26. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2023

Dysfunktionale Fehlerdebatte

von Sarcasticus

Im Mai 1922 begann der Kuschelkurs
der deutschen Sozialdemokratie
mit Russlands Gewaltherrschern.

DIE WELT, 3. Mai 2022

 

Man kann die Frage, ob auch der Westen vor dem Ukraine-Krieg Fehler gemacht habe und daher eine Mitschuld trage, natürlich auch so beantworten wie Amy Gutmann, US-Botschafterin in Deutschland, Mitte Dezember auf einer Podiumsveranstaltung im Alliiertenmuseum in Berlin-Dahlem: „Es gibt nur einen einzigen politischen Anführer, der für diesen Krieg verantwortlich ist: Putin.“

Das ist gewiss ein tragfähiger Ausgangspunkt dafür, Moskau dauerhaft zum Paria zu stempeln, mit dem sich der Umgang quasi von selbst verbietet. Allerdings liegt auf der Hand, dass damit zugleich die (bereits angelaufene) Herausbildung eines neuen Ostblocks – dieses Mal unter Pekinger Führung – samt nächstem Ost-West-Konflikt und weiteren Jahrzehnten im besten Falle kalten Krieges quasi als Kollateralschaden in Kauf zu nehmen wären. Wie auf diese Weise deutschen und europäischen Sicherheitsinteressen gedient werden sollte, erschließt sich mir auch auf den zweiten Blick nicht.

Für einen differenzierteren Ansatz, der sich von empirischer Vernunft leiten lässt, plädierte kürzlich Altbundeskanzlerin Angela Merkel: „Ich finde es wichtig, dass wir uns fragen, wie Weltgeschichte funktioniert. Nach welchen Gesetzen. Sonst machen wir immer dieselben Fehler.“

Doch von einer solchen Herangehensweise ist in der seit Februar 2014 deutlich intensivierten Debatte über Sicherheitspolitik und die künftige internationale Rolle Deutschlands – mit Beiträgen von Politikern und Experten fast aller Couleur sowie ständig in den Leitmedien – praktisch nichts zu spüren. Wobei an identifizierten Fehlern deutscher Russlandpolitik, in Sonderheit jener der SPD, allerdings kein Mangel besteht:

  • Was den Ukraine-Krieg anbetrifft, so ist für den exilierten russischen Schriftsteller Viktor Jerofejew in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Sache völlig klar: „Trägt es [Deutschland – S.] eine gewisse Schuld an diesem Krieg? Zweifellos. […] Deutschland übersah völlig die blutige Bedrohung aus dem Osten.“
    Gegenfrage: Ab wann hätte Berlin diese Bedrohung denn handlungsleitend in den Blick nehmen sollen? Womöglich schon ab Mitte der 1990er Jahre, als der russischen Präsident Boris Jelzin gegenüber seinem Counterpart Bill Clinton wiederholt und ebenso nachdrücklich wie vergeblich gegen die erste NATO-Osterweiterung protestierte? Und nicht minder erfolglos bei seinem Saunafreund Helmut Kohl …
  • Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ist – laut Handelsblatt – „wütend auf sich, die Gefahr durch Kremlchef Wladimir Putin unterschätzt zu haben“.
    Gegenfrage: Wann hätte ihm sein persönlicher Seifensieder denn aufgehen müssen? Vielleicht 2001, als Moskau die einseitige Aufkündigung des ABM-Vertrages zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme durch die USA nicht feierte („mit der Auflösung des Vertrags wird […] der Kalte Krieg auch formell beendet“, FAZ, 14.12.2001), sondern vor den Folgen warnte?
  • Mit den Eigentümlichkeiten der dezidierten Fehleranalyse des SPD-Kovorsitzenden Lars Klingbeil, für den die Brandt-Bahrsche Ostpolitik – von jetzt aus betrachtet – mit dem Unterlassungsfehler behaftet war, „zivilgesellschaftliche Gruppen, wie etwa die Solidarność in Polen, nicht in ihrem Kampf gegen die repressiven Regime“ zu unterstützen, habe ich mich bereits ausführlich auseinandergesetzt; siehe „Klingbeils Denkfehler“, Blättchen 23/2022.
  • Für andere ist die Zeit überreif für eine Generalabrechnung mit der SPD: „Nach Schröders Abwahl 2005 stieg Steinmeier in Angela Merkels erster großer Koalition zum Chefdiplomaten auf, während der Ex-Kkanzler keine drei Wochen nach der Amtsübergabe als Aufsichtsratschef einer Gazprom-Tochter in bezahlte Dienste Putins trat. Parallel richtete Steinmeier die deutsche Außenpolitik auf Moskau aus. Seither ist die gute Verbindung der SPD zum Kreml sprichwörtlich.“ (DIE WELT, 03.05.2022).
    Hier keine Gegenfrage, denn an dem sehr frühen historische Zeitpunkt, ab dem die SPD dem Verhängnis die Hand gereicht hat, besteht für die Springer-Gazette kein Zweifel: 1922, als der damalige Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) den Abschluss des Rapallo-Vertrags mit dem bolschewistischen Russland nicht verhinderte.

Und Angela Merkel selbst, die sich dem massiven Vorwurf ausgesetzt sieht, „nie die komplette Konfrontation mit Russland“ gewollt zu haben (FAZ, 20.12.2022)? Fragt sie sich, wie Weltgeschichte funktioniert, nach welchen Gesetzen?

Nicht erkennbar. Sie hadert vielmehr öffentlich: „[…] auch wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen.“ (Interview mit der ZEIT) Dabei hat sie persönlich viel weniger Grund zur Unzufriedenheit als andere, war sie es doch, die Moskau nach dessen Annexion der Krim 2014 mit dem Minsker Prozess über den Tisch gezogen hat: Die zwei Übereinkünfte in diesem Prozess waren, folgt man jüngsten Merkelschen Einlassungen zu ihren damaligen Intentionen, nicht auf eine diplomatische Beilegung des russisch-ukrainischen Konflikts, sondern vielmehr darauf ausgerichtet, „der Ukraine Zeit zu geben […], um stärker zu werden“. Militärisch. Im Hinblick auf einen Krieg mit Moskau. Und zumindest das hat ja funktioniert, „wie man heute sieht“ (Merkel).

Ins Auge bei dieser ganzen Fehlerdebatte sticht das Phänomen, dass es offenbar nach 1990, nach dem Ende des ersten Kalten Krieges, zu keinem Zeitpunkt russische Sicherheitsinteressen – und schon gar legitime – gegeben hat, die, von Moskau definiert, vom Westen in „unserer europäischen Friedensordnung“ (O-Ton Baerbock) zu berücksichtigen gewesen wären. Und jetzt gilt gefälligst: „Als Putin den Befehl zum Angriff gab, zerstörte er eine europäische und internationale Friedensarchitektur, die über Jahrzehnte errichtet worden war.“ (Bundeskanzler Olaf Scholz im US-Magazin Foreign Affairs). Wer den Schuss trotzdem nicht gehört hat und noch immer wagt, in damit nicht nahtlos übereinstimmende Richtungen zu denken, der wird – gegebenenfalls direkt von der US-Botschafterin – weggebügelt.

Hinzu kommt eine in Politik und Medien permanente und geradezu schnappatmende Empörung, bisweilen mit verwundertem Unterton über die so nicht erwartete und jedenfalls völlig unprovozierte Entwicklung Putins und mancher seiner Vertrauten zu verbrecherischen Monstern. Das Paradebeispiel ist der früher im Westen durchaus beliebte ehemalige russische Staatspräsident und jetzige stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedjew, der seit längerem mit vulgär-aggressiven, teils ausgemacht widerlichen Invektiven von sich reden macht.

Manche wissen gar, dass Putin, KGB-sozialisiert, zum Gewaltherrscher und imperialen Kriegsherrn gar keine Entwicklung gebraucht hat, dass der Putin von heute vielmehr der wahre Putin sei, der sich früher nur besser zu tarnen wusste und der schon vor über 20 Jahren bei seinem legendären Auftritt im Deutschen Bundestag lediglich „alle um den Finger wickelte“ (FAZ, 24.09.2021). Die womöglich wichtigste Erkenntnis in diesem Kontext hat die Welt dem britischen Historiker Mark Galeotti zu verdanken: „Putin regiert wie einst Iwan der Schreckliche.“ Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu zivilisatorisch höchst bedauerlichen Deformationen im russischen Nationalcharakter, die zugleich die Erklärung dafür liefern, warum bei Umfragen in Russland immer noch über 70 Prozent der Befragten das Vorgehen der russischen Streitkräfte in der Ukraine befürworten.

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Fakt bleibt trotz alledem: Unter dem Strich ist genau das eingetreten, was George F. Kennan 1997 prophezeit hat, als er vor einer Ost-Erweiterung der NATO warnte: Ein solcher Schritt würde „die Atmosphäre des Kalten Krieges in die Ost-West-Beziehungen zurückbringen und die russische Außenpolitik in Richtungen treiben, die uns entschieden missfallen werden“.

Demgegenüber haben allerdings auch schon Blättchen– und WeltTrends-Autoren dem Kreml nahegelegt, es mit dem Popanz einer angeblichen Bedrohung Russlands durch die NATO doch bitte nicht zu übertreiben:

  • Die „NATO-Erweiterung [hat] in der Realität nichts zu sicherheitspolitischen Lasten Russlands verändert“. Und: „Der Westen müsste schwachsinnig sein, von Ost- oder Nordeuropa aus Russland überfallen zu wollen.“ (Blättchen 11/2022)
  • „Die Bedrohung Russlands durch die Ausdehnung des NATO-Gebietes ist und bleibt ein Mythos.“ (WeltTrends186/April 2022)

Solche apodiktischen Verkündigungen, mit denen nicht nur der eigenen Seite Absolution erteilt, sondern – mindestens implizit – der anderen Seite zugleich das Recht auf ihre Bewertung der Dinge abgesprochen wird, sind schon mal eine sichere Bank dafür, sich zu kontroversen Fragen nicht verständigen zu können. Denn Moskaus heutige Sicht auf den Nordatlantikpakt, der 1949 mit der erklärten Absicht gegründet worden war, to keep the Soviet Union out (Lord Hastings Ismay, erster Generalsekretär der NATO), dürfte in erster Linie davon geprägt sein:

  • dass die NATO sich seit 1999 durch ihre Osterweiterung immer näher an die Westgrenze Russlands herangeschoben hat und im Jahre 2008 schließlich beschloss, auch Georgien und die Ukraine aufzunehmen. (Eine Entscheidung, die auf dem NATO-Gipfel 2022 bekräftigt worden ist.)
  • dass die NATO 1999 Serbien, einen traditionellen Partner Russlands, völkerrechtswidrig mit Bombenkrieg – vornehmlich auch gegen zivile Ziele – überzog und im Nachgang Kosovo von Serbien abtrennte. (Natürlich diente die Aggression einem hehren Ziel, dem Schutz der Menschenrechte der Kosovo-Albaner in ihrem Konflikt mit Belgrad. Doch stellte sich später die offizielle Begründung als Fake News heraus; Stichwort: Hufeisenplan; siehe Blättchen 6/2019. Andererseits unterhielten die USA vor diesen Vorgängen keine eigene ständige Militärbasis auf dem Balkan, seither mit Camp Bondsteel in Kosovo mit bis zu 7000 Mann jedoch eine recht beachtliche.)
  • dass die NATO nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 (erstmals) den Bündnisfall ausrief und ein Land überfiel, nämlich Afghanistan, für dessen auch nur indirekte Beteiligung an diesen Verbrechen zum Zeitpunkt der Invasion keinerlei belastbare Beweise vorlagen noch später vorgelegt werden konnten.
  • dass die Führungsmacht USA zusammen mit ihrem Juniorpartner Großbritannien eine „Koalition der Willigen“ schmiedeten und 2003 in einer vom UN-Sicherheitsrat nicht sanktionierten, vulgo völkerrechtswidrigen Intervention Irak überfielen. (Wieder war das Ziel ein hehres: Beseitigung irakischer Massenvernichtungswaffen, von denen indessen bereits zuvor nicht nur Insidern bekannt war, dass es sie nicht gab, was sich nach dem Überfall bestätigte.)
  • dass die NATO-Mächte USA, Frankreich und Großbritannien ein UNO-Mandat zum begrenzten Eingreifen in den libyschen Bürgerkrieg dazu missbrauchten, dort einen Regimewechsel herbeizubomben.
  • dass die NATO-Staaten USA, Großbritannien, Türkei, aber auch Deutschland – wiederum ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats – in den syrischen Bürgerkrieg eingriffen, um den einzigen langjährigen Verbündeten Russlands im Nahen Osten zu beseitigen.
  • dass die USA in Rumänien (seit 2016, demnächst auch in Polen) mit der Aufstellung von Abschusssystemen, die sowohl zur Raketenabwehr als auch zum Start nuklear armierter Marschflugkörper geeignet sind (siehe Blättchen 7/2014, 4/2019 und 5/2019) eine zusätzliche Bedrohung Russlands installiert haben.
  • dass die Bündnisüberlegenheit der NATO gegenüber Russland im konventionellen Bereich ein unaufholbares Ausmaß angenommen hat (siehe Blättchen 15/2022).

