von Wolfgang Schwarz
Ob dem auf dem NATO-Gipfeltreffen am 19. November 2010 in Lissabon verabschiedeten Neuen Strategischen Konzept (NSK) der Allianz bis zu seinem Verfallsdatum eine längere Lebensdauer beschieden sein wird als seinem Vorläufer – beschlossen 1999 und nach dem 11. September 2001 bereits obsolet – ist eine akademische Frage. Aber womöglich eine von geringer Relevanz, folgt man dem Urteil kritischer Beobachter, die das NSK bereits zum Zeitpunkt seiner Verkündung für „überholt“ hielten. So Jochen Bittner und Peter Dausend in der Zeit. Und tatsächlich lässt das NSK bei näherer Betrachtung erhebliche Zweifel an den kollektiven analytischen und konzeptionellen Fähigkeiten des Bündnisses sowie an seinem Vermögen, eine zukunftsfähige Sicherheitspolitik zu betreiben, aufkommen. Das betrifft zentrale Aspekte des NSK wie die Orientierung auf ein europaweites Raketenabwehrsystem, das Verhältnis zu Russland, die Abrüstung (eingeschlossen die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen) sowie künftige Out-of-Area-Einsätze.
Stichwort – Raketenabwehrschild. US-Präsident Barack Obama hatte die Pläne seines Amtsvorgängers George Bush jr., in Polen und in Tschechien ein Abwehrsystem gegen ballistische Raketen zu installieren, fallen gelassen und damit eine wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen des neuen Start-Vertrages zur weiteren nuklear-strategischen Abrüstung mit Russland geschaffen. Russland hatte diese Pläne als potenzielle Gefährdung seiner nuklearen Vergeltungsfähigkeit im Falle eines Angriffs und damit als grundsätzliches Vertragshindernis interpretiert. Obwohl diese Interpretation angesichts der russischen Arsenale und der begrenzten technischen Möglichkeiten heutiger Raketenabwehrsysteme reichlich überzogen war, bewegte sie sich im Rahmen der traditionellen nuklearen Abschreckungslogik, der auch Obamas Schritt letztlich Rechnung trug.
Mit dem NSK hat die NATO aus den amerikanischen Raketenabwehrplänen ein Joint Venture gemacht: Laut NSK soll nunmehr NATO-weit „die Fähigkeit zur Verteidigung unserer Völker und Territorien gegen ballistische Raketenangriffe“ entwickelt und dabei „aktiv nach Kooperation … mit Russland“ gestrebt werden. Mit einem Zeithorizont bis über das Jahr 2020 hinaus soll für geschätzte bis zu 20 Milliarden Euro ein gestaffeltes Raketenabwehrsystem errichtet werden. Den Anfang soll bereits 2011 die Dislozierung seegestützter US-Systeme zum Abfangen von Kurz- und Mittelstreckenraketen geringer Reichweite, unter anderem vom Typ Aegis, im Mittelmeer machen. Ab 2015 sollen noch in Entwicklung befindliche leistungsfähigere US-Abwehrraketen vom Typ SM-3 hinzukommen, unter anderem stationiert in Rumänien. Ab 2018 schließlich sollen auch in Nordeuropa stationierte US-Systeme mit stark verbesserten Fähigkeiten in Dienst gestellt werden, insbesondere gegen Mittelstreckenraketen großer Reichweite (bis 3.000 Kilometer).
Die neue strategische Orientierung der NATO auf bündnisgebietsweite Raketenabwehrfähigkeiten wirft eine Reihe von grundsätzlichen Fragen auf.
Zunächst: Gegen welchen Feind gilt es? Nicht gegen Russland, das laut NSK nicht mehr als Gegner betrachtet wird, mit dem man vielmehr kooperieren will. Aber konkret hat sich die NATO in Lissabon zum Feind nicht geäußert – angeblich auf Betreiben der Türkei, weil die mit diesem Feind eine gemeinsame Grenze hat. Frankreichs Präsident Sarkozy war am Rande der Tagung allerdings nicht so feinfühlig und sprach es klar aus: „Iran.“ Allerdings: Dass Iran jetzt oder in absehbarer Zeit über eine relevante Fähigkeit verfügt oder verfügen könnte, europäische Staaten – zum Beispiel die Bundesrepublik – mit ballistischen Raketen anzugreifen, behaupten derzeit nicht einmal NATO-Geheimdienste; allenfalls gibt es in einschlägigen Medien ein „Hintergrundrauschen“ in dieser Richtung.
Weiter: Vor einer strategischen Entscheidung pro Raketenabwehr wäre eine Klärung der Frage zu erwarten gewesen, unter welchen Annahmen, die Fähigkeit dazu unterstellt, ein Angriff auf NATO-Europa für Iran jemals eine sinnvolle sicherheitspolitische oder militärische Option sein könnte. Diese Frage hat bei der Entscheidungsfindung in der NATO aber offenbar keine Rolle gespielt. Nur am Rande erwähnt sei in diesem Zusammenhang die Anmerkung russischer Experten, wonach Iran immerhin zwischen 60 und 70 Prozent seiner Wirtschaftsbeziehungen mit Europa abwickelt.
Vor allem aber: Überhaupt nicht zu verstehen ist, warum die in den vorhandenen ballistischen Raketenarsenalen der USA, Frankreichs und Großbritannien materialisierte Fähigkeit zu massiver Vergeltung im Falle eines Angriffs nicht jetzt und in Zukunft Iran hinreichend abschrecken sollte. Was nach gängiger amerikanischer, ja NATO-Grundüberzeugung während des gesamten Kalten Krieges funktioniert hat, sollte im Falle Iran nicht ausreichen? Vielleicht weil die Iraner – im Unterschied zu den Akteuren im Kalten Krieg – grundsätzlich Hasardeure sind, gegen die jede Zusatzsicherung in Gestalt einer Raketenabwehr nur hilfreich sein kann? Das wollen uns ja manche Politiker und Medien immer wieder gern weiß machen – meist dann, wenn der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad einmal mehr eine seiner zugegebenermaßen unsäglichen UNO-Reden gehalten hat. Doch darüber hinaus müssten für iranischen Irrationalismus im außen- und sicherheitspolitischen Bereich belastbare Belege erst noch erbracht werden. Die sollten dann aber möglichst nicht die Qualität der von den USA weiland im UNO-Sicherheitsrat vorgelegten „Beweise“ für den irakischen Besitz von Massenvernichtungswaffen haben.
Im Übrigen sollte der Westen, wenn ihm wirklich an einer Beilegung des Konflikts mit Iran gelegen ist, aