von Wolfgang Schwarz
Bekannt ist, dass die USA umfangreiche Vorhaben zur Modernisierung ihrer strategischen Kernwaffen, der so genannten Triade, wie auch ihrer nuklear-taktischen Bewaffnung planen und zum Teil bereits realisieren – und zwar ungeachtet des New Start-Abkommens (siehe dazu Blättchen Nr. 12 / 2011) und des vom US-Senat der Regierung erteilten Auftrags, noch in diesem Jahr Gespräche mit Russland über den Abbau der taktischen Kernwaffen zu beginnen (siehe Blättchen Nr. 15 und 16 / 2011). Zu diesen Vorhaben gehören auch sogenannte Life Extension Programs (LEPs) für vorhandene Typen von Nuklearsprengköpfen.
Ein solches LEP plant das US-Militär zum Beispiel für atomare Bomben vom Typ B61, deren bisherige Modelle ab 2018 durch ein neues ersetzt werden sollen, um die Einsatzbereitschaft der B61 über weitere dreißig Jahre zu sichern. (Insgesamt knapp 200 Bomben der Versionen B61-3 und B61-4 lagern derzeit noch in der Bundesrepublik, in den Niederlanden, Belgien, Italien und der Türkei.) Eine Modernisierungs-Selbstbeschränkung hat die Obama-Administration sich allerdings auferlegt: LEPs „werden keine neuen militärischen Missionen unterstützen und keine neuen militärischen Fähigkeiten schaffen“. So heißt es explizit in der sogenannten Nuclear Posture Review (NPR) von 2010, dem zentralen nuklearen Planungs- und Strategiedokument der US-Regierung. Wörtlich genommen wären damit qualitative Aufrüstungsschritte über bisherige Kapazitäten und Fähigkeiten hinaus ausgeschlossen. Das zumindest muss von einem Präsidenten, der die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt erneuert hat und der die Rolle der Kernwaffen in der US-Straegie reduzieren will, auch erwartet werden dürfen!
Das B61-LEP spricht allerdings eine andere Sprache, wie Hans M. Kristensen von der Federation of American Scientists kürzlich nachgewiesen hat**, wobei er sich auf offizielle Angaben des U.S. Government Accountability Office (GAO) stützte: Im Unterschied zu den bisherigen Versionen soll die künftige B61-12-Bombe nämlich erstmals mit einer Steuerungseinheit ausgestattet werden, um ihre Zielgenauigkeit bis auf einen Streukreishalbmesser von nur noch 30 Metern zu steigern. Unter Einsatz von GPS-Daten wären sogar fünf Meter im Bereich des Machbaren. Damit würde die Waffe im Unterschied zu den Vorgängermodellen punktzielfähig und geeignet zum Einsatz gegen sogenannte gehärtete Ziele (unterirdische Führungsbunker, Raketensilos), selbst bei verringerter Sprengkraft und reduzierten Nebenwirkungen. 800 Millionen US-Dollar ist der U.S. Air Force die entsprechende Steuerungseinheit wert, die von Lockheed Martin, Raytheon und Boeing entwickelt werden soll.
Wenn der US-Kongress dafür Haushaltsmittel genehmigte, würden im Ergebnis, so Kristensen, „die taktischen US-Atombomben, die derzeit in fünf europäischen Ländern stationiert sind, 2018 in einer Version mit verlängerter Lebensdauer und mit einer signifikant erhöhten Fähigkeit zur Vernichtung militärischer Ziele zurückkehren“.
Derzeit sind noch fünf Versionen der B61 bei den US-Streitkräften im Einsatz – drei taktische (B61-3, Sprengkraft: 0,3 bis 170 Kilotonnen; B61-4, 0,3 bis 50 Kilotonnen; B61-10, 0,3 bis 80 Kilotonnen) und zwei strategische (B61-7, 10 bis 360 Kilotonnen, B61-11, 400 Kilotonnen). Alle fünf Modelle sollen durch ein neues mit der Bezeichnung B61-12 ersetzt werden. Das soll seinerseits zwar mit der Sprengladung der bisherigen B61-4 ausgestattet werden, also der niedrigstkalibrigen der bisherigen Versionen, aber aufgrund ihrer verbesserten Fähigkeiten würde die Neuentwicklung auf ein generelles Upgrade in den strategischen Bereich hinauslaufen.
Offiziell verlautbarte dazu, dass die angepeilte erhöhte Treffsicherheit keine Verletzung der Regierungsgrundsätze im Hinblick auf LEPs darstelle, da die künftige Bombe keine höhere Sprengkraft haben werde, als die bisherigen Versionen. Das ist ein ziemlich plumper Rosstäuschertrick, denn natürlich ist der entscheidende Parameter zur Bewertung eines Waffensystems die militärische Wirkung, die damit erzielt werden kann. Dazu Kristensen: „In Europa würde die neue Steuerungseinheit die Zielgenauigkeit der der Nato assignierten Kernwaffen erhöhen und ihnen eine Zielzerstörungsfähigkeit verleihen, die der sprengkraftstärkeren B61-7 ähnlich wäre, die derzeit nicht in Europa stationiert ist. Dies würde die Bandbreite der bedrohbaren Ziele verbreitern, einschließlich einer Kapazität gegen bestimmte verbunkerte Einrichtungen. Zusätzlich würde der Einsatz mittels stealthfähiger („unsichtbar“ für die Radarüberwachung – Anm. d. Verf.) F-35-Kampfflugzeuge weitere militärische Vorteile wie verbesserte Eindring- und Überlebensfähigkeit mit sich bringen.“
Das US-Verteidigungsministerium und das NATO-Hauptquartier SHAPE hätten sich, so Kristensen weiter, bereits im April 2010, also schon sieben Monate vor Verabschiedung der neuen NATO-Strategie (siehe Blättchen Nr. 1 – 3 / 2011), über die Schlüsselparameter der B61-12-Bombe verständigt – darunter über die wahlweise Explosionsfähigkeit in mittlerer Höhe oder am Boden. Zwar gäbe es laut GAO weder bei der NATO noch beim US-Europakommando ständige Bevorratungspläne für Friedenszeiten noch „identifizierte Ziele für Kernwaffen“, doch Kristensen bezweifelt das. Zu Recht, denn wie kann man, so fragt er, Parameter für ein Waffensystem festlegen, für das es keine Ziele gäbe. Sein Fazit: Offensichtlich seien zumindest einige Ziele festgelegt worden.
Vor diesem Hintergrund erinnert Kristensen an frühere Planungen des US-Militärs – konkret an das Programm für Präzisionskernwaffen mit niedriger Sprengkraft (Precision Low-Yield Weapon Design / PLYWD-Program), so genannter Earth Penetrator („Bunkerknacker“), vom Anfang der 90er Jahre – zur Zerstörung strategischer Ziele bei gleichzeitiger Verminderung der Kollateralschäden. Diese Pläne, die auch damals bereits auf Modifizierungen am Grundmodell B61 zielten, waren seinerzeit vom Kongress zurückgewiesen worden – bis hin zum ausdrücklichen Verbot, Kernwaffen mit einer Sprengkraft von weniger als fünf Kilotonnen überhaupt zu entwickeln. Die bemerkenswerte Begründung dafür lautete, dass die Kombination von erhöhter Zielgenauigkeit und verringerter Sprengkraft Kernwaffen als leichter einsetzbar erscheinen lassen könnte und das Risiko in sich berge, die nukleare Schwelle zu senken, dass sich also die Gefahr eines tatsächlichen Kernwaffeneinsatzes erhöhte. (Das Verbot war von der Bush-Administration 2003 wieder aufgehoben worden.) Kristensen verweist dabei darauf, dass das B61-LEP einerseits den Zielen des früheren PLYWD-Programms in wesentlichen Aspekten entspreche, andererseits aber eine ähnlich kontroverse Debatte wie vor 20 Jahren vermieden werde, da mit der B61-4 ein niedrigkalibriger Sprengkopf (minimal 0,3 Kilotonnen) bereits existiere.
Zur Rechtfertigung des B61-LEPs bemühen seine Befürworter übrigens neben dem bereits erwähnten Rosstäuschertrick noch ein weiteres, nachgerade perfides Argument: Es handle sich um eine Maßnahme, die der Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen diene! Wie das? Ganz einfach: Die B61-4 enthalte als niedrigstkalibrige Version dieser Bombe die geringste Menge an hoch angereichertem Uran (HEU); sobald die B61-12 die anderen Typen ersetzt habe, werde ein bedeutender Anteil von HEU aus dem aktiven Bereich der Streitkräfte entfernt sein und demzufolge ginge auch die Menge an verlorenem HEU zurück, wenn einmal ein Sprengkopf gestohlen würde. Für die europäischen Stationierungsländer, für die eine Untersuchung im Auftrag des US-Kongresses vor einigen Jahren übrigens die zu niedrigen Sicherheitsstandards unter anderem bei der Bewachung der Objekte bemängelt hatte, ist das allerdings allenfalls ein halber Trost. Denn etwa die Hälfte der knapp 200 US-Sprengköpfe in der alten Welt besteht bereits aus B61-4.
Da auch der zweite noch in Dienst befindliche taktische Kernwaffentyp der USA (der W-80-0-Sprengkopf für Tomahawk Land-Attack Cruise Missiles) ebenfalls ausgemustert wird, würden die USA mit der Realisierung des B61-LEPs letztlich die Kategorie der taktischen Kernwaffen komplett aufgeben. Denn egal auf welcher Trägerplattform (B-2-Bomber, F-35-, F-15E- oder F-16-Kampfflugzeug) und schon gar in Europa stationiert – die B61-12 wäre in jedem Fall eine strategische Waffe bzw. würde von Russland als solche zu bewerten sein. Bilaterale Verhandlungen über den Abbau taktischer Kernwaffen mit Russland hätten sich damit mangels Masse auf amerikanischer Seite erledigt.
Ob das allerdings für Russland ein Motiv bildete, seine noch nach Tausenden zählenden taktischen Kernwaffen weiter abzubauen, darf angesichts der strategischen Implikationen des B61-LEPs mehr als nur bezweifelt werden. Dieses Programm, da ist Hans W. Kristensen abermals Recht zu geben, „könnte zu einer Ausweitung nuklearer Bombermissionen führen, neue Bereiche für die nukleare Zielplanung öffnen, eine Planungskultur neu beleben, die Kernwaffen als einsetzbar betrachtet, und möglicherweise die nukleare Schwelle in einem Konflikt senken“. Und Kristensen ergänzt: „Die Logik scheint zu sein: ‚Wir reduzieren die Anzahl der Waffen natürlich so, dass die verbleibenden befähigt sein müssen, mehr Szenarios abzudecken.’ Mit anderen Worten: Der Preis für Rüstungskontrolle sind erhöhte militärische Fähigkeiten.“
Fazit: Wer ernsthaft das Ziel eines Abzugs der letzten US-Kernwaffen aus Deutschland verfolgt, wie es sich die Bundesregierung in ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben hat, und den weiteren Abbau der weltweiten Bestände sowie eine Festigung des internationalen Nichtweiterverbreitungsregimes erreichen will, der muss gegen das B61-LEP Stellung beziehen und, sollte das Programm realisiert werden, eine Stationierung dieser Waffe verweigern.
* – Teil I und II dieses Beitrages erschienen in Blättchen Nr. 15 und 16 / 2011.
** – Siehe: http://www.fas.org/blog/ssp/2011/06/b61-12.php.
Schlagwörter: B61, Nuklearkrieg, taktische Kernwaffen, USA, Wolfgang Schwarz