/
    [5] https://overton-magazin.de/top-story/trumps-meinungsfreiheit-jegliche-bundesfinanzierung-fuer-schulen-oder-universitaeten-die-illegale-proteste-zulassen-wird-gestoppt/

  6. Werner Sohn sagt:

    Verehrter Herr Eberlein, vielen Dank für Ihren einfühlsamen, Reizwörter sorgsam vermeidenden u. kontrafaktisch optimistisch bleibenden Essay über das „verschwundene Frankreich“. Als ich vor ein paar Jahren in meinem Abschiedsvortrag im Institut [enthalten in: Ausländerkriminalität, Rechtsextremismus, Krawall. Berlin 2019] etwas Biographie einfließen ließ u. behauptete, mich im Europa der Grenzen als Anhalter frei u. sicher bewegen zu können, war das Erstaunen groß. Im Sommer 1970 konnte ich unweit des Arc de Triomphe unbehelligt auf Parkbänken nächtigen, zwei Jahre nach dem revolutionären Mai 68 u. zehn Jahre nach dem Terror der OAS. Auch 1980 konnte ich den Louvre noch wie ein normales Museum betreten. Dem Publikum genügte die Binsenweisheit, dass die Zeiten sich eben ändern. Auch Staaten u. Kulturen gehen unter.
    Wer die Entwicklung Frankreichs verfolgen will, sei auf die Seite des pensionierten Professors der Universität Grenoble Klaus Kinzler verwiesen.* Dort werden dreisprachig, aber überwiegend französisch, internationale Bezahl-Presseartikel kompiliert. Der deutsche Wahlfranzose Kinzler, der das Französische wohl so gepflegt beherrscht wie einst der deutsche Philosoph Leibniz, wurde vor einigen Jahren wegen seines Widerstands gegen die „Islamlinke“ kaltgestellt, Todesdrohung inklusive. Auf der Internetseite werden die Vorgänge detailliert dargestellt. Empfehlenswert auch sein Buch [„L’islamogauchisme ne m’a pas tué: Un enseignant défend la liberté d’expression. 2022. Eine deutsche Übersetzung gibt es nicht u. wird es auch nicht geben.]
    In Ihrem Artikel spannen Sie den Bogen gekonnt bis Michel Houellebecq. Rien ne va plus. Leider ist die „Blättchen“-Redaktion an Beiträgen zur (Stigmatisierung der) Islamkritik nicht interessiert. Dabei wäre eine Beschäftigung mit der „Islamlinken“, zumindest für eine Beurteilung der französischen Zustände, von Bedeutung. Nun, nach Jean-Luc Mélenchon gibt es ja islamogauchisme überhaupt nicht.

    * Seit einigen Tagen wohl auch durch eine Paywall abgeschirmt. In einem Interview mit einer französischen Zeitung erwägt Kinzler die Remigration in die BRD. Herzlich willkommen!

  7. Jan Opal sagt:

    Zu Herrn Dr. Hildebraa

    Wieso sollte eine Wochenstunde Unterricht in der 8. Klasse in Polen die Atommacht Russland herausfordern? Die Logik ist mir völlig fremd. Zum nebenbei in der Zuschrift mitgeteilten Polenbild jetzt kein weiteres Wort, es spricht für sich.

  8. Jan Opal sagt:

    Zu: „In Polen lernen bereits die Dreizehnjährigen laut Stundenplan den Umgang mit dem Sturmgewehr“.

    In Polen steht für die 8. Klasse einmal wöchentlich das Unterrichtsfach „Grundlagen für die Sicherheit“ auf dem Lehrplan. Darin enthalten sind u. a.: Erste Hilfe, Grundkenntnisse gesundheitlicher Notlagen, Brandschutz, Brandbekämpfung, Katastrophenschutz, Zivilverteidigung, Grundkenntnisse zur Landesverteidigung. Ein erst 2024 eingeführter kleinerer Bestandteil betrifft auch Zielübungen an Laserpistolen und -gewehren, dabei geht es u. a. um die richtige Position eines Schützen beim Liegend- oder Stehendanschlag sowie um Zielübungen mit kreisrunden Zielscheiben.

    Man kann es unterschiedlich beurteilen, warum nicht. Angefügt soll hier aber sein, dass allein aus historischen Gründen die Einstellung in Polen zur Landesverteidigung und Zivilschutz seit jeher einen anderen Stellenwert hat als beispielsweise in Deutschland oder früher in der DDR. Die Streitkräfte des Landes zählen – so war es auch weitgehend in der VR Polen! – zu den in der Öffentlichkeit am meisten anerkannten und respektierten Einrichtungen.

    Der von der Redaktion im „Blättchen“ konstruierte oder unterstellte Gegensatz zwischen Polen, wo „Dreizehnjährige mit dem Sturmgewehr“ hantierten, und der deutschen Stadt Zwickau, wo die Wagenknecht-Leute nun Bundeswehrreklame im ÖPNV verbieten lassen, ist irritierend. Man spürt leider die billige politische Absicht.

    Mit freundlichen Grüßen aus Polen, Jan Opal

    • Jürgen Hauschke sagt:

      Lieber Herr Opal, der von Ihnen vermutete Gegensatz von Polen und Zwickau ist von mir weder konstruiert, noch unterstellt. Er ist schlichtweg nicht vorhanden. Denn Zwickau ist eine absolute Ausnahme in Deutschland, deshalb berichteten viele überregionale Medien über die Werbeflächen auf Straßenbahnen in der viertgrößten sächsischen Stadt, was ansonsten, wenn überhaupt, lediglich regional interessant gewesen wäre. Dass „Wagenknecht-Leute“ (oder wer auch immer) „die Bundeswehrreklame im ÖPNV verbieten lassen“, empfinde ich allerdings als positiv und begrüße die Absicht, auch wenn sie „politisch“ und „billig“ sein mag. Ich bin einfach misstrauisch, wenn ich Straßenbahnen in Tarnfarben sehen muss.
      Mit besten Grüßen
      Jürgen Hauschke

    • Dr. Markus Hildebraa sagt:

      Werter Jan Opal, Sie spüren zu Recht „billige politische Absicht“! Denn natürlich ist alles, was in polnischen Schulen in Sachen „Sicherheit … Erste Hilfe, Grundkenntnisse gesundheitlicher Notlagen, Brandschutz, Brandbekämpfung, Katastrophenschutz, Zivilverteidigung, Grundkenntnisse zur Landesverteidigung“ läuft, „allein aus historischen Gründen“ nicht nur verständlich, sondern sicherheitspolitisch vernünftig und zielführend.
      Was denn sonst!
      Nicht erwähnen Sie allerdings, ob man dem polnischen Nachwuchs auch beibringt, was bei Atomexplosionen, wie sie im Falle eines Krieges mit Russland ja nicht gänzlich ausgeschlossen werden könnten, zu tun ist: Schnell unter die Schulbank oder (im Freien) hinter die nächste Borsteinkante werfen und den Kopf mit dem Schulranzen oder der Aktentasche bedecken! Das war eine ernst gemeinte amerikanische und westdeutsche Empfehlung während des alten Kalten Krieges.
      Mit Ihrer Einlassung sind Sie allerdings völlig NEW SCHOOL und mainstreamig – also nicht begreifend, dass ein sicherheitspolitischer Antagonismus mit einer Atommacht nicht durch Aufrüstung, die zur Sedierung der Öffentlichkeit gern Abschreckung genannt wird, und nicht durch kalkulierte Kriegsbereitschaft zu domestizieren ist, sondern allein durch politische Kompromisse und Interessenausgleich. Wahrscheinlich sprechen Sie aber die Fähigkeit dazu Moskau sowieso grundsätzlich ab. Dann müssen Sie und Ihre Landsleute halt mit der Perspektive einer möglichen atomaren Auslöschung leben. Die hätte aber zumindest einen Vorteil: Obwohl Polen danach unwiderruflich verloren wäre, fehlte zumindest einer weiteren Teilung des Landes unter Beteiligung Russlands endgültig das Objekt …

  9. Dr. Werner Thurner sagt:

    Für Stephan Wohanka

    Guten Tag, gerade lese ich: „Die unipolare Weltordnung nach dem Kalten Krieg stützte sich neben der militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit der USA auf die Verbreitung liberaler Werte – zwar nie erreicht, aber als Ideal auch nie infrage gestellt – wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Mit Trump kommt es durch die Aushöhlung nationaler und internationaler Normen und Standards zu einer Beeinträchtigung dieser Prinzipien und einer Legitimierung nationalistischer und autoritärer Politik durch die USA selbst, “

    Selten eine solche blauäugige Fehleinschätzung bezüglich der Washingtoner Politik gelesen. Bitte sich mit den illegalen Kriegen der USA und der NATO-Vasallen nach 1990 beschäftigen, z.B. Daniele Ganser „Illegale Kriege“. Mit wohlfeilem Trump-Bashing ist niemandem gedient. Man kann über Trump denken wie man will, aber während seiner ersten Amtszeit hat dieser (im Gegensatz zu seinen Vorgängern) keinen neuen Krieg angezettelt!

    Freundliche Grüße
    Dr. Werner Thurner

    • Stephan Wohanka sagt:

      Lieber Herr Thurner,
      es bleibt Ihnen unbenommen zu meinen, ich hätte eine „blauäugige Fehleinschätzung bezüglich der Washingtoner Politik“ abgeliefert. Nur ausgerechnet Daniele Ganser als Zeugen zu benennen, ist desgleichen blauäugig. Er galt als seriöser Forscher; namentlich seine Arbeiten zu NATO-Geheimarmeen („Gladio“) zählen in diese Zeit.
      Mittlerweile verbreitet er mehr oder weniger deutliche Verschwörungserzählungen, so etwas zu 9/11 oder dem Ukraine-Krieg. Ihm wird – wohl nicht zu unrecht – selektive Quellenwahl und das Verbreiten von Halbwahrheiten vorgeworfen, oft einhergehend mit einer simplifizierenden und manipulativen Erzählweise. Oft sagt er in seinen Vorträgen, dass er nur seine „persönliche Meinung“ darlege, „das ist meine Analyse“ – ein Trick, der zieht. Summa summarum sind vor allem die anti-amerikanische Haltung und die allgemeine System- und Medienkritik, die das Publikum an Ganser schätzt; ohne Ihnen zu unterstellen, dies zu teilen.
      Zum Buch „Illegale Kriege“: Gansers völkerrechtliche Bewertung der Interventionen überzeugt nicht. Die USA, ebenso wie Russland oder China, legen das Völkerrechts häufig zugunsten ihren politisch-ökonomischen Interessen aus. Sein Versuch, Washington und der Nato durchgängig menschenverachtenden Bruch des Völkerrechts zu unterstellen, ist nicht haltbar. Auch bei Gansers zweiter These, dass die amerikanischen Interventionen auch der Nato zuzurechnen seien, sind Zweifel angebracht; eher unterstellt als nachgewiesen. Während positive Worte für Gaddafi und Assad findet, verdächtigt er viele Politiker in den USA und in Nato-Staaten, Kriegsverbrecher zu sein. Mit Völkerrecht und der Pflicht von Staatsmännern auch zu unbequemer politischer Verantwortung hat das aber nichts mehr zu tun.
      Was die Sache als solche angeht, so wurden mit dem Zerfall der SU 1991 die USA zur unangefochtenen Supermacht – als stärkste Wirtschaft, als mächtigstes Militär und mit kultureller Dominanz. Westliche Werte wie Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft waren im Aufwind. Die Globalisierung wurde von US-Unternehmen bestimmt; außerdem konnten sich die USA auf schon vorher unter ihrem Einfluss geschaffene Institutionen wie UNO, NATO, Weltbank und IWF stützen, um ihren Einfluss weiter zu festigen. Seit ca. 2008 erodiert diese der Unipolarität – China steigt zur wirtschaftlichen und geopolitischen Konkurrenz auf, multipolare Tendenzen entstehen auch durch aufstrebende Mächte wie Indien, Brasilien und regionale bzw. globale Allianzen wie BRICS, Russland will militärisch Grenzen verschieben und fordert den Westen heraus.
      Und was Trump angeht – ich bin diesmal nicht mehr so sicher, ob er nicht doch das US-Militär marschieren läßt. Ansonsten ist er dabei, sein Land in eine veritable Verfassungskrise zu stürzen; Ausgang offen.
      Beste Grüße
      Stephan Wohanka

