von Wolfgang Schwarz
Der US-Senat hat der amerikanische Regierung in seiner Resolution zur Ratifizierung von New START vom Dezember 2010 ein klares Mandat erteilt: nämlich binnen eines Jahres Verhandlungen mit Russland über taktische Kernwaffen zu initiieren. Dabei soll das auf diesem Gebiet zwischen beiden Seiten existierende Ungleichgewicht, es besteht eine große numerische Disparität zugunsten Russlands, angesprochen werden – mit dem Ziel, ein Abkommen zur Gewährleistung der Sicherheit dieser Waffen und zur verifizierbaren Reduzierung ihrer Bestände abzuschließen.
Nach derzeitigem Stande wird Barack Obama diesem Mandat in absehbarer Zeit nicht nachkommen können, denn, wie schon Ronald Reagan, einer seiner Vorgänger, wusste, „it takes two to tango“. Russland nämlich zeigt seit längerem kein erkennbares Interesse an diesem Gegenstand. Der russische Außenminister Sergej Lawrow etwa machte dies durch die diplomatische Blume deutlich, als er im Januar 2011, also unmittelbar nach der Senatsresolution, äußerte: Bevor über irgendwelche weiteren Schritte zur nuklearen Abrüstung gesprochen werden könne, sei es „notwendig, das New START-Abkommen zu erfüllen“. Die zeitliche Zielmarke dafür liegt dem Vertrag zufolge erst im Jahre 2018. Nur – die Vertragslimits von New Start waren bereits zum Zeitpunkt von Lawrows Statements so gut wie erfüllt, wie auch die Öffentlichkeit seit Juni weiß (siehe Das Blättchen Nr. 12 vom 13. Juni 2011). Lawrow dürften die entsprechenden Zahlen allerdings schon im Januar bekannt gewesen sein.
Taktische, sub- oder nichtstrategische, atomare Kurzstrecken- bzw. Gefechtsfeldwaffen – all dies sind synonyme Begriffe für Typen von land-, luft- und seegestützten Kernwaffen, mit denen im Ernstfall auf dem Kriegsschauplatz operiert, nicht aber der Gegner in seinem Kernland vernichtet werden soll. Der Unterschied ist existenziell – allerdings nur für die USA und Russland. Nicht für die Betroffenen auf einem tatsächlichen Kriegsschauplatz, wie bereits Auswirkungen der ersten amerikanischen Kernwaffeneinsätze gezeigt haben: Die frei fallenden atomaren Fliegerbomben, deren Abwurf auf Hiroshima („Little Boy“ – Uranbombe / Kernspaltung) und Nagasaki („Fat Man“ – Plutoniumbombe / Kernspaltung) im Jahre 1945 sich am 6. und am 8. August jährt, hatten zum Zeitpunkt der Explosionen und in den unmittelbaren Folgemonaten Huntterttausende Todesopfer und in den nachfolgenden Jahrzehnten unzählige weitere zur Folge. Mit einer Sprengkraft von 13 und 22 Kilotonnen TNT-Äquivalent würde man sie heute zu den taktischen Kernwaffen am unteren Ende der Skala zählen. (Zum Vergleich: Das frei fallende US-Nachfolgemodell B-61, eine Wasserstoff- oder Kernfusionsbombe, verfügt in der auf dem Bundesluftwaffenfliegerhorst in Büchel / Eifel gelagerten Version über eine Sprengkraft von bis zu 170 Kilotonnen.)
Während der jahrzehntelangen Ost-West-Konfrontation wurden unglaubliche Quantitäten dieser Waffen für unterschiedlichste Trägersysteme (atomare Landminen, Geschosse für Granatwerfer und Artilleriegeschütze, Sprengköpfe für land-, luft- und seegestützte Angriffs- sowie für Luftabwehrraketen, für Torpedos und Marschflugkörper, Flieger- und Wasserbomben) auf beiden Seiten angehäuft, und ein großer Teil davon war gegen Ende des Kalten Krieges noch vorhanden: Unter 6.000 Sprengköpfe auf amerikanischer und über 20.000 auf sowjetischer Seite listete eine Studie für den US-Kongress unter dem Titel „Nonstrategic Nuclear Weapons“ vom Februar 2011 auf.
