von Wolfgang Schwarz
Die amerikanischen Pläne für eine Raketenabwehr in Europa sowie deren Implikationen für das Verhältnis der USA und der NATO zu Russland sind in diesem Magazin schon wiederholt thematisiert worden. Der Westen hat bei diesem Projekt gegenüber Moskau von Anfang an mit gezinkten Karten gespielt – sowohl was die Begründung des Vorhabens anbetrifft, als auch im Hinblick auf seine lediglich verbal angebotene Kooperation mit Russland in Sachen Raketenabwehr. Eine vertragliche Zusage, dass sich die für europäische Stationierungsregionen vorgesehenen US-Systeme nicht gegen Russland richteten, lehnt Washington ab.
Als zentrales Argument für eine Raketenabwehr in Europa wurden stets vor allem der Iran und dessen mögliche nukleare Ambitionen bemüht – kombiniert mit dem Hinweis, dass Teheran ja bereits über die Technologie für Mittelstreckenraketen und einsatzfähige Systeme mit Reichweiten bis 2.200 Kilometer verfüge und diese weiterentwickele. Dagegen solle der Raketenabwehrschild schützen. Die Sinnhaftigkeit dieses Konstrukts durfte allerdings allein deswegen bezweifelt werden, weil die nuklearen Kapazitäten jeder der drei Atommächte der NATO mehr als ausreichen, um den Iran gegebenenfalls durch Androhung einer vernichtenden Vergeltung abzuschrecken.
Dass die Sache mit dem Iran tatsächlich so ernst nicht zu nehmen ist, hat kürzlich Karl-Heinz Kamp, seines Zeichens Direktor des Bereichs Weiterentwicklung an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin und zuvor lange Jahre bei der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie am Defense-College der NATO in Rom, in dankenswert dezidierter Weise bestätigt – in einem Essay für die Frankfurter Allgemeine mit dem Titel „Wofür Raketenabwehr da ist“, publiziert am 19. Februar 2014. Kamps Aufhänger: der russische Außenminister Sergei Lawrow. Der hatte Anfang Dezember erklärt, Russland sehe nach einem Abkommen mit dem Iran über das Nuklearprogramm Teherans keinen Grund mehr für die von der NATO in Europa geplante Raketenabwehr. Das war für Kamp nun keineswegs Veranlassung, darauf hinzuweisen, dass eine entsprechende Übereinkunft mit Teheran noch längst nicht in trockenen Tüchern ist. Eine solche Einlassung hätte zwar durchaus in der Logik der westlichen Iran-Argumentation gelegen, aber damit hielt sich Kamp gar nicht erst auf. Er ging die Frage viel grundsätzlicher an und setzte in sechs Punkten auseinander, warum eine amerikanische respektive NATO-Raketenabwehr in jedem Falle erforderlich und sinnvoll sei – ganz unabhängig vom Iran.
Für das Verständnis der russischen Seite von besonderer Relevanz, wenn auch auf etwas andere Weise, als vom Autor intendiert, ist dabei Kamps viertes Argument: Raketenabwehr sei „ein strikt defensives Waffensystem. Erst wenn es zu einem Raketenangriff kommt, wird sie relevant. Aus diesem Blickwinkel wirkt die russische Argumentation merkwürdig, dass eine westliche Raketenabwehr gefährlich sei, weil sie das russische Nuklearpotential neutralisieren könnte. Denkt Moskau etwa immer noch in Angriffskategorien?“ Das tut Moskau meines Wissens tatsächlich, und es hat gute Gründe dafür.
Experten sind sich zwar einig, dass heutige Raketenabwehrsysteme von ihren technischen Parametern und ihrer dislozierten Anzahl her im Falle eines massiven atomaren Überraschungsangriffes mit hunderten von land-, see- und luftgestützten Trägersystemen von vernachlässigenswert begrenzter Abwehrwirkung wären; der Verteidiger könnte seine Vernichtung als funktionsfähige Gesellschaft inklusive der Ausschaltung großer Teile seiner nuklearen Vergeltungsfähigkeit nicht verhindern. Es sind derzeit auch keine technologischen Entwicklungen erkennbar, die daran etwas ändern könnten, auch auf mittlere bis längere Sicht nicht.
Anders sieht der Fall aus, wenn der Betreiber entsprechender Raketenabwehrsysteme in Europa, inklusive dem Mittelmeer oder gar dem Schwarzen Meer, in Alaska, im Pazifik und demnächst vielleicht noch in Japan selbst der Angreifer wäre. Schlüge Russland dann mit einer nurmehr punktuellen Restvergeltung zurück, wären – in einem militärisch verengten, von klimatischen und biologischen Kollateralschäden abstrahierenden Szenario – Raketenabwehrpotentiale womöglich der Schlüssel zum Sieg, indem sie diese Restvergeltung neutralisieren.
Das klingt nach Ausgeburt eines kranken Hirns, und die Unterstellung, die USA könnten der Angreifer sein, nach reiner Blasphemie. Kamp jedenfalls ist offenbar fest im Glauben („ein strikt defensives Waffensystem“). Allerdings reichen Denkschulen, strategische Sandkastenspiele und konkrete nukleare sowie flankierende Rüstungsprogramme mit dem Ziel, mit Kernwaffen mindestens Politik machen, im Extremfall aber auch siegreich Krieg führen zu können, und die Suche nach Auswegen aus dem tödlichen Dilemma der atomaren Konfrontation („Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.“) in den USA bis zu den Anfängen des militärischen Nuklearzeitalters zurück. Sie bestimmten jahrzehntelang die zentralen strategischen Debatten der jeweiligen Washingtoner Administrationen und ihres politik- wie militärwissenschaftlichen Umfeldes. Namhafte Strategen – Wissenschaftler, Militärs wie Politiker – folgten dabei immer wieder eben nicht der fundamentalen Feststellung Bernard Brodies, der zu den Begründern der Strategie der nuklearen Abschreckung in den USA zählte und der angesichts der Vernichtungskraft von Kernwaffen schon sehr früh postuliert hatte: „Bisher hat der Hauptzweck des Militärs darin bestanden, Kriege zu gewinnen. Von jetzt an muss sein Hauptzweck sein, sie zu vermeiden. Es kann geradezu keinen anderen sinnvollen Zweck haben.“ Im Gegenteil – die Schimäre nuklearer Kriegführungsfähigkeit bestimmte häufig genug das strategische Denken und Handeln in den USA.
„Wizards of Armaggedon“ lautet der Titel des 1983 in der Stanford Nuclear Age Series publizierten, ebenso umfänglichen wie tiefschürfenden Standardwerkes von Fred Kaplan über die Geschichte des nuklearstrategischen Denkens in den USA. Zur Phalanx der führenden Wizards gehörte zum Beispiel Albert Wohlstetter, der den begrenzten Einsatz von Atomwaffen befürwortete. Ein anderer namhafter Vertreter war Herrmann Kahn mit seiner auf der Spieltheorie basierenden vielstufigen Leiter der gesteuerten Eskalation zwischenstaatlicher Beziehungen vom friedlichen Nebeneinander bis hin zum allgemeinen Nuklearkrieg; Kahn hielt die Androhung eines atomaren Erstschlages gegen die Sowjetunion für eine strategische Notwendigkeit. (Er soll Stanley Kubrick als Vorbild für dessen Dr. Strangelove in der apokalyptischen Groteske „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ gedient haben.) Einen Höhepunkt erreichte dieses Denken mit Colin S. Gray und Keith Payne, die in ihrem legendären Aufsatz „Victory is possible“ aus dem Jahre 1980 auf der Höhe der damaligen militärtechnologischen Entwicklung darlegten, dass Sieg im Atomkrieg durch nukleare Enthauptung – Vernichtung sowjetischer politischer und militärischer Führungszentren – möglich sei: „Sowjetische Führer werden erst durch eine glaubwürdige amerikanische Siegesstrategie beeindruckt sein. Eine solche Lehre müsste den Tod des Sowjetstaates ins Auge fassen. Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der die Wiedergenesung der USA nicht verhindert. Washington sollte Kriegsziele verfolgen, die letzten Endes die Zerstörung der sowjetischen politischen Autorität anstreben sowie die Entstehung einer Weltordnung, die mit westlichen Wertvorstellungen vereinbar ist.“
Alle genannten waren prominente Hochschulprofessoren oder Analytiker an namhaften Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, bildeten Nachwuchs für die Exekutive aus – Paul Wolfowitz etwa, nachmals prominenter Vertreter der Neocons im Pentagon in den Administrationen unter Richard Nixon, Carter, George Bush senior sowie Bush junior, hatte bei Wohlstetter promoviert – oder wurden selbst mit Regierungsjobs betraut wie Gray während der Reagan-Administration.
