21. Jahrgang | Nummer 22 | 22. Oktober 2018

Bemerkungen

Sahras Elchtest

Eben noch sehr geneigt, Sahra Wagenknechts Ansatz zu einer parteienunabhängigen Sammlung linksdemokratischer Kräfte („Aufstehen“) zu goutieren, hat sie nun leider umgehend ein betrübliches Beispiel für jene Arroganz gezeigt, wie selbige ihr gerade erst seitens linksparteilicher Führungskräfte entgegengeschlagen war. An der Großdemo „unteilbar“ in Berlin hat Sahra Wagenknecht ihre Teilnahme abgelehnt, da dort auch Kräfte vertreten sein wollen (und auch vertreten waren), die offene Grenzen fordern und damit ihren Ansichten – die wir hier nicht bewerten – entgegenstehen.
Andere Teilnehmer an der Berliner Demo, viel weniger „links“ als die Linken-Politikerin sich verstehen, haben gezeigt, wie man Massen um ein Anliegen sammelt: nämlich unter Verzicht auf Meinungsmonopol und Rechthaberei. Lala Süskind etwa, die – wie sie es auch offen aussprach, wusste, das sich unter den 240.000 durchaus auch Menschen mit einem – sagen wir mal vorsichtig – problematischen – Verständnis von Antisemitismus befinden, die solches Wissen in diesem Falle aber bewusst zurückgestellt hat, und selbst der Zentralratschef der Muslime in Deutschland Aiman A. Mazyek, bislang nicht eben bekannt dafür, seine Mitglieder zu öffentlichen Bekundungen, so diese nicht rein muslimische Anliegen haben, auf die Straße zu bewegen, hat sich von Ihrem Wissen (Süskind) beziehungsweise ihren bisherigen Üblichkeiten (…) nicht davon abhalten lassen, zwischen Alexanderplatz und Großem Stern dabei zu sein.
Schien bisher Anlass zu ein bisschen Hoffnung darauf, dass es Sahra Wagenknecht und ihren Mitinitiatoren von „aufstehen“ gelingen könnte, eine wirklich wirkungsmächtige Bewegung zu organisieren, so ist dieser fromme Glaube nun schon wieder perdú. Der hellsichtige Friedrich Küppersbusch hat diesen Vorgang – wie immer – kurz und prägnant auf den Punkt gebracht: „Das war die linke Sammlungsbewegung, aus der die Linke Sammlungsbewegung rechtzeitig ausgetreten ist. #unteilbar feiert, #aufstehen blamiert sich, und nun gilt das schöne Steinmeier-Wort: ‚Heimat liegt in der Zukunft.‘“ Man kann freilich auch eine – zugegeben lockere – Formel bemühen, deren Realitätsgehalt sich schon hinreichend oft bewiesen hat: Die schlimmsten Kritiker der Elche sind selber welche.
Schade.

Heinz W. Konrad

Wir üben heute denunzieren

Die AfD-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft hat im September eine Aktion „Neutrale Schule Hamburg“ ins Leben gerufen. Im Kern handelt es sich um ein online-Portal, mit dem Schülern und Eltern, aber auch wachsamen Kollegen, ein Angebot unterbreitet wird: „Mutmaßliche Verstöße gegen das Neutralitätsgebot können uns vertraulich über das folgende Kontaktformular […] berichtet werden“ (Hervorhebungen AfD-Fraktion – G.H.). Aufgefordert wird, die Namen von Lehrerinnen und Lehrern der Fraktion mitzuteilen – möglichst mit Benennung der „Tatbestände“ –, die im Unterricht irgendetwas äußern, dass sich irgendwie gegen die AfD und die von ihr vertretenen Positionen richten könnte. Man werde die erhaltenen Informationen natürlich strikt vertraulich behandeln. Gegen diese löbliche Aktion erhob sich sofort heftiger Widerstand, der vom Fraktionschef und schulpolitischen Sprecher der hamburgischen AfD, Alexander Wolf, wie folgt beantwortet wurde: „Die geradezu hysterischen Reaktionen zeigen vor allem, wie sehr sich manche Lehrkräfte in ihrem Tun ertappt fühlen. In immer mehr deutschen Schulen herrscht offensichtlich ein repressives Meinungsklima, in dem Andersdenkende sich eingeschüchtert fühlen, mit schlechten Noten oder sogar Mobbing rechnen müssen. Kritische Äußerungen zu Themen wie Einwanderungspolitik, Angela Merkel, Islam, Klimapolitik, EU oder Gender werden häufig nicht zugelassen. Junge Menschen werden darauf getrimmt, eine Politik, die ihre Zukunft in höchste Gefahr bringt, kritiklos gut und richtig zu finden. Das Onlineportal ‚Neutrale Schulen Hamburg‘ bildet ein Gegenwicht zu jenen Lehrern, die als Politaktivisten auftreten und ihre links-grüne Vielfaltsideologie ohne jede pädagogische Rücksicht in die Köpfe ihnen anvertrauter junger Menschen hämmern. Wir werden uns nun die nötige Zeit nehmen, alle eingegangenen Nachrichten genauestens auszuwerten.“
Es sei an dieser Stelle allen Kritikastern und Nörglern nachdrücklichst gesagt: Der Volksgenosse Wolf hat Recht! Es ist überhaupt nicht zu verstehen, weshalb sich diese linksgrünversifften Kinderverderber so aufregen: Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir, hieß es in der guten alten Zeit der „Feuerzangenbowle“! An welch anderem Ort als in der Schule können denn die künftigen Blockwarte besser ausgebildet werden? Anstatt im Deutschunterricht die ewig gleichen Bewerbungsschreiben zu trainieren, auf die die Kinderlein ja eh nur Ablehnungen erfahren, sollte verpflichtend das Thema „Wie schreibe ich eine vertrauliche Anzeige?“ behandelt werden. Es ist gut, dass Baden-Württemberg, Sachsen, Brandenburg und nun endlich auch Berlin, diese Hauptstadt der undeutschen Dekadenz, dem hamburgischen Beispiel folgen werden. Vorbereitet sein ist alles!

Günter Hayn

Letzter sein, ein leider unerfüllbarer Traum

Jüngst informierte eine Sonderausgabe des Manager Magazins wieder mal über die reichsten Deutschen. An der Spitze schon traditionell die Geschwister Quandt (BMW) mit zusammen 34 Milliarden Euro, deren Vater die Fundamente dafür im Dritten Reich gelegt hatte. (Merke: Hinter jedem großen Vermögen steht ein großes Verbrechen.) Doch man ist ja so bescheiden: Letzter sein auf der Liste der 1001 Reichsten im Lande würde doch völlig genügen!
Klaus Meine, Matthias Jabs und Rudolf Schenker immerhin haben’s geschafft. Ihr Vermögen: 90 Millionen Euro. Sie kennen die Herren nicht?
Da summen wir halt nur mal leise „Wind of Change“ …

AM

Nur ein Wort

Mir passiert das immer wieder. Ich laufe inmitten vieler Menschen und ausgerechnet ich werde dann angehalten und nach dem Weg gefragt. Ich muss einen völlig falschen Eindruck vermitteln, denn meine Kenntnisse von Gegend und Straßen, ja von Richtungen im Allgemeinen halten sich sehr in Grenzen. So gebe ich unbeabsichtigt auch falsche Hinweise … In jüngster Zeit wurde ich gleich mehrfach nach einer Adresse in der Storkower Straße befragt. Hm, wer kennt schon Hausnummern in einer kilometerlangen Straße. Also frage ich zurück und bekomme zunächst eher verschwommene Antworten. Eine Institution in der Nähe des S-Bahnhofs zum Beispiel. Inzwischen weiß ich, es handelt sich um das Jobcenter. Auf Nachfrage wird das sehr verlegen bestätigt. In diesem Fall kann ich mit einem richtigen Hinweis aufwarten. Aber mich stört der Gedanke sehr, dass Menschen, die gezwungen sind, zum Jobcenter zu gehen, sich sogar genieren, direkt nach dem Weg dorthin zu fragen, das Wort Jobcenter zu nutzen. Was für ein Klima herrscht in unserer Gesellschaft, welch ein Stigma liegt auf den Leuten … Das Wort vom „Fordern und Fördern“ klingt in dieser Realität wie ein Hohn.
Ich wünschte Zorn, würde die Verlegenheit ablösen…

