20. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal ein Todesengel, eine Wahnsinnsliebe und der Abgesang eines Kritiker-Papstes…

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Stella ist jung, schön, blond, begabt und lebensgierig – scharf auf Männer, scharf auf eine Karriere als Show-Star in Amerika. Doch sexy Stella, Künstlerkind aus Berlin, gerade 20, ist Jüdin – in Hitlers Großreich. Längst rollen massenhaft Deportationen. Aber bislang ging der Kelch an ihr vorüber. Dann der Schlag: die Anordnung, Berlin „endlich judenrein“ zu machen. Also ab in den Untergrund – wie 8000 Berliner Juden auch. Für Stella Goldschlag die letzte Chance, der „Endlösung“ zu entgehen. Aber sie wird erwischt. Und erpresst, für die Gestapo zu arbeiten als „Greiferin“, die versteckte Juden aufspürt und anzeigt. Das so berüchtigte wie glamouröse „blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“ enttarnte mehr als 300 untergetauchte Juden – und gab sie somit frei für den Transport in den Tod. – Die Goldschlag überlebte, wurde nach dem Krieg von den Sowjets zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, ging danach in den Westen, wurde auch dort vor Gericht gestellt, wandelt sich von einer reuigen Sünderin zur hartnäckigen Leugnerin ihrer Verbrechen, beantragt Entschädigung als NS-Opfer, konvertiert zum Christentum, heiratet in dritter Ehe einen Alt-Nazi, bekennt sich als Antisemitin. 1994 begeht sie Selbstmord; mit 72 Jahren.
Was für eine schockierende Geschichte aus Kraft, Glanz, Liebeslust, Rohheit, Verrat, Verkommenheit, existenzieller Angst und grausamem Kalkül. Der Librettist Peter Lund und der Komponist Wolfgang Böhmer haben aus dieser gespenstisch ambivalenten Biografie für das Novitäten-Labor der Berliner Off-Musiktheaterszene „Neuköllner Oper“ ein „deutsches Singspiel“ geformt: „Stella“. Schauerlich spannend, gefühlvoll, doch frei von falschem Sentiment; aufklärerisch, aber frei von Agitation mit dem Zeigefinger. Dennoch bohrt immerzu unausgesprochen die Frage ins Publikum: Was wir wohl hätten getan, geht es auf Leben oder Tod.
„Stella“, das ist souveränes Spiel mit dem poetisch-sarkastischen, pointenstarken Script, den Formen des musikalischen Entertainments der Vorkriegszeit, dem Horror des NS-Alltags. „Stella“ – ein raffiniert kalkuliertes Gemisch aus Revue, Musical, Historical, dramatischen Spielszenen, opernhaften Momenten; ein Geniestreich des musikalischen Theaters. Alles das, das Komische, Glänzende, das Schockierende, Grausame, Elende, Tragische kommt leicht und nicht etwa angestrengt, schwerfällig, anklägerisch daher – vor allem auch aufgrund der temporeichen, überaus präzisen Regie von Martin Berger im ingeniösen Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl: Ein verspiegelter Riesenkasten, eine stets einsehbare Art Labyrinth mit Projektionsflächen für signifikante Video-Sequenzen.
Freilich: Im Mittelpunkt steht Friederike Haas als kriminelle, überlebenstolle, verführerische Stella – monströse Täterin, glitzernde Lady, elendes Opfer. Ein himmlisch-höllischer Stern, umschwirrt von einem gleichermaßen hinreißenden, in vielerlei Figuren schlüpfendes Herren-Ensemble. „Stella“ – ein Maßstäbe setzendes Ereignis, mit dem sich die spektakulär ideenreiche Off-Oper Neukölln zum wiederholten Mal als Erstligist der Branche positioniert.

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Was soll man da sagen: Eine Stiefmutter, die verrückt ist nach dem Stiefsohn … Kommt vor, ist aber verboten. Doch das Unerlaubte kitzelt besonders, heute wie einst, als Euripides seine Tragödie „Der bekränzte Hippolytes“ schrieb, die etwas später der französische Klassizist Jean Racine auf seine Art, nämlich in hohem Ton und steiler Verssprache, überschrieb. – Neuer Titel: „Phädra“; Uraufführung 1677 in Paris.
Ein gutes Jahrhundert später übersetzte Friedrich Schiller das wegen seiner raffiniert gedrechselten Sprache als unübersetzbar geltende Werk seines französischen Kollegen und formte 1806 aus dessen gereimten Alexandrinern reimlose Blankverse – gleichfalls ein wuchtiges, wie in Marmor gemeißeltes Sprachkunstwerk.
Das Stück – jetzt am Deutschen Theater zu besichtigen – steht in mehrfacher Hinsicht unter Höchstspannung: Nämlich die zwischen der strengen Form der Sprache und der darin verhandelten Gefühlsraserei. Und die wiederum gibt es gleich zwiefach. Einerseits die verbotene Liebe der königlichen Phädra (Corinna Harfouch) zu ihrem Stiefsohn Hippolyt (Alexander Khuon), die dieser, ein Spross aus Vaters erster Ehe, nicht erwidert, weil er schwer verliebt ist in Aricia (Linn Reusse), eine Staatsgefangene aus dem feindlichen Geschlecht der Pallantiden. Doppelt vertrackte, unmögliche Liebes-Lage: Sie vermag nichts weniger als die Staatsraison zu untergraben.
Das bislang von Stiefsohn und Stiefmutter qualvoll unterm Deckel gehaltene „Wahnsinnstoben einer Liebesglut“ explodiert, als die Nachricht vom Kriegstod des Königs, Vaters, Ehegatten (Bernd Stempel) eintrifft und Phädra nunmehr dem Hippolyt voll seliger Verzweiflung ihre Liebe offenbart, derweil Hippolyt gegenüber Aricia das gleiche tut, was sie glücklich macht – im Gegensatz zu Phädra.
Doch Fake-News: Der kriegerische Chef ist nicht tot, kehrt heim, die familiäre Disziplin wird zwanghaft wieder hergestellt – durch Beschweigen der „Probleme“. Die freilich weiter ungelöst bleiben, bleiben müssen (die Moral – das Sexuelle; die Politik – das Kontaktverbot zum feindlichen Kriegslager). Ausweglose Lage. Das Drama endet tragisch: im Suizid von Phädra und Hippolyt.
Was für ein Extrem-Konstrukt aus Leidenschaft, Hingabe, Schuld, Lüge, Moral! Besonders interessant dabei die zwielichtige Rolle der Phädra-Vertrauten Oenone (Kathleen Morgeneyer), die wohl auch verliebt ist in ihre Herrin und sie – nicht frei von Eifersucht, aber auch um der „Ordnung“ willen – schamlos zur Lüge verführt. Sie soll ihrem heimgekehrten Gatten frech erklären, Hippolyt sei es, der ihr derart unerlaubt nachstellt.
So zugespitzt, so fremd und fern die Story im Einzelnen auf den ersten Blick auch scheint, so ist sie doch allgemeinmenschlich. Zugleich jedoch ist das exzessive Menscheln in eine artifizielle Form gegossen, vor allem eben durch Sprache – der „edle Ton“, der schon Schiller und noch dazu Lessing kritisch dreinschauen ließ und irritierte, aber auch faszinierte.
Für den unauflöslichen Widerspruch zwischen Herz und Kopf gelang Regisseur Stephan Kimmig ein inszenatorischer Coup: Er versetzt das ganze cool geformte Heiße in ein Labor (die Szene eine Art grellweiße Gummizelle) zur Beobachtung und Analyse menschlicher Affekte. Zunächst bekommt ein jeder der fünf Akte via Video ganz sachlich eine Überschrift. „Kapitel eins: Out of Order“; dann weiter die Kapitel „Freiheit“, „Gesetz“, „Chaos“, „Tod“. Und quasi als Vorspann, Vorwort, Motto der Demonstration des Experiments über Macht wie Ohnmacht exzentrischer oder eben unlebbarer Gefühle ein Spinoza-Zitat, projiziert auf die Labor-Wand: „Unter Affekten verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird.“
Dementsprechend unterschiedlich ist denn auch das Spiel der, sagen wir, Probanden: Pathetisch erstarrte Posen wechseln mit gellenden Ausbrüchen, mit eisiger Beherrschung, angstschlotternder Nervosität, aufgesetztem Gleichmut, Raserei und Tobsuchtsanfällen. Die Balance gelingt überwiegend.
Köstlich und zugleich erhellend: Das feinnervige Changieren zwischen ironischer Distanz, Komik, heiligem Ernst, Pathos. Da gibt es viele starke Momente in diesem Menschen-Chaos, entfacht vom Terror der Triebe, der Begierden, der Glückssehnsucht und unauflöslich eingefasst vom Terror der Ratio. Schiller hätte die nicht unbedingt jedermann packende, aber doch für jeden mit sensiblen Sinnen höchst interessante, auch bizarre Sache wohl amüsiert durchgewinkt; Lessing eher nicht.

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Er nannte Regisseure schließlich meist nur noch verachtungsvoll „Spielvögte“. Weil sie nur das auf die Bühne brächten, was ihnen just so durch die Rübe rauscht. Also nicht das, was die Autoren, sonderlich die klassischen, im Kopf hatten und zu Papier brachten. Die Rede ist von Gerhard Stadelmaier, kürzlich pensionierter Theaterkritiker der FAZ.
Doch der aus Schwaben stammende Mann konnte auch lieben und anbeten: beispielsweise die Regisseure Luc Bondy, Michael Grüber, Peter Stein oder Andrea Breth. Auch den radikalen Stücke-Eindampfer Michael Thalheimer goutierte er erstaunlicherweise. Ansonsten waren ihm die Stückezertrümmerer, Fremdtextverfüller, Postdramatiker und Performer ein Gräuel. Das waren ihm diejenigen, die das Theater abschaffen. Die verhöhnte, ja bekämpfte GSt. nach allen Regeln der journalistisch-poetischen Kunst. Er hasste den Performer-Zirkus, das Diskursgeplapper und Projektgemache. Aber so manche treffliche neue Form und Spielweise tat er vorschnell ab als Modegeschrei.
Andererseits feierte er auf den Knien seines für die „wahre“ Kunst lodernden Herzens das große schöne, hinreißend seligmachende, psychologisch-realistische Einfühlungs-Menschengeschichtentheater. Er vermochte tiefer als viele Kollegen in die Seele der Schauspieler und ins Geheimnisumwitterte ihres Könnens oder Fehlens zu schauen. Er wusste um das Wesen der Kunst.
Aus der erinnernden Wut heraus hat er ein Pamphlet gegen die Verlotterung der Theaterkunst-Sitten geschrieben. Wuchtig schimpfend, wuchtig witzelnd. Eine Abrechnung. Brillante Polemik – passende Lektüre zu Saisonbeginn! Es geht gegen die „große Betrügerin Aktualität“, gegen das „Auskotzen der Gegenwärtigkeit“ und gegen die „Dealer des Augenblicks“. Und gegen die Versetzung der großen, himmlischen, höllischen Shakespeare-Figuren aufs Wohnküchensofa der Hempels. Da schäumt es geistreich und böse und auch bitter in diesem mit „Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeists“ betitelten Abschiedsbüchlein eines lange Zeit die öffentliche Meinung dominierenden Theaterkritikers. Mittlerweile aber gibt es (das Internet!) keine Meinungsführerschaft mehr in diesem Gewerbe. Kritikerpäpste haben ausgespielt. Doch Stadelmaiers Abgesang auf seine Branche, auf seinen Beruf berührt ‑ und befremdet. Da stöhnt ein zärtlich und streng Liebender mit gebrochenem Herzen. Unsereins stöhnt – gelegentlich – mit ihm.

Gerhard Stadelmaier: Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeists. Zu Klampen Verlag, Springe 2016, 134 Seiten, 16 Euro.