Einbezogen in die amerikanisch-sowjetischen / russischen Rüstungskontroll- und Abrüstungsgespräche, die – mit Unterbrechungen – seit Ende 1969 laufen, und die daraus resultierenden Abkommen waren die taktischen Kernwaffen beider Seiten zu keinem Zeitpunkt, weil sie für Washington und Moskau allenfalls von sekundärem, jedenfalls nicht von existenziellem Interesse waren und sind. Trotzdem hat es eine bemerkenswerte Interaktion auf diesem Felde gegeben, die als Presidential Nuclear Initiatives (PNIs) in die Abrüstungsgeschichte eingegangen ist. Das Hauptargument der NATO für taktische Kernwaffen und ihre frontnahe Dislozierung in Europa war stets die befürchtete konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion und der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) gewesen. Mit deren Zerfall – die offizielle Auflösung erfolgte am 1. Juli 1991 – parallel zu den gesellschaftlichen Umwälzungen in den Mitgliedsstaaten war dieser Grund obsolet. Und bereits am 27. September 1991 verkündete US-Präsident George Bush sen. daraufhin eine einseitige Initiative zum Abbau taktischer Kernwaffen, inklusive eines weitgehenden (nicht vollständigen!) Rückzugs der US-Kernwaffen aus Europa. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow folgte am 5. Oktober mit einer adäquaten Initiative, die später von seinem Nachfolger, Boris Jelzin, bestätigt wurde. Dass dies möglich wurde und der Anstoß ungeachtet der bestehenden Disparität von den USA ausging, resultierte nicht zuletzt daraus, dass ein Einsatz taktischer Kernwaffen im Konfliktfall immer das Risiko in sich geborgen hätte, zum alles vernichtenden strategischen Schlagabtausch zu eskalieren. Die sowjetische Seite hatte in der Vergangenheit wiederholt durchblicken lassen, dass ihrer Auffassung nach im Falle des Falles ein solcher Verlauf geradezu zwangsläufig eintreten müsste. Zugleich schürte der Zerfall der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen in der Sowjeunion und bei ihren Verbündeten am Übergang zu den 90er Jahren wachsende Befürchtungen im Hinblick auf die Gewährleistung von Kontrolle und Sicherheit dezentral gelagerter sowjetischer Kernwaffen an vorgeschobenen Standorten.
Die PNIs setzten – ohne formelle Vereinbarung und demzufolge auch ohne völkerrechtliche Bindungskraft, ohne jeglichen offiziellen Datenaustausch oder gar wechselseitige Kontrollen – eine Entwicklung in Gang, die zum Abzug von 100 Prozent der sowjetischen und von circa 95 Prozent der amerikanischen Kernwaffen vom Territorium europäischer Verbündeter und in der Folge zu deutlichen Reduzierungen der beiderseitigen Bestände geführt hat – um 75 Prozent im Falle Russland und zu einem noch höheren Prozentsatz bei den USA.
Wenn auch längst noch nicht alle ausgesonderten Sprengköpfe tatsächlich physisch abgerüstet, also irreversibel demontiert sind, machen Fachleute zum aktuellen Stand folgende Angaben:
– Russische Experten wie Anatoli Diakow vom Moskauer Zentrum für Rüstungskontrolle, Energie und Umweltstudien und Andrei Zagorski von der russischen Akademie der Wissenschaften gehen für die USA von noch 700 taktischen Gefechsköpfen aus, davon 500 im aktiven Arsenal und davon wiederum 180 bis 200 in Europa stationiert.
– Für die russische Seite rechnen Hans M. Kristensen und Robert S. Norris von der Federation of American Scientists mit 5.390 Sprengköpfen (2.270 seegestützt, 2.000 luftgestützt sowie 1.120 Sprenköpfe für Raketen- und Luftabwehrsysteme) und stellen fest: „Diese Sprengkopfzahlen übersteigen bei weitem Russlands Kapazität an nuklearfähigen maritimen, Luftwaffen- und Luftvereidigungs-Trägersystemen“. Unterm Strich blieben um die 2.080 einsatzfähige Sprengköpfe; der Rest sei wahrscheinlich ausgemustert und vorgesehen zur Demontage. Im Übrigen rechnen Kristensen und Norris mit einer weiteren Reduzierung des russischen Arsenals um bis zu 50 Prozent in den nächsten zehn Jahren. Was die Stationierung der taktischen Kernwaffen Russlands anbetrifft, so wurden sie, einem offiziellen russischen Statement aus dem Jahre 2002 zufolge, komplett von ihren Trägersystemen getrennt und werden in zentralen Einrichtungen gelagert.
Ungeachtet dieser Entwicklungen halten Fachleute die Existenz taktischer Kernwaffen nicht nur für kein geringeres Menschheitsproblem als die ihrer „großen“ Geschwister, sie seien vielmehr, wie es in einem Papier der unter anderem von Ex-US-Senator Sam Nunn geleiteten Nuclear Threat Initiative hieß, „in mancherlei Hinsicht […] gefährlicher als strategische Waffen“. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf folgende Aspekte verwiesen:
– Der beschränkte Einsatzradius dieser Waffen macht ihren Einsatz im Konfliktfall grundsätzlich wahrscheinlicher als im Fall strategischer Systeme, und das Risiko eines dadurch ausgelösten allgemeinen Schlagabtausches besteht fort. Darüber hinaus verwiesen Sam Nunn, Igor Iwanow und Wolfgang Ischinger, Euro-Atlantic Security Initiative, erst jüngst erneut auf „das Risiko eines unbeabsichtigten, unautorisierten oder irrtümlichen Einsatzes“ hin. Diese Gefahr resultiert nicht zuletzt daraus, dass ältere Modelle, die vor allen in russischen Beständen vermutet werden, nicht über so genannte Permissive Action Links verfügen, die das unautorisierte Scharfschalten der Waffen – sowie Explosionen durch Unfälle wie Flugzeugabstürze, Feuer und ähnliches – verhindern.
– Der gesamte Bereich der taktischen Kernwaffen ist nach wie vor hochgradig intransparent; es gibt weder Abkommen noch gegenseitige Kontrolle. (Den Vorwurf, hier eine zu Misstrauen Anlass gebende Geheimniskrämerei zu betreiben, richten die NATO und die USA besonders gern an die Adresse Moskaus. Aber auch für die amerikanische Seite gilt bis zum heutigen Tage: keinerlei offizielle, nachprüfbare Angaben.)
– Taktische Kernwaffen gelten wegen ihrer zum Teil handlichen Abmessungen und der dadurch gegebenen leichteren Möglichkeit, sie zu transportieren und zu verbergen, als „einladende Beschaffungsziele für terroristische Gruppen“, wie George P. Shultz, William J. Perry, Henry A: Kissinger und Sam Nunn in ihrem Wallstreet Journal-Beitrag „Toward a Nuclear-Free World“ von 2008 hervorhoben. Speziell im Hinblick auf Russland wird westlicherseits dabei immer wieder die Befürchtung laut, derartige Waffen könnten verschlampt, gestohlen und / oder an andere Staaten verkauft werden. (Die bereits erwähnte Studie für den US-Kongress hielt dazu allerdings zutreffend fest, dass es bisher keinerlei Erkenntnisse „über irgendwelche Vorfälle mit verloren gegangenen, verkauften oder gestohlenen russischen Kernwaffen“ gibt.)
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Russland, Sowjetunion, taktische Kernwaffen, Terrorimus, USA, Wolfgang Schwarz