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Zum Fazit – mit den Worten von Hans J. Gießmann, schon formuliert im Blättchen 16/2016 – gehört nicht zuletzt, „dass nicht nur die ‚alten‘ Mitglieder der NATO zu keinem Zeitpunkt ernsthaft im Sinn hatten, ihr kollektives Verteidigungssystem ohne Russland durch ein kollektives Sicherheitssystem mit Russland zu ersetzen, und dass vor allem für deren ‚neue‘ Mitglieder die Beistandsgarantie gegen Russland ausschlagendes Beitrittsmotiv war und ist“.

Um aber gar nicht erst missverstanden zu werden: Keiner der gravierenden, teils fatalen Fehler des Westens im Verhältnis zu Russland seit Ende des Kalten Krieges – und auch nicht deren Summe – könnte die völkerrechtswidrige Aggression gegen die Ukraine rechtfertigen. Sie bleiben aber maßgebliche Wegmarken eines Prozesses, zu dem im Übrigen auch Moskau seine Beiträge geleistet hat, der in erneute gegenseitige Konfrontation, ja Feindschaft mündete.

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Vor diesem Hintergrund wäre eine Minimalvoraussetzung dafür, dass in der nächsten Nachkriegsordnung die Weichen nicht wieder so falsch gestellt werden wie in jener im Anschluss an den Kalten Krieg, die Anerkenntnis, dass der Westen, statt nach 1990 Russland in den Aufbau einer europäischen Friedensordnung einzubeziehen, die diesen Namen tatsächlich verdient, indem sie das größte europäische Land nicht ausklammert, den Weg einer einseitigen Ausweitung seines Einfluss- und Herrschaftsbereiches nach Ost- und Südeuropa eingeschlagen hat und dass dies ein Fehler war, dessen Folgen auf die eine oder andere Weise, aber jedenfalls in Kooperation mit Russland, beim nächsten Anlauf beseitigt werden müssen, wenn sich die Geschichte nicht ein weiteres Mal wiederholen soll.

Indizien, dass sich die dafür erforderlichen Selbsterkenntnisse im Westen früher oder später Bahn brechen könnten, gibt es kaum. Auch eine Einlassung wie jene, für die Angela Merkel bei der Eröffnungsveranstaltung der Helmut-Kohl-Stiftung im September 2022 laut Presseberichten starken Applaus erhalten hat – sie sei ziemlich sicher, dass Helmut Kohl jetzt schon an die Zeit denken würde, in der man wieder Beziehungen mit Russland aufnehmen kann, denn irgendwann werde diese Zeit kommen; Russland ernst zu nehmen, sei kein Zeichen von Schwäche, sondern von Klugheit – war leider bestenfalls eine Schwalbe, die sowieso noch keinen Sommer machte …