mvh

Nicht verpassen

Die Punkrock-Band „Feine Sahne Fischfilet“ aus Mecklenburg-Vorpommern war bislang eigentlich nur ihren Fans, dem Verfassungsschutz und ihren politischen Gegnern, den Nazis aus dem Norden, bekannt. Geändert hatte sich das am 3. September, als die Gruppe in Chemnitz im Rahmen der Aktion „Wir sind mehr“ mit vielen anderen gegen den Versuch Front machte, die Stadt seitens der sächsischen Naziszene gleichsam zur „national befreiten Zone“ zu konditionieren. Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warb auf seiner facebook-Seite für dieses Konzert. Am 6. November wollte das ZDF – der Sender ist nun nicht gerade linkslastig … – im Rahmen seiner Reihe zdf@bauhaus ein Konzert von „Feine Sahne Fischfilet“ im Dessauer Bauhaus aufzeichnen. Auf Druck der sachsen-anhaltischen CDU und der dortigen AfD untersagte die Stiftung Bauhaus Dessau dieses Konzert. Man habe „von seinem Hausrecht Gebrauch gemacht“, ließ sie verlauten. Vorsitzender der Dessauer Bauhaus-Stiftung ist Kultusminister Rainer Robra (CDU). Inzwischen machte auch das Anhaltische Theater Dessau seinen Kotau vor der rechten Connection und erklärte vorauseilend unterwürfig, dass es als Veranstaltungsort nicht zur Verfügung stehe.
Am 19. Oktober teilte „Feine Sahne Fischfilet“ auf ihrer facebook-Seite mit: „[…] Es geht hier überhaupt nicht darum, ob man unsere Musik feiert, ob man das feiert was wir machen oder es toll findet, wie wir sind. Vielmehr geht es darum, dass mit solchen Sachen immer weitere Dammbrüche entstehen. Schon jetzt werden in Sachsen-Anhalt so tolle Vereine wie der Miteinander e.V in der gleichen Weise von diesen rechten AkteurInnen angegangen. Wenn man so etwas unwidersprochen lässt, kann man sich schon mal auf die Zukunft freuen und warm anziehen. […] Wir werden am 6.11. in Dessau sein. Wir holen da jetzt nicht U2 nach Dessau oder so’n Quark. Wir ziehen einfach unser Ding durch und werden uns von diesen Erbärmlichkeiten nicht einschüchtern lassen. An all die coolen Menschen aus Sachsen-Anhalt: Haltet euch den Termin frei! Versprochen ist versprochen, da kann die CDU, die AFD und die ganzen Jennys aus Köthen kotzen wie sie wollen… Am 6.11. sehen wir uns in Dessau!“
Ich meine, wer auch immer es ermöglichen kann, sollte am 6. November nach Dessau fahren. Oder zumindest der Bauhaus-Stiftung und der Dessauer Theater-Intendanz mitteilen, was man von deren Vorgehen hält. Die Stadt wirbt derzeit für das 27. Kurt-Weill-Fest im März 2019. Es steht unter dem Motto „Mut zur Erneuerung“ …

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Unser Querbeet-Gärtner Reinhard Wengierek war des Lobes voll: „ein Maßstäbe setzendes Ereignis, mit dem sich die spektakulär ideenreiche Off-Oper Neukölln zum wiederholten Mal als Erstligist der Branche positioniert“, schloss er vor über einem Jahr seine Besprechung der Uraufführung von Wolfgang Böhmers und Peter Lunds Musical „Stella. Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“. Dem ist nichts hinzuzufügen – außer dem Freudenausbruch des Redakteurs, als die Einladung zur Wiederaufnahmepremiere in der Post lag. Die großartige Frederike Haas sollten Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen!
Neuköllner Oper Berlin, wieder am 27., 28., 30. Oktober sowie am 2. und 4. November 2018.

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2017 erschien das Buch „Rechtsruck im 21. Jahrhundert“ des Psychoanalytikers Andreas Peglau. Der Autor unternimmt darin den Versuch, die Befunde von Wilhelm Reich (1897-1957) für die Analyse aktueller Faschismus- und Rechtsextremismusentwicklungen anzuwenden. Der Band wurde jetzt als Hörbuch produziert. Die Grundthese des Autoren: Ohne die Antworten Reichs „endlich ebenfalls zu berücksichtigen, dürfte es weder eine Chance geben, die internationale ‚braune Renaissance‘ zu verstehen noch ihr wirkungsvoll entgegenzutreten“. Peglaus Text wurde von den Schauspielern Sabine Falkenberg und Thomas Nicolai eingelesen. Das Hörbuch kann im Internet entgeltfrei angehört und heruntergeladen werden.

Wolfgang Brauer

Schöner Herbst

Das ist ein sündhaft blauer Tag! Die Luft ist klar und kalt und windig, weiß Gott: ein Vormittag, so find ich, wie man ihn oft erleben mag. Das ist ein sündhaft blauer Tag! Jetzt schlägt das Meer mit voller Welle gewiß an eben diese Stelle, wo dunnemals der Kurgast lag. Ich hocke in der großen Stadt: und siehe, durchs Mansardenfenster bedräuen mich die Luftgespenster … Und ich bin müde, satt und matt. Dumpf stöhnend lieg ich auf dem Bett. Am Strand war es im Herbst viel schöner … Ein Stimmungsbild, zwei Fölljetöner und eine alte Operett! Wenn ich nun aber nicht mehr mag! Schon kratzt die Feder auf dem Bogen – das Geld hat manches schon verbogen … Das ist ein sündhaft blauer Tag!

Kurt Tucholsky

Bewegte Zeiten

Wenn archäologische Funde in Ausstellungen präsentiert werden, dann üblicherweise nach dem klassischen Schema: in chronologischer oder örtlicher Reihenfolge sortiert. Dass man Artefakte jedoch auch völlig anders gruppieren kann, ist derzeit im Berliner Gropius Bau zu besichtigen, wo die herausragendsten archäologischen Neuentdeckungen der letzten 20 Jahre in deutschem Boden zusammengeführt wurden: 2000 Objekte aus 300.000 Jahren – darunter die „Himmelsscheibe von Nebra“, die „Venus vom Hohle Fels“ sowie der „Berliner Goldhut“, der allerdings, wahrscheinlich aus einer Raubgrabung, Fundort unbekannt, stammend, im Kunsthandel entdeckt und 1996 aus diesem für das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte erworben wurde. Es ist die dritte Leistungsschau der deutschen Archäologie – nach Bonn (1975) und Berlin (2003).
Kurator Matthias Wemdorf, der Landesarchäologe im Bundesland Berlin, entschied sich für eine inhaltliche Schwerpunktsetzung mit den thematischen Koordinaten „Mobilität“, „Austausch“, „Konflikt“ und „Innovation“, wodurch die Ausstellung eine so kaum erwartete Aktualität gewinnt – gerade in einer Zeit, in der ein überkommen geglaubter engstirniger Nationalismus und aufgesetztes völkisches Brauchtum wieder schaurige Urständ zu feiern scheinen. Zeigt die Exposition doch, wie sehr einzelne Partien des heutigen Deutschlands, die sich nie so recht zusammengehörig fühlten und erst 1871 von oben zwangsvereinigt wurden, schon immer mit europäischen Nachbarn und zum Teil geografisch und ethnisch weit über diese hinaus, bis nach Asien und in die heutige Mittelostregion, verschwistert und verbunden waren.
In der Abteilung „Konflikte“ berichtet die Ausstellung unter anderem von einer der frühesten Schlachten im Mitteleuropa, ja der Menschheitsgeschichte überhaupt. Sie fand 1300 Jahre vor Christus zwischen, so die archäologischen Befunde, mehr als 2000 Kriegern an der Tollense, einem Flüsschen in Mecklenburg-Vorpommern, statt. Die Hintergründe liegen noch völlig im Dunklen …
Das gilt für den Dreißigjährigen Krieg allerdings nicht. Umso bedauerlicher ist es, dass „Bewegte Zeiten“ eines der spektakulärsten Großobjekte der jüngsten Archäologie nicht zeigt – das 2011 entdeckte unversehrte Sammelgrab von 47 gefallenen Soldaten aus der Schlacht bei Lützen am 16. November 1632 zwischen einem von Wallenstein geführten deutschen Heer und einem schwedischen unter König Gustav II. Adolf, der dabei fiel. Das meisterlich aufbereitete Exponat war 2016 die Sensation der Ausstellung „Krieg. Eine archäologische Spurensuche“, Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale).

Hans-Peter Götz

„Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“ – noch bis 6. Januar 2019; Gropius Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin, Mittwoch bis Montag: 10:00 bis 19:00 Uhr; Katalog.

Das Kreuz mit der Satire

Ignaz Wrobel, den Kurt Tucholsky bemühte, wenn es um ernste Dinge ging, die auch eine gewisse Verbissenheit verlangten, schrieb in der Weltbühne Nr. 12/1929 über einen Künstler, dem Berlin dieser Tage eine große Ausstellung widmet: George Grosz. Der berühmte gesellschaftskritische Karikaturist hatte 1928 die Zeichnung „Christus am Kreuz mit Gasmaske“ veröffentlicht. In der Zeit der deutschen Wiederbewaffnung schrieb er darunter „Maul halten und weiterdienen“. Das wurde ihm unter § 166 als Gotteslästerung ausgelegt. Wrobel schrieb anlässlich des Prozesses: „Denn eine Landeskirche, die im Kriege so jämmerlich versagt hat, die die Jugend eines ganzen Landes in das Schlachten hineinsegnete; eine Kirche, die kein Wort gegen den Staatsmord fand, sondern ihn im Gegenteil noch propagierte: eine solche Institution hat allen Anlaß, still zu schweigen, wenn aufgezeigt werden soll, wer hier schändet.“
Tucholsky selbst, aber auch Kunstschaffende wie Walter Hasenclever, Kurt Weill und Frans Masereel mussten sich in jenen Jahren wegen des § 166 verantworten. Künstlerische Überhöhung und Satire wollten nicht verstanden oder zumindest nicht als solche gewürdigt werden. Dass es auch zahlreiche Freisprüche nach einem Instanzendurchlauf gab, soll nicht verschwiegen werden. „Was darf Satire? Alles“, wird Tucholsky oft verkürzend zitiert. Er hat aber auch eine Grenze nach oben, „Buddha“, und eine Grenze nach unten gezogen – „die herrschenden faschistischen Mächte“.
Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft wurde vor 30 Jahren in Weiler im Allgäu gegründet – übrigens von Tucholsky-Anhängern aus der BRD, der DDR und der Schweiz – und nahm die Jubiläumstagung in Leipzig zum Anlass, das Kreuz mit der Satire zu diskutieren. Peter Panter lieferte das Motto „Dürfen darf man alles“. („Man muß es nur können“ war seine Ergänzung.) Die Aktualität der Auseinandersetzung bewies der viel diskutierte (und noch nicht ausgestandene) Fall Böhmermann. Dass der TV-Moderator ein Schmähgedicht auf Erdogan vortrug, war einerseits durch die Reimform als „Kunst“ anzusehen, andererseits aber wohl von der Meinungsfreiheit gedeckt, erläuterte der Leipziger Rechtsprofessor Dr. Kurt Faßbender auf der Tagung, auf der auch Studierende der Germanistik zu Wort kamen. Sie untersuchten satirische Wirkungslinien Tucholskys, die in die Gegenwart führten und überraschten das Auditorium mit der Erkenntnis, der geistigen Verwandtschaft von Theobald Tiger und Rainald Grebe. Tiger-Tucholsky hatte 1922 das Couplet „Raffke“ über einen neureichen Kleinbürger mit den Zeilen „Und macht ihrs doll – ick mache immer Dollar! Ick knie mir rin, ick knie mir richtig rin!“ im gleichen Impetus geschrieben wie der Kabarettist unserer Tage, der in dem Lied „Oben“ über den unverhofften Ruhm eines Kleinkünstlers selbstironisch formulierte: „Oben, / Ich bin oben. / Ist das schön. Von oben, / Runter zu sehn.“
Tucholskys Verbindung zum Tagungsort Leipzig ist relativ gering. Soweit bekannt, war er nur einmal, am 29.11.1929, zu einer Lesung hier. Eine Aufführung seines einzigen Theaterstücks „Christoph Kolumbus“, das er zusammen mit Walter Hasenclever geschrieben hatte und im September 1932 im Leipziger Schauspielhaus uraufgeführt wurde, hat er wohl nicht besucht. Zuvor fand im November 1931 im Reichsgericht zu Leipzig der Weltbühne-Prozess statt, von dem er sich aus der Ferne unterrichten ließ, und der Carl v. Ossietzky 18 Monate Haft brachte. Tucholsky war bei den Rechten damals schon so verhasst, dass er um seine Gesundheit fürchten musste. An diesen spektakulären Prozess, der einen beispiellosen Angriff auf die Pressefreiheit darstellte, erinnert im heutigen Bundesverwaltungsgericht, das ansonsten auf Tradition hält, nichts mehr. Darüber hätte sich Tucholsky nicht gewundert!