Zwei Stimmen regierungsamtlicher Funktionsträger sollen dieses Potpourri aus dem nuklearen Gruselkabinett beschließen. Während der Ford-Administration (1974-1977) teilte der bis dato jüngste Verteidigungsminister der USA, Donald Rumsfeld, in seinem Annual Report to he Congress. Fiscal Year 1978 mit: „Die ehrgeizigste Strategie […] verlangt eine Erstschlagskapazität gegen das strategische Angriffspotentials des Gegners, die so viel seiner strategischen Megatonnage wie möglich zu zerstören versucht, ehe sie ins Spiel gebracht werden kann. Eine verbleibende Vergeltung des Gegners […] könnte durch eine Kombination von aktiven und passiven Verteidigungsmaßnahmen weiter gemildert werden, wozu U-Boot-Abwehr, Raketenabwehr, Flugabwehr […] gehören.“ Und Präsident James E. Carters (1977-1981) Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski meinte: „Tatsache ist, dass, wenn wir unsere sämtlichen Atomwaffen einsetzen würden und die Russen ihre sämtlichen Atomwaffen einsetzen würden, ungefähr 10 Prozent der Menschheit getötet werden würden. Nun, das wäre eine Katastrophe, die das menschliche Verständnis überschreitet. Es ist eine Katastrophe, die sich moralisch auf keine Weise rechtfertigen lässt. Aber wenn man sie beschreibt und analysiert, ist festzustellen: Sie ist nicht das Ende der Menschheit.“ (The Washington Post, 19.9.1977)
Derartige Überlegungen und Überzeugungen materialisierten sich in konkreten nuklearstrategischen und anderen Rüstungsprogrammen – in den letzten beiden Jahrzehnten des Kalten Krieges etwa in der Entwicklung und Einführung von steuerbaren nuklearen Mehrfachsprengköpfen (MARV), in der Tarnkappen-Technologie (Stealth) für strategische Bomber und Cruise Missiles, in Ronald Reagans Strategic Defense Initiative (SDI) und in globalen U-Boot-Abwehr-Kapazitäten, um nur einige Stichworte aufzurufen.
All das ist Geschichte? Aber gewiss doch. Nur haben die USA seit Reagans programmatischer SDI-Rede von 23. März 1983 über einen strategischen Raketenabwehrschirm im Weltraum mit einer gewissen Kontinuität weiter an entsprechenden Systemen gearbeitet und 2002 den sowjetisch-amerikanischen ABM-Vertrag zur beiderseitigen engen Begrenzung von Raketenabwehrsystemen nach 30 Jahren vertragsverletzungsfreier Laufzeit einseitig aufgekündigt, um die Fesseln für die globale Dislozierung entsprechender Waffen abzustreifen. Und die Treffgenauigkeit sowie die Geschwindigkeit amerikanischer Trägersysteme sollen inzwischen auf einem Stand sein, dass strategische Ziele heute bereits auch mit konventionellen Sprengköpfen ausgeschaltet werden können – bei stark verkürzten Vorwarnzeiten. „Prompt global strike“ heißt diese Fähigkeit, die bereits einer neuen amerikanischen Strategie ihren Namen gegeben hat. Dabei geht es im Kern um folgendes: „Statt wie in der Vergangenheit einen Angriff auf die USA nachträglich nuklear zu bestrafen, soll dieser künftig vorbeugend durch die Zerstörung der Angriffsmittel mit Hilfe konventioneller Waffen verhindert werden.“ Erkannt hat das, neben anderen, auch Karl-Heinz Kamp. Parallel dazu wird aber auch die Treffsicherheit der nuklearen Waffen weiter verbessert. So sollen zum Beispiel ab kommendem Jahr die letzten US-Atombomben auf deutschem Boden, bisher frei fallend wie herkömmliche Bomben auch, durch ein neu entwickeltes Nachfolgesystem in Gestalt einer steuerbaren Lenkwaffe mit der Typenbezeichnung B61-12 ersetzt werden.
Parallel zu all diesen Entwicklungen kann Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion rüstungstechnologisch wie auch quantitativ mit den USA nicht mehr mithalten – weder bei Trägersystemen noch bei Sprengköpfen und auch nicht bei Raketenabwehrsystemen.
Trotzdem ist Russland aus dem Prozess der strategischen Abrüstung mit den USA nicht ausgestiegen, sondern hat mit New Start vielmehr ein weiteres Reduzierungsabkommen abgeschlossen. Die russischen Bestände an land-, see- und luftgestützten strategischen Kernwaffen befinden sich inzwischen zum Teil bereits unterhalb der darin festgelegten Limits.
Wer in diesem Bereich allerdings weiter vorankommen will, und dafür spricht nicht zuletzt, dass die anderen Atommächte eine Beteiligung an der nuklearen Abrüstung unverändert mit Verweis auf die immer noch weit größeren Arsenale der atomaren Supermächte verweigern, der wird die russischen Besorgnisse in Sachen Raketenabwehr ernster nehmen müssen, als es Karl-Heinz Kamps viertes Argument erkennen lässt. Anderenfalls ist Raketenabwehr, wenn auch vielleicht für nichts anderes, so doch zumindest für eine Blockade weiterer Kernwaffenabrüstung da.
P.S.: Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik mit Sitz in der Berliner Ossietzkystraße outet sich auf ihrer Homepage übrigens als „die sicherheitspolitische Weiterbildungsstätte der Bundesregierung“. Und: „Sie vermittelt das Konzept der umfassenden Sicherheit an ausgewählte Führungskräfte […] und bündelt die sicherheitspolitische Expertise Deutschlands.“ Da bleibt nur zu hoffen, dass dort in der Vermittlung auch noch andere Sichtweisen zum Tragen kommen.
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