23. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2020

Der Polizist am Bücherschrank

von Bernhard Mankwald

Der ungarische Autor György Konrád, der am 13. September 2019 verstarb, ist wohl vor allem durch seine Romane bekannt. Zu Beginn seiner Laufbahn jedoch erregte er mit einer empirischen wissenschaftlichen Analyse das Interesse eines sehr speziellen ebenso sachkundigen wie missgünstigen Publikums; letzterer Umstand verhinderte bisher, dass diese fundierte Kritik des „osteuropäischen Staatssozialismus“ die verdiente öffentliche Aufmerksamkeit fand.

Konrád war damals als Sozialwissenschaftler tätig und untersuchte gemeinsam mit seinem Kollegen Iván Szelényi die Rolle der Intellektuellen in der genannten Gesellschaftsform; im Bewusstsein, „daß das politische Establishment das Buch, das wir planten, nie akzeptieren würde“. Sie orientierten sich dabei an den Thesen von Antonio Gramsci, die sie in ihrem Manuskript wie folgt zusammenfassten: „Jede gesellschaftliche Klasse braucht ihre eigene Intelligenz, die ihre Ideologien hervorbringt; die Intellektuellen müssen sich eine gesellschaftliche Klasse wählen, um deren organische Intelligenz zu bilden.“

Die Akteure orientieren sich dabei an den Werten, die in der jeweiligen Gesellschaft als verbindlich angesehen werden: „In diesem Sinn werden der Physiker, der die Struktur des Atoms erforscht, und der Polizist, der im Manuskriptschrank etwas sucht, gleichermaßen als Intellektuelle qualifiziert, obwohl der eine von sehr fern auf die Werte hinweist, der andere dagegen selbige sogar sehr direkt repräsentiert.“

Die Vision vom wissbegierigen Polizisten erwies sich als selbsterfüllende Prophezeiung. Die Staatsgewalt rückte mit einem Durchsuchungsbefehl an – nicht bei den beiden Autoren selbst, sondern bei einem befreundeten Photographen, der deren Manuskript zur besseren Tarnung auf Mikrofilm aufgenommen hatte. Alle drei wurden verhaftet.

Zu ihren anstößigsten Thesen gehörte sicher der Begriff der „asiatischen Produktionsweise“. In der russischen Gesellschaft waren die Angehörigen des Dienstadels nicht Eigentümer ihrer Güter, sondern besaßen nur das Nutzungsrecht. „Die gegenüber dem empirischen Wissensmaterial flexibleren Historiker schlugen deshalb vor, diese asiatischen Gesellschaftsformationen nicht einmal als Feudalismus anzusehen, und sie empfahlen die Kategorie der asiatischen Produktionsweise als Bezeichnung ihrer Besonderheit.“ – Dies stieß auf erbitterte Kritik der „orthodoxen Forschung“, da solche Thesen letzten Endes auch das Selbstverständnis der sowjetischen Gesellschaft erschüttern mussten. „In diesem Licht ist es vielleicht eher verständlich, weshalb die Analyse der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte Chinas zu Anfang der dreißiger Jahre in der Sowjetunion zur politischen Straftat wurde, und das in einem Ausmaß, daß viele Wissenschaftler dieser Disziplin nicht nur von ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, sondern auch von ihrem Leben Abschied nehmen mussten.“

Auch in Ungarn waren solche Forschungen riskant. Die Staatsanwaltschaft warf den Autoren vor, „ein Buch geschrieben zu haben, ‚das als Programm einer Konterrevolution‘ dienen könne (wegen solcher Gründe wurden nach 1956 Menschen aufgehängt).“ Dem befreundeten Photographen wurde stattdessen die Herstellung von Pornographie unterstellt.

Aber die Zeiten hatten sich geändert: die Autoren und ihre Freunde kannten die Gesetze – und die politische Polizei war gehalten, dieselben zu beachten. So kam es, dass auch diejenigen, bei denen ein Exemplar des Manuskripts vorgefunden wurde, bestritten, es gelesen zu haben. Nach ungarischem Gesetz lag damit keine Straftat vor. Die Behörde griff daher zum Mittel einer „Verwarnung durch den Ankläger“: die Delinquenten wurden unter Androhung künftiger Bestrafung aufgefordert, ihr Verhalten zu ändern. Zu ihrer Überraschung bot man ihnen aber auch an, sie emigrieren zu lassen, falls sie sich dazu nicht in der Lage sahen. Während Konrád sich letztlich doch entschied zu bleiben, gingen seine beiden Freunde im Mai 1975 ins Exil.

Szelényi nahm einen Lehrstuhl für Soziologie an einer Universität in Australien an. Auf Umwegen erreichte ihn dort das letzte Exemplar des Manuskripts, das schließlich 1978/79 in deutscher und englischer Übersetzung veröffentlicht wurde; anscheinend existiert auch eine französische Ausgabe. Angesichts dieser Umstände erregte das Buch längst nicht die Aufmerksamkeit wie etwa die „Alternative“ von Rudolf Bahro, der es vom Niveau her mindestens ebenbürtig ist – soweit der Vergleich bei der unterschiedlichen fachlichen Ausrichtung beider Werke statthaft ist. Die Staatsanwälte hatten also ihr eigentliches Ziel erreicht: die Analyse denjenigen vorzuenthalten, die daraus praktischen Nutzen hätten ziehen können.

Der „Staatssozialismus“ ist also wohl kaum durch diesen Text zugrunde gegangen und wäre auch schwerlich durch ihn zu retten gewesen. Heute kann der Text Argumente für die Einschätzung liefern, ob diese vergangene Gesellschaftsform Vorbild für unsere Zukunft sein kann. Einen eigenen Reiz hat dieser Essay als Zeitbild: als Momentaufnahme des Diskurses zweier sehr kluger Köpfe. Dass es dabei nicht immer leicht verständlich zugeht, wird in den Zitaten schon angeklungen sein. Als Einstieg in eine etwaige Lektüre sei daher das Nachwort von Iván Szelényi empfohlen.

György Konrád und Iván Szelényi: Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1978.