F.-B. Habel

Im Angebot

Die Bayern-Wahl ist vorbei, nun lebe jene in Hessen. Das Blättchen bietet hiermit – gegen eine faire Gebühr, dafür aber mit Erfolgsgarantie – den beteiligten Parteien die fix-und-fertigen Reaktionen ihrer Repräsenonkel und -tanten vor den Ende der Woche wieder entsicherten Kameras und Mikrophonen an:
CDU: Wir sind nicht zufrieden mit dem Wahlergebnis, die CDU ist aber vom Wähler als mit Abstand klarer Sieger mit der Regierungsbildung betraut worden. Jetzt müssen wir sehr genau hinschauen und das Ergebnis in den Gremien analysieren.
SPD: Wir sind sehr enttäuscht vom Wahlergebnis. Es ist uns offenbar nicht gelungen mehr Wähler von unserer Politik zu überzeugen. Jetzt müssen wir sehr genau hinschauen und das Ergebnis in den Gremien analysieren.
Grüne: Unser Höhenflug hat nach Bayern auch in Hessen seine Fortsetzung gefunden. Wir danken für das Wählervertrauen und werden nun noch mehr! Jetzt müssen wir noch genauer hinschauen und das Ergebnis in den Gremien analysieren.
FDP: Jetzt müssen wir sehr genau hinschauen und das Ergebnis in den Gremien analysieren.
AfD: Wieder ein großer Erfolg, wenn man den Gegenwind der Systempresse bedenkt. Jetzt müssen wir sehr genau hinschauen und das Ergebnis in den Gremien analysieren.
Linkspartei: Unser Trend zeigt in jedem Fall aufwärts. Jetzt müssen wir sehr genau hinschauen und das Ergebnis in den Gremien analysieren.

hwk

Aus anderen Quellen

„Allein in den letzten 15 Jahren“, erklärte Rainer Mausfeld in einem Vortrag bereits 2015, „wurden vier Millionen Muslime durch ‚uns‘, also durch die ‚westliche Wertegemeinschaft‘, getötet, um so den Terrorismus in der Welt auszurotten. Dies steht in einer langen geschichtlichen Kontinuität der ‚westlichen Wertegemeinschaft‘ […]“, werde aber in der breiten Öffentlichkeit des Westens dank entsprechendem Wirken staatlicher Politik und der Mehrzahl der Medien praktisch kaum wahrgenommen. Mausfeld zu den Ursachen: „Es bedarf in der medialen Darstellung dieser Verbrechen einer beträchtlichen Fragmentierung und einer radikalen Re-Kontextualisierung als ‚Kampf für Demokratie und Menschenrechte‘, damit Verbrechen dieser Größenordnung sowie ihre geschichtliche Kontinuität für die Öffentlichkeit nahezu unsichtbar werden.“
Rainer Mausfeld: „Warum schweigen die Lämmer?“. Demokratie, Psychologie und Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements. Vortrag an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 22. Juni 2015. Zum Volltext hier klicken.

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„Glaubt man Putins persönlichem Berater Wladislaw Surkow“, schreibt Hélène Richard, „so bedeutete die Krim-Annexion für Russland ‚den Abschluss seiner epischen Reise gen Westen, das Ende seiner vielen vergeblichen Versuche, in die westliche Zivilisation aufgenommen zu werden, in die ,gute Familie‘ der europäischen Völker einzuheiraten‘. Das heutige Russland hat seine ‚geopolitische Einsamkeit‘ angenommen.“
Hélène Richard: Als Moskau von Europa träumte, Le Monde diplomatique, 13.09.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Wie ein roter Faden“ ziehe sich, so Mathias Kolb in seiner Rezension, „die Beratungsresistenz des 45. US-Präsidenten“ durch Bob Woodwards, des einstigen Watergate-Mitenthüllers, jüngstes 500-Seiten-Opus „Fear. Trump in the White House“, das gerade auch auf Deutsch erschienen ist. Den Titel habe Woodward „einem Interview entnommen, das er im März 2016 mit Trump für die Washington Post führte: ‚Wirkliche Macht ist – ich möchte dieses Wort eigentlich gar nicht benutzen – Furcht.‘“ Kolbs Besprechung liefert eine geeignete Einstimmung auf die Lektüre des Buches.
Mathias Kolb: Mehr als 500 Seiten über die Furcht vor dem Egozentriker, sueddeutsche.de, 08.10.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Die entscheidende Frage ist […] nicht“, meint Ivan Krastev, „wo der Nationalismus unserer Tage herkommt. Sie lautet vielmehr, wo er sich all die Jahre zuvor versteckt hat. Was hat es mit dem Ethnonationalismus auf sich, der die Wähler seit einiger Zeit mobilisiert, während er sie früher nicht angesprochen hat? Reicht es hin, auf die Auswirkungen der Finanzkrise in den Jahren nach 2008 zu verweisen? Auf den zusätzlichen Schock, den die Flüchtlingskrise ausgelöst hat? Oder gibt es eine andere, weniger offensichtliche Erklärung?“
Ivan Krastev: Wie Zentraleuropa auf den Orbán kam, Le Monde diplomatique, 13.09.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Die westlichen Regierungen und Medien und natürlich Kiew selbst“, resümiert Thomas Röper, „sprachen im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die künftigen Gaslieferungen an die Ukraine regelmäßig davon, Russland würde Gas als Waffe einsetzen oder zumindest als Druckmittel. Man kann das unterstellen, aber dann sollte man auch Fälle aufzeigen, in denen Russland trotz pünktlicher und vertragsgemäßer Zahlungen mit Lieferstopp gedroht hätte. Solche Fälle hat es jedoch nie gegeben. Russland hat schließlich auch ein Interesse, die Ware Gas für Geld zu verkaufen und ist auf die Einnahmen angewiesen.“
Thomas Röper: Der Gas-Streit. Die Vorwürfe, Russland würde die Energieversorgung als politisches Druckmittel gegen Europa einsetzen, sind verlogen, Rubikon, 04.10.2018. Zum Volltext hier klicken.