    • Franka Haustein sagt:

      Herr Wohanka, offensichtlich monieren Sie, dass Ganser viele Politiker in den USA verdächtigt, Kriegsverbrecher zu sein. Fallen also Bush junior und mindestens seine zuständigen Ressortminister (Verteidigung, Äußeres) mit ihrer Aggression gegen den Irak samt Hunderttausenden zivilen Opfern und Obama mit seinen extra-legalen Tötungen mutmaßlicher oder tatsächlicher Terroristen mittels Drohnen in fremden Ländern mit zahllosen „kollateralen“ zivilen Opfern nicht in diese Kategorie – Kriegsverbrecher? Buchen Sie derartige Taten tatsächlich unter „Völkerrecht und der Pflicht von Staatsmännern auch zu unbequemer politischer Verantwortung“ ab?

    • Stephan Wohanka sagt:

      Liebe Frau Haustein,
      der Irak-Krieg von Bush jun war eine völkerrechtswidrige Gewaltanwendung unter Verletzung der UN-Satzung; strategisch katastrophal, mit langfristigen negativen Folgen für den Nahen Osten und die internationale Ordnung.
      Diesen Völkerrechtsbruch fasste Jürgen Habermas schon kurz nach Kriegsbeginn in die Worte: „Machen wir uns nichts vor: die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern“. Hellsichtig warnte der Philosoph, die USA würden mit ihrem völkerrechtswidrigen Vorgehen „künftigen Supermächten ein verheerendes Beispiel geben“. Mit Trump, der in der Zuschrift von Herrn Thurner insofern positiv erwähnt wird, dass er „keinen neuen Krieg angezettelt“ habe, hat Habenmas´ Warnung eine völlig neue Dimension erreicht mit dem Potential, die Welt endgültig in ein geostrategisches Chaos zu stürzen. Der neue US-Verteidigungsminister Hegseth spricht davon, dass sich sein Land im Kriegsfall nur noch an dem „Rechtsrahmen orientiere, den es sich selbst gebe oder aber am Recht des Stärken“. Die Empörung in den Medien ist zurecht groß. Dass Putin Gleiches vor einiger Zeit verkündete, führte weder in der deutschen Presse zu größerer Empörung noch zu adäquaten Reflexionen. Gleich nach Trumps Wahlsieg im November 2024 ließ er hören: „Im Laufe der Jahrhunderte hat die Menschheit sich daran gewöhnt, dass Konflikte letztlich durch den Einsatz von Gewalt gelöst werden. Wer stärker ist, hat recht. Auch dieser Grundsatz gilt. Länder müssen ihre Interessen bewaffnet verteidigen, sie mit allen Mitteln behaupten“. Wo liegen da noch Differenzen in den Vorstellungen beider Mächte? Verbal haben sie nun gleichgezogen; ihre militärische Praxis „huldigte“ schon häufig diesen nun öffentlich formulierten völkerrechtswidrigen Überzeugungen.
      Auch Chinas Xi Jinping läßt keinen Raum für Zweifel: Um sich Taiwan einzuverleiben „behalten wir uns die Möglichkeit vor, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen“, erklärte Xi. Zwar solle die „Wiedervereinigung“ möglichst friedlich erfolgen, aber: „Wir werden niemals versprechen, auf den Einsatz von Gewalt zu verzichten“.
      Die schlichte und schreckliche Wahrheit: Alle Großmächte machen sich heute ihr Recht selbst.
      Stephan Wohanka

  10. Stephan Wohanka sagt:

    Zu: Antworten: Michael Krüger, Sporthistoriker, Professor i.R., Kriegsertüchtiger
    Hätten Sie – wer stellt diese Rubrik zusammen? – hätten Sie also nur den deutschen Bering beackert, wäre meine Wortmeldung unter der Rubrik Whataboutism zu verbuchen. Da Sie aber auch Polen ins Spiel bringen, darf ich auch Russlands ins Spiel bringen. Im Forum habe ich vor ein paar Tagen auf die russische Junarmija – Всероссийское военно-патриотическое общественное движение „Юнармия“ – zu deutsch Allrussische militärisch-patriotische gesellschaftliche Bewegung „Jugendarmee“ – hingewiesen. Von Putin 2016 durch einen Präsidentenerlass gegründet, untersteht diese Organisation dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation. Im März 2022 zählte sie 1.000.000 Mitglieder. Ob da nicht vielleicht auch schon „Dreizehnjährige den Umgang mit dem Sturmgewehr“ üben? Es wäre eine Recherche Ihrerseits wert.

    • Jürgen Hauschke sagt:

      Lieber Herr Wohanka, die Rubrik „Antworten“ wird – das ist ja naheliegend – von der Redaktion zusammengestellt, die konkret angesprochene Antwort verantworte ich. Wo liegt das Problem? In solch einem kurzen polemischen Text, lässt sich nicht die Welt darstellen. Selbstverständlich sind die russischen Methoden der Kriegsertüchtigung von Kindern auch aus meiner Sicht verwerflich. Vergleichbare Methoden in vielen anderen ungenannten Ländern dieser Welt ebenso. Auch die Ausbildung von Minderjährigen in der deutschen Bundeswehr ist überaus fragwürdig. Das Blättchen berichtete im Heft 24/2024 (https://das-blaettchen.de/2024/11/die-bundeswehr-und-ihre-kindersoldaten-70395.html).
      Mit besten Grüßen Jürgen Hauschke

  11. Jan Opal sagt:

    Beobachtung in Berlin-Lichtenberg. Auf dem Wahlplakat mit Sahra Wagenknecht steht die Behauptung: „Unser Land wünscht sich weniger Migration“. Zumindest bemerkenswert, wenn eine an Zustimmung nur kleine Partei im Namen gleich des ganzen Landes auftritt. Aber egal. Man duckt sich zugleich ein wenig weg, denn mitgeteilt wird ja nur, was sich das Land wünscht. Während ganz rechts ultimativ „Migration stoppen!“ gefordert wird, gibt man sich hier also um einige Stufen bescheidener. Doch gleich darunter auf dem Plakat die ins Auge fallende Feststellung: „Aber die alten Parteien sind taub!“ Nach Friedrich Merzens scharfer Migrations-Intervention im Bundestag wäre wohl zu fragen: Was nun Frau Wagenknecht?

  12. Holger Politt sagt:

    Zu Frau Haustein:
    Die Sowjetunion hat sich Ende 1991 aufgelöst, geeinigt wurde sich auf die Regelung, die staatliche Trennung entlang der bestehenden (!) Grenzen zwischen den bisherigen Unionsrepubliken vorzunehmen. Und? Die einzige ehemalige Sowjetrepublik, die an dieser Regelung etwas auszusetzen hat und diplomatisch wie militärisch dagegen vorgeht – ich klammere jetzt einmal den Fall zwischen Armenien und Aserbaidschan aus –, ist die Russländische Föderation. Hinzugefügt sei, dass die RSFSR (die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) 1991 den entscheidenden Anteil hatte am Zerfall der Sowjetunion, der – siehe oben – territorial so einvernehmlich geregelt wurde. Welche ehemalige Sowjetrepublik hält sich nicht an die friedensbewahrende und kriegsverhindernde Abmachung von 1991?
    Mit Verlaub, Holger Politt.

    • Franka Haustein sagt:

      Hallo Herr Politt, Ihre Einlassung darf ich dann wohl als (nach Wohanka) weiteres Plädoyer dafür verstehen, den Kalten Krieg 2.0 ja nur konsequent fortzusetzen, weil mit den Russen eben anderes praktisch gar nicht möglich ist?
      Wie sähe Europa heute eigentlich aus, wenn die mit der Charta von Paris (1990) anvisierte gesamteuropäische Sicherheitsordnung (unter Einschluss der USA und Kanadas) realisiert worden wäre? Leider haben die Führungsmächte des Westens (mit einer gewissen Ausnahme Frankreichs), wie man in einschlägigen Veröffentlichungen von Historikern nachlesen kann, das Projekt schon ab 1992 nicht mehr verfolgt und stattdessen Kurs auf die NATO-Osterweiterung genommen …

  13. Stephan Wohanka sagt:

    Zu: Sicherheit und Frieden – durch Abschreckung? von Sarcasticus
    Der Autor schreibt: „Wer sich mit diesen Gegebenheiten (russischen Iskander-Raketen in Kaliningrad ab 2026 US-amerikanische Langstreckenwaffen in Deutschland gegenüberzustellen – St. W.) unwohl fühlt, der müsste wohl oder übel über eine Entfeindung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland durch einen Wechsel von Konfrontation zu Kooperation, durch vertragliche vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen sowie Rüstungsbegrenzung und Abrüstung nachdenken….“.
    Diesem Konzept der „Entfeindung“ kann ich etwas abgewinnen. Und zwar deshalb, weil es jeweils die ganze „Gesellschaft“ einbezieht. In dem nachfolgenden Zitat von Dieter Senghaas geht es zwar um „Abschreckung“, aber der Gedanke, dass dazu „Gesellschaften“ gehören, stimmt ja auch für für das Gegenteil, eben die „Entfeindung“: „Abschreckung wird politisch erst glaubhaft, wenn die betroffenen Gesellschaften in quasi einsatzbereite militärische Kollektive umgebildet werden und die Toleranzschwelle für Schäden und Opfer relativ hoch angesetzt wird“.
    Nur – kann man einseitig „entfeinden“? Gehören da nicht beide Seiten dazu? Also „der Westen“, die NATO sowie Russland.
    Ich halte nichts von dem Geschwätz, dass „der Russe morgen angreift“; aber haben wir es mit Russland nicht mit einem Land zu tun, das, um es mit Senghaas zu sagen, durchaus dabei ist, seine „Gesellschaft in (ein) quasi einsatzbereite(s) militärische(s) Kollektiv“ umbilden? Oder schon „umgebildet“ hat? Denn Russland ist ein Schlüsselstaat für einen möglichen „Entfeidungs“-Prozess und führt auch einziges momentan einen wirklichen Krieg.
    Putins Aufstieg zum starken Mann und die Militarisierung des Landes begann mit dem zweiten Tschetschenienkrieg, vom August 1999 bis zum April 2009; er dauerte zehn Jahre lang. Dieser Krieg und die Übertragung militärischer Organisations- und Machtprinzipien auf die zivile Politik – „Vertikale der Macht“ – sind zwei entscheidende Wegmarken. Die Brutalität der Truppen, ihre Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, all das, was heute Teil der russischen Kriegsführung in der Ukraine ist, ließ sich bereits in Tschetschenien beobachten. Und hat nicht dieser neue Krieg mit exorbitant hohen Verlusten an Soldaten, die die russische Bevölkerung offenbar ziemlich stoisch hinnimmt, dazu geführt, dass die „Toleranzschwelle für Schäden und Opfer relativ hoch“ ist? Die Staatspropaganda zeichnet das Bild von Russland als belagerter Festung. Nicht nur die Außen- und Sicherheitspolitik ist in Freund-Feind-Kategorien eingeordnet, sondern auch alle innenpolitischen Entwicklungen. Organisationen wie „Junarmija“ (Jugendarmee) zielen darauf ab, schon Kinder und Jugendliche mit militärischen Fähigkeiten vertraut zu machen und sie „patriotisch einzustimmen“.
    Nun wurde auch noch die Wirtschaft auf eine Kriegswirtschaft umgestellt. Dem voraus ging, dass rationale Überlegungen, die seinerzeit darauf abzielten, sich als Sowjetunion aus der außen- und militärpolitischen Überdehnung (wie aus dem desgleichen zehnjährigen Afghanistan-Krieg beispielsweise) zurückzuziehen, um Kapital für die Modernisierung der strukturell nicht wettbewerbsfähigen Wirtschaft freizusetzen und sich Entwicklungsperspektiven im Inneren zu eröffnen, in der Putin-Ära als selbstzerstörerisch verunglimpft und zurückgewiesen wurden. So blieb der zivile Bereich ein Stiefkind der wirtschaftlichen Entwicklung – ganz anders als in China. Lediglich der Rohstoffsektor wurde deutlich vorangebracht. So ist die technologische Qualität der russischen Wirtschaft heute nur in bestimmten Bereichen hoch – eben beim Militär, der Raumfahrt und Energie – , weist aber erhebliche Schwächen in „friedlichen“ zivilen Branchen und der Innovationsdynamik auf.
    Alles in allem – Russland ist wohl keine „Gesellschaft“, die für eine „Entfeindung“ bereit wäre. Für andere „Gesellschaften“ wäre das auch zu untersuchen…

    • Franka Haustein sagt:

      Hallo Herr Wohanka, hoffentlich sind Sie nicht auf beiden Augen blind. Russland lebt mit der weit größeren Mehrheit an Staaten und Völkern der Welt in ausgesprochen unfeindlichen Beziehungen – sei es in der BRICS-Gruppe mit ihren Mitgliedern und zahlreichen Anwärtern oder in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Schon von daher ist es doch höchst unwahrscheinlich, dass das schwerst zerrüttete Verhältnis zwischen dem Land und dem sogenannten Wertewesten allein Moskau anzulasten ist. Doch wenn man immer nur durch das starre Prisma westlicher Stereotype nach Osten schaut, was soll da auch anderes herauskommen, als platte Propaganda („Russland … keine ‚Gesellschaft‘, die für eine ‚Entfeindung‘ bereit wäre.“), die wiederum bestens zu den Stereotypen passt.. So lässt sich der Kalte Krieg 2.0 spielend wieder auf 45 Jahre bringen …

    • Stephan Wohanka sagt:

      Liebe Frau Haustein,
      Es geht doch überhaupt nicht um das „schwerst zerrüttete Verhältnis zwischen dem Land und dem sogenannten Wertewesten“ und wer daran Schuld habe. Sagen Sie mir bitte konkret, wo ich „platte Propaganda“ betreibe. Widerlegen Sie einfach meine Argumente… mehr nicht.

    • Franka Haustein sagt:

      Lieber Herr Wohanka, ich dachte, ich hätte mich verständlich ausgedrückt. Aber gern wiederhole ich: Russland lebt mit der übergroßen Mehrheit der Menschheit in sehr unfeindlichen Beziehungen. Dem Land und seinen Völkerschaften trotzdem zu unterstellen, sie seien „keine ‚Gesellschaft‘, die für eine ‚Entfeindung‘ bereit wäre“ – das ist platte Propaganda, die zugleich das westliche Mainstream-Mantra impliziert, für die wachsende Kriegsgefahr zwischen dem Westen und Russland trage allein Moskau die Verantwortung.
      Ihre ganze Argumentationskette bewegt sich auf dieser Linie.
      Und weil man den Russen offenbar grundsätzlich nicht trauen dürfe, muss der Westen wieder auf Kriegsverhütung durch möglichst umfassende Kriegsvorbereitung setzen …
      So hat man schon einmal, ich wiederhole mich erneut, 45 Jahre Kalten Krieg hinbekommen. Fällt Ihnen wirklich gar nichts anderes ein?

    • Stephan Wohanka sagt:

      Liebe Frau Haustein,
      es wäre auch noch schöner – lebte Russland nicht mit „ der übergroßen Mehrheit der Menschheit in sehr unfeindlichen Beziehungen“. Es reicht ja wohl, dass es aktuell einen Krieg, pardon „Sonderoperation“ führt. Auch ich denke, mich „verständlich ausgedrückt“ zu haben – ich halte das Land, die russische Gesellschaft in ihrer momentanen Verfasstheit tatsächlich nicht bereit für eine „Entfeindung“.
      Die russische Aggression ist die Chronik einer monströsen Fehleinschätzung Putins; der Zerfall der Sowjetunion das Trauma seines Lebens. Er will die Geschichte zurückdrehen; ein erster Schritt dazu war der Tschetschenien-Krieg. Der Ukraine sprach Putin in einem „Geschichtsaufsatz“ und in Reden das Recht auf Unabhängigkeit ab. Die Russen hätten ein Sonderverhältnis zur Ukraine, historisch, kulturell, religiös; die Sprachen seien verwandt. Für Putin gehört die Ukraine zu Russland. Deshalb meinte er wohl, dort gefahrlos einfallen zu können und Kiew nach drei Tagen erobert zu haben… Es kam anders. Hunderttausende flohen aus Russland, vertrieben erst durch die Empörung über den Krieg als solchen, dann vor der Mobilmachung; das kam Putin zupass – das kriegskritische „Element“ war weg. Im Krieg selbst wurden desgleichen Hunderttausende junger Russen durch den „Fleischwolf“ (Prigoschin) gedreht. Und die hirngewaschene Bevölkerung nimmt das weiterhin klaglos zur Kenntnis – ist das eine Gesellschaft bereit zur „Entfeindung“?
      Die Umstellung der Wirtschaft des Landes auf die „Kriegswirtschaft“ – eine Geste in Richtung Frieden?
      Nochmals zur Junarmija – Всероссийское военно-патриотическое общественное движение „Юнармия“ – zu deutsch Allrussische militärisch-patriotische gesellschaftliche Bewegung „Jugendarmee“. Von Putin 2016 durch einen Präsidentenerlass gegründet, untersteht diese Organisation dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation!!! Im März 2022 zählte sie 1.000.000 Mitglieder. Uniformiert paradieren diese jungen Menschen vor Putin – sieht so eine Erziehung zum Frieden aus?
      Ob an der „wachsenden Kriegsgefahr zwischen dem Westen und Russland allein Moskau die Verantwortung trägt“, will ich hier gar nicht beurteilen. Aber nachweisbar ist, dass die russische Aggression die nach Macron „hirntote“ NATO wiederbelebt hat, dass sie hierzulande zum 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr geführt hat, dass Finnland und Schweden ihre teilweise hundertjährige Neutralität aufgaben und sich der Nato anschlossen. Putin löste also kolossale Schritte in die falsche Richtung aus – womit wir wieder seiner monströsen Fehleinschätzung wären.
      Und um Ihnen das auch zu sagen: Mir fiele gern etwas anders ein….

    • Franka Haustein sagt:

      Doch, Herr Wohanka, letztlich überzeugen Ihre nimmermüden Aufzählungen: Die russische Gesellschaft ist a priori das abgrundtief Böse. Die kann und will gar nicht anders. Das ist ihr quasi in die DNA eingestanzt. Und selbstredend muss der Westen diesen Moloch mit Konfrontation, immer neuen Sanktionen und eigener Aufrüstung bis an die Zähne in die Knie zwingen. Was denn sonst. Sollte das mit für uns alle entsetzlichen Folgen schief gehen, dann ist es halt dumm gelaufen. Aber Hauptsache, man hat es versucht!
      Eines allerdings frage ich mich trotzdem immer noch: Warum gelingt es einer übergroßen Mehrheit der Menschheit, mit Russland in einem unfeindlichen bis freundschaftlichen Verhältnis zu leben, bloß dem Westen nicht?
      Sind eben alles keine lupenreinen Demokratien wie wir?
      Dann sollten wir den Rest der Welt vielleicht gleich ebenso behandeln wie Russland … Gewissermaßen – in einem Aufwasch.

    • Jürgen Hauschke sagt:

      „Der Worte sind genug gewechselt“ – an dieser Stelle –, wir wollen jetzt zwar keine Taten sehen, wie der Dichterfürst es einst wünschte, doch „Indes ihr Komplimente drechselt, / Kann etwas Nützliches entstehn.“ Wir bitten die beiden Disputanten, eine Ruhephase einzulegen, zumal sich die Argumente im Kreise zu drehen beginnen. Redaktion, jühau

    • Franka Haustein sagt:

      […], aber was diese Diskussion anbetrifft, haben Sie völlig Recht.

  14. Brunhild Krüger sagt:

    In Ihrem Artikel *“Sicherheit und Frieden – durch Abschreckung?“* habe ich das Wort „Entfeindung“ zum ersten Mal gelesen und darüber nachgedacht, denn ich finde es sehr schön, sehr treffend. Herausgekommen sind diese Gedanken:

    Wahrscheinlich ist dieses Wort selbsterklärend, ich versuche trotzdem, seine Bedeutung mit meinen Worten wiederzugeben:
    Aus Feinden sind noch keine Freunde geworden, doch sie haben ihre aktiven Feindseligkeiten beigelegt und bemühen sich nun um bessere, vielleicht sogar freundschaftliche Beziehungen.

    Ein Beispiel aus der Geschichte könnten *die deutsch-französischen Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg* sein. Zweimal haben sich beide Länder im 20. Jahrhundert in Kriegen gegenübergestanden. Nach dem 2. Weltkrieg waren sie sich einig, dass ihre Feindschaft beiden Seiten schadet. Mit der Entwicklung hin zur heutigen EU kann man inzwischen durchaus von freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern sprechen, auch wenn man nicht immer einer Meinung ist.
    Ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ist jedenfalls „un-denkbar“ geworden.
    *Die Zusammengehörigkeit im Rahmen einer höheren Gemeinschaft kann also friedensstiftend und konfliktlösend wirken.*

    Wie wäre es, wenn wir endlich beginnen, uns langsam in der *“höheren Gemeinschaft als Erdenbürger, als Menschheit* zusammengehörig zu fühlen?
    Gemeinsame Probleme haben wir genug, deren Lösung dringend all unsere gemeinsame Kraft benötigt. Das schaffen wir nur, wenn wir uns endlich „entfeinden“.

    Brunhild Krüger

    (Der Text zwischen *…* meint: der muss als „fettgedruckt“ gelesen werden.)

    • Krysztof Daletski sagt:

      @B_Krüger In Sarcasticus‘ Artikel steht „Entfeindung“ für einen politischen Prozess (primär von oben nach unten) beginnend mit dem kleinen Einmaleins der Diplomatie aus Zeiten, als man die diplomatischen Grundrechenarten noch geschätzt hat. Und das ist auf jeden Fall dringend geboten, denn dauerhaftes Misstrauen und Unterstellen böser Absichten führt bei Missverständnissen schnell ins Debakel. Nicht nur beim von S. erwähnten Vorfall im September 1983, sondern es gab auch weitere Vorfälle, von denen z.B. der frühere US-Verteidigungsminister William J. Perry berichtete, der deswegen das „William J Perry Project“ gestartet hat. Dass die nukleare Abschreckung im kalten Krieg nicht den Untergang herbeiführte, ist lediglich glücklichen Zufällen zu verdanken.

      Es gibt aber auch auf der persönlichen Ebene Möglichkeiten dazu beizutragen, z.B. indem man bei den medial inszenierten „Hasswochen“ (Orwell) nicht mitmacht und persönliche Kontake aufrechterhält. Das wird zwar schwierig, wegen des dagegen gerichteten Generalverdachts, gesellschaftlicher Ächtung und auch ganz praktischer Probleme wie Sanktionen und der massiven Erschwernis von Reisen, aber man kann sich trotzdem weigern, Feinde zu sein, wie es in diesem Lied heißt (Disclaimer: ist von mir selber): https://youtu.be/PTNgV_5WTr0

  15. Jan Opal sagt:

    Peter Richter vielen Dank für den feinen Beitrag zur italienisch-slowenischen Doppelstadt Gorizia bzw. Nova Gorica. Eine Anmerkung habe ich aber. Unten im Text steht tatsächlich geschrieben, dass „die Träume von einem grenzenlosen Europa von eben dieser EU ad absurdum geführt“ würden. Dazu folgendes: Erstens bedeutet das Schengen-System nicht die Aufhebung von Grenzen, die bleiben bestehen, auch wenn die vereinbarte Freizügigkeit und Durchlässigkeit demjenigen, der die Grenzen nun überquert, es so scheinen lässt, als gäbe es die Grenzen gar nicht mehr. Zweitens wird das Schengen-System nicht von der EU ausgehöhlt, sondern immer von einzelnen Mitgliedsländern im Schengen-System. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Wenn zum Beispiel Giorgia Meloni Grenzkontrolle verhängt oder verlangt, beruft sie sich auf italienische Interessen, nicht auf die EU. So auch aktuell in Deutschland: Friedrich Merz beruft sich auf eine angebliche Notlage in Deutschland, so dass bestimmte EU-Vereinbarungen (Schengen!) ausgesetzt oder angepasst werden dürften, weil an den deutschen Grenzen wieder schärfer kontrolliert werden müsse. Das aber ist, wie Luxemburgs Außenminister in Verteidigung des Schengen-Systems richtig betont, schlicht und einfach gegen die EU gerichtet. Es sind also immer nur einzelne Hauptstädte, die meinen, sich aus bestimmten nationalen Gründen über EU-Vereinbarungen hinwegsetzen zu können. Diese gleichzusetzen mit der EU ist insofern falsch.

  16. Zu „Narrativ Auschwitz“ von Jutta Grieser

    Liebe Frau Grieser, vielen Dank für Ihre Informationen und Gedanken zum Buch von Susanne Willems und Frank Schumann. Zum folgenden Absatz „‚Die SS orientierte ihre Entscheidungen über die Funktion und den Ausbau dieses Lager in den folgenden Jahren nicht nur an den eigenen politischen und ökonomischen Optionen, sondern auch an den Interessen ihrer mächtigen Partner: zuerst der I.G. Farbenindustrie AG*, dann der Wehrmacht und schließlich des Rüstungsministeriums.‘ Im KZ Auschwitz III, auch Lager Buna-Monowitz genannt, ließ der IG Farben-Konzern von KZ-Häftlingen untere anderem kriegswichtigen synthetischen Kautschuk herstellen.“ gestatte ich mir folgende Anmerkungen:
    Das KZ Auschwitz-Monowitz wurde von der IG Farben selbst errichtet; die SS „verwaltete“ es im IG-Auftrag. Das war etwas sehr Besonderes. Die Entscheidung der IG basierte darauf, dass der Weg vom „Stammlager“ Auschwitz (Auschwitz I) zur Baustelle im Ortsteil Monowitz mit 5 Kilometern so weit war, dass die Häftlinge bei Baubeginn 1941 immer schon vom Fußmarsch völlig entkräftet ankamen. – Dass die IG „im KZ Auschwitz III […] von KZ-Häftlingen unter anderem kriegswichtigen synthetischen Kautschuk herstellen“ ließ, ist falsch. Synthetischer Kautschuk (Buna) und Benzin aus Kohle waren die beiden Hauptproduktionslinien desjenigen riesigen, eine Fläche von 2 mal 5 Kilometern beanspruchenden Chemiewerkes, das die IG in Monowitz von KZ-Häftlingen und weiteren Gruppen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern von 1941 bis Januar 1945 als „Buna IV“ errichten ließ, aber nicht fertig wurde, weil kurz vor Inbetriebnahme die Sowjetarmee in Auschwitz eintraf. In seiner Monographie „IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941-1945“ schreibt Bernd C. Wagner (München 2000, S. 280) über den 23. Januar 1945: „Zurück blieb ein fast produktionsreifes Werk zur Herstellung von synthetischem Treibstoff, Buna und einer Vielzahl anderer chemischer Substanzen. Nur ‚geringe Restarbeiten von ca. zwei bis drei Wochen‘ fehlten schließlich bis zur ‚endgültigen Aufnahme der Buna-Fabrikation. […] Die in der Gründungssitzung verheißene ’segensreiche‘ Zusammenarbeit mit der SS hatte viele Tausend Menschen das Leben gekostet – und das Unternehmen der IG-Farbenindustrie untrennbar mit der Ermordung der europäischen Juden verknüpft.“ – Alle seriösen Forschungen zum Thema gehen heute von 20.000 vornehmlich jüdischen Menschen aus, die beim Bau des Werkes zu Tode gebracht wurden.

  17. Stephan Wohanka sagt:

    „´Kriegstüchtig´ – weitere Anmerkungen“ von Gabriele Muthesius

    Frau Muthesius zitiert aus dem in Rede stehenden Buch: „Gibt es hier denn gar keinen Sinn und Verstand mehr? Ob Deutschland über 50, 500, 5000 oder 50.000 Panzer verfügt: Eine Atommacht drückt einmal auf den Knopf und dann ist nichts mehr mit Kriegstüchtigkeit.“ Warum so inkonsequent? Wäre es – folgte man dem Autor Marcus Klöckner – nicht zwingend logisch, gar keine Panzer mehr zu haben; vulgo die Bundeswehr völlig abschaffen? Dazu genügte der Satz: Ich bin dafür, die Bundeswehr abzuschaffen – eine politisch berechtigte Forderung. Ob klug? ist eine andere Frage…
    Und der Autor ersparte sich wohl einiges persönliches Ungemach, welches dadurch ausgelöst wird, dass er meint feststellen zu müssen, dass „die Gesellschaft …. ´mit Realitätsverkennung und Verdrängung´“ auf „eine zunehmend enthemmte Militarisierung von Politik und Gesellschaft“ reagiere, wie bei Muthesius auch zu lesen ist. Richtig ist, dass Stimmen aus dem linken und rechten pazifistischen Lager nicht mehr die Diskurshoheit haben angesichts der sicherheitspolitischen Realitäten. Und vielleicht ist daher die „Gesellschaft“ ja weiter als Muthesius und Klöckner und verkennt in Teilen gar nicht die Realität und verdrängt auch nichts? Nämlich dass ein neuer Kalter Krieg längst Realität ist.

    • Dr. Markus Hildebraa sagt:

      „… dass ein neuer Kalter Krieg längst Realität ist“, bei dieser Feststellung, werter Herr Wohanka, scheint bei Ihnen ja fast so etwas wie Genugtuung mitzuschwingen. Die Aussicht auf nochmal 45 Jahre wechselseitige nukleare Bedrohung jedenfalls scheint Sie nicht merklich zu schrecken. Im Falles des Falles wäre Deutschland allerdings mit Atomwaffen nicht zu verteidigen, nur zu zerstören. Das wussten westdeutsche Wissenschaftler schon in den 1970er Jahren. „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“ hieß die entsprechende Studie. Die neue russische Mittelstreckenrakete namens Oreschnik (Mach 10; von keiner Raketenabwehr abzufangen) kann 6 Kernsprengköpfe à 150 Kt transportieren. 2 dieser Raketen auf die 12 größten deutschen Städte – und das war’s.
      Schon im Kalten Krieg von 1945 bis 90 waren Aufrüstung und Militarisierung der Gesellschaft übrigens kein Weg, die existenzielle atomare Bedrohung zu beseitigen und den Kalten Krieg zu beenden. Das gelang erst, nachdem die Idee aufgekommen war, es statt mit Konfrontation mal mit Kooperation zu versuchen. Egon Bahr bekam, nachdem er diesen ketzerischen Ansatz 1963 in Tutzing erstmals öffentlich geäußert hatte, zwar noch Prügel, selbst aus der eigenen SPD, aber ab 1969 wurde daraus der Erfolg der Neuen Ost-Politik und des Helsinki-Prozesses, der 1990 in der Charta von Paris für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur kulminierte.
      Aber vielleicht sind Sie ja einfach zu jung, als dass Ihnen diese Historie geläufig sein könnte …

    • Stephan Wohanka sagt:

      Lieber Herr Hildebraa,
      wie Sie aus meiner sachliche Feststellung von einem neuen Kalten Krieg – die Sie natürlich bestreiten können – „mitschwingende Genugtuung“ herauslesen, bleibt Ihr Geheimnis. Und was mein Alter angeht und eigene Erfahrungen mit den Schrecken der nuklearen Bedrohung des alten Kalten Krieges will ich nur sagen, dass ich die Kuba-Krise 1962 hautnah miterlebt habe; ich war damals auf der Insel.

      Noch ein Satz in eigener Sache: Im Blättchen vom 16. Dezember 2024 zu „Trumps Sieg und die internationale Ordnung“ schrieb ich: „Der – strategisch – erratisch und disruptiv handelnde Trump hat wohl nicht vor, ein anderes Land aus nationalen Interessen des Make America great again anzugreifen. …. Wenn schon Krieg – dann weltweite Handelskriege“. Da habe ich mich möglicherweise getäuscht; Trump rasselt sehr wohl mit dem Säbel und bedroht andere Länder schon vor Amtsbeginn militärisch.

  18. Wladislaw Hedeler vermisst in seiner aktuellen Buchbesprechung die von den Autoren angestrebte „Neubewertung“ Lenins. In der Tat sieht es eher nach einer akademischen Frage aus, ob es sich um zwei Strömungen oder zwei verschiedene Parteien handelt; vor allem dann, wenn die eine Seite die andere mit militärischer Gewalt aus dem politischen Leben entfernt.
    Wichtiger ist wohl die Frage, was denn der Grund für diese Differenzen war. Hierzu möchte ich auf die Ansicht der ungarischen Autoren György Konrád und Iván Szelényi verweisen, wonach für Lenin die reale Arbeiterbewegung letzten Endes zweitrangig war: „Lenins größte Erkenntnis bestand darin, dass die sozialistische Wende eben nur in Osteuropa möglich sei. Der Sieg der Revolution war nicht durch die Existenz des Proletariats, sondern durch die Vorbereitung der Intelligenz möglich geworden.“ Ausführlicher habe ich diese Thesen einmal im redaktionellen Teil referiert:
    https://das-blaettchen.de/2021/01/kritik-am-sowjetmarxismus-55543.html
    Dort findet sich auch ein Verweis auf einen früheren Beitrag, in dem ich zeigte, wie diese Überlegungen durch letzten Endes wirksame Repression ihr Zielpublikum verfehlten.
    Erwähnenswert scheint mir ferner ein Text eines deutschen Verfassers, der in Russland publiziert wurde. Es handelt sich um einen Beitrag, der bei einer Tagung in Tomsk in Sibirien im Jahr 2009 in meiner Abwesenheit von anderen Teilnehmern vorgetragen wurde. Reisekosten waren bewilligt, Flugtickets gebucht – nur das Visum blieb aus.
    https://das-blaettchen.de/2012/06/begegnungen-im-niemandsland-deutsch-russische-diskurse-ueber-demokratie-und-diktatur-13138.html
    Wer diese Überlegungen plausibel finden mag, sei darauf hingewiesen, dass es sich um eine Art Werkstattbericht zu einem sehr kompakten Buch handelt, das im Jahr 2010 erschien. Es ist bei „Books on Demand“ verlegt – nahezu unauffindbar, wie aus den ärmlichen Umsätzen hervorgeht. Das Inhaltsverzeichnis und eine Leseprobe sind aber ebenfalls online zugänglich:
    http://www.bernhard-mankwald.de/
    Zum Schluss mein Dank an den Rezensenten für die interessanten Lesehinweise.

  19. Dieter Segert sagt:

    Zu Heino Bosselmann: Ja natürlich, auch im 3. Reich wurde abseits der Konzentrationslager gelebt und ebenso im Chile Pinochets. Allerdings habe ich natürlich nicht nur auf diese scheinbare Trivialität hervorgehoben, bestanden, sondern auf Erfahrungen hingewiesen und praktische Lebensweisen (wie etwa die Lage der Frauen, den Freiraum am Arbeitsplatz), die positiv bei den Zeitzeugen nachklingen.
    Mir ging und geht es darum, die einseitige Hervorhebung der Gewalterfahrung an Grenze, durch Staatssicherheit und Gefängnisse in den Beschreibungen der DDR im vereinten Deutschland zu kritisieren. Jene Einseitigkeit dient vor allem als Kontrastfolie zum Staat der Bundesrepublik, wenn die Gegenseite besonders schwarz dargestellt wird, hebt sie sich besonders strahlend davon ab. Das eigentliche Problem ist: Die heutigen Defizite der praktischen Demokratie erscheinen dadurch als nicht so dringend zu beheben. Also, eine realistischere Darstellung der DDR, samt ihrer Defizite und Vorzüge, erleichtert die Kritik unserer heutigen Gesellschaft, welche Not tut.
    Und ich stimme Herrn Bosselmann natürlich zu, wenn er auf die Notwendigkeit hinweist, den heutigen Schülern diese realistische Sicht auf die DDR zu vermitteln, die ihnen nicht nur aus den Erzählungen ihrer Großeltern oder Verwandten, die in der DDR gelebt haben, zuwachsen kann.