24. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2021

Kritik am „Sowjetmarxismus“

von Bernhard Mankwald

Die sehr gehaltvolle Blättchen-Sonderausgabe 3/2019 zum ehemals „real existierenden Sozialismus“ hat bisher auf diesen Seiten nicht die verdiente Resonanz gefunden. Das ist einerseits sicher den infektiösen Zeitläuften geschuldet, die nicht unbedingt ein günstiges Klima für Grundsatzdiskussionen schaffen und zum Beispiel den gewohnten Zugang zu Bibliotheken unmöglich machen. Andererseits breitet der Autor Ulrich Knappe eine Fülle von Fakten aus, die auch derjenige erst einmal verarbeiten muss, der sich schon intensiv mit dieser historischen Formation befasst hat. Dabei fällt dann allerdings auf, dass diese nach Ansicht des Autors aus einem „asiatischen Feudalismus“ hervorgegangen ist. Auf das Konzept der „Asiatischen Produktionsweise“ als eigenständiger gesellschaftlicher Formation geht er – jedenfalls in dieser Zusammenfassung einer weit umfangreicheren Monografie – nicht ein.

Im Blättchen 7/2020 habe ich darauf hingewiesen, dass die Beschäftigung mit diesem Konzept unter Stalin zu einer „politischen Straftat“ wurde. Ähnliches gilt sicher auch für andere Tabuthemen. Wenn also Knappe mitteilt, dass ein bestimmter Wissenschaftler 1924 die Entwürfe des Briefes von Marx an Vera Sassulitsch in russischer Übersetzung veröffentlichte, 1931 aus der Partei ausgeschlossen und 1938 erschossen wurde, liegt es nahe, zwischen diesen drei Fakten einen kausalen Zusammenhang herzustellen.

Noch vierzig Jahre später erregten die ungarischen Autoren György Konrád und Iván Szelényi durch durch ihre Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Asiatischen Produktionsweise“ die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft. Ihr Buch – aus dem ich bereits im vorhergehenden Absatz zitiert habe – ist ein Seitenstück zu Knappes Überlegungen aus einer Zeit, in der einerseits die mit derartigen Studien verbundene Gefahr noch akut war, andererseits eine Therapie des Patienten „realer Sozialismus“ noch möglich schien, während es heute allenfalls um die Autopsie gehen kann.

Die soziologische Perspektive der ungarischen Autoren erlaubte ihnen einen scharfen Blick auf die Frage, wie denn eigentlich das Subjekt der fraglichen historischen Umwälzungen zu definieren sei.

Die Herrschaftsform im vorrevolutionären Russland beschreiben Konrád und Szelényi als „frühe rationale Distribution“. Grundmotiv dieser Organisationsform war nicht wie in frühen Hochkulturen die Bewässerung des Landes, sondern die Steigerung des Militärpotentials. Die Leitung oblag Intellektuellen, die meist aus dem Adel stammten; einzelne Ausnahmen wurden in diesen aufgenommen, sobald sie in führende Positionen aufrückten.

Auch revolutionäre Strebungen gingen von den Intellektuellen aus: „Entweder akzeptierten sie also die von oben gelenkte Modernisierung des zentralisierten Staates und fügten sich der Ordnung der Staatsbürokratie oder sie widersetzten sich radikal dem absolutistischen Staat des herrschenden Standes. Professionelle Fachkenntnisse wurden in den Hintergrund gedrängt, der Staat zahlte in erster Linie für loyales Verhalten. Wer nicht ein serviler Ministerialrat werden wollte, für den war die radikale Intelligenz eine ziemlich naheliegende Alternative, und innerhalb dieser Intelligenz sogar die Rolle des Berufsrevolutionärs.“ Im Gegensatz zu den ursprünglichen Thesen von Marx und Engels spielten die Arbeiter dabei eine zweitrangige Rolle: „Lenins größte Erkenntnis bestand darin, dass die sozialistische Wende eben nur in Osteuropa möglich sei. Der Sieg der Revolution war nicht durch die Existenz des Proletariats, sondern durch die Vorbereitung der Intelligenz möglich geworden.“ – Und die „sozialistische rationale Redistribution“, die aus diesem Sieg hervorging, baute auf dem vorhergehenden Wirtschaftssystem nach Ansicht von Konrád und Szelényi „nicht im entferntesten unorganisch“ auf.

Die ungarischen Autoren schildern die politische Krise der russischen Gesellschaft, die einer entsprechend vorbereiteten und organisierten Minderheit die Möglichkeit bot, unter geeigneten Umständen die Macht zu ergreifen. Nach ihrer Ansicht sah Lenin die zentrale Aufgabe seiner Partei darin, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten. Die Frage der Organisationsform hatte daher „[…] eine entscheidende Bedeutung. Es ist keineswegs ein geschichtlicher Zufall, dass die Geburt des Bolschewismus an eine Diskussion von geschichtsphilosophisch bescheidenem Rang anknüpft: Kann auch derjenige Parteimitglied sein, der nur seinen Mitgliedsbeitrag bezahlt, das Parteiprogramm akzeptiert, aber keine ständige Parteiarbeit in einer Grundorganisation leistet?“ – Dass Lenin sich in dieser Frage durchsetzte, bedeutet nach Ansicht von Konrád und Szelényi, dass er „praktisch darauf verzichtete, dass die bolschewistische Partei Massenpartei der Arbeiterklasse wird.“

„Das historische Novum des Bolschewismus bestand darin, dass er die Interessen der empirischen Arbeiterklasse durch die historische Mission der Arbeiterklasse, durch die Erringung der Diktatur des Proletariats, genauer: durch die staatliche Diktatur der zentralisierten Parteiführung der Bolschewiki ersetzte.“

Ein solches Programm ließ sich nicht ohne Hilfe der Bauern verwirklichen. Die Parteiführung gewann dabei aber eine solche Macht, dass sie nach Darstellung von Konrád und Szelényi imstande war, „den Bauern den Boden wieder wegzunehmen und aus den unabhängigen Kleinproduzenten dispositive Kolchosarbeiter zu machen“ sowie „die vor der bolschewistischen Herrschaft geschaffenen Institutionen der Arbeiterselbstverwaltung, die Sowjets, zu verstaatlichen“. – Hier wiederum liegt der Schwerpunkt der Arbeit von Ulrich Knappe, der diese skizzenhafte Darstellung aber durchaus als sehr zugespitzte Zusammenfassung dienen könnte.

Auf einen klareren Begriff bringen Konrád und Szelényi schließlich auch das Unbehagen Knappes am „Marxismus-Leninismus“: „Im osteuropäischen Staatssozialismus avancierte der Marxismus oder genauer gesagt der ‚Sowjetmarxismus’ zu einer Art Staatsreligion, und er ist sicherlich die Ideologie einer neuen herrschenden Klasse. So gesehen ist der Marxismus bevorzugter Gegenstand unserer kritischen Prüfung.“

Die ungarischen Autoren hätten es als opportunistisch empfunden, den typischen Jargon ihrer Zeit zu verwenden, waren aber doch beeindruckt von der analytischen Schärfe des Klassenbegriffs, wie er von Karl Marx und später von Max Weber entwickelt worden war. So lief ihre Arbeit in gewissem Sinne auf eine „historisch-materialistische Kritik des Marxismus“ hinaus. Knappes detaillierte Darstellung der Kontroverse zwischen Marx und Lenin über die Rolle der russischen Dorfgemeinschaft lässt sich durchaus als Beitrag zu einem solchen Unternehmen verstehen. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags schließlich hat schon in einer früheren Publikation zu zeigen versucht, dass auch die Vorstellungen Lenins zur Organisationsstruktur seiner Partei mit den Auffassungen von Marx nicht vereinbar waren (Blättchen-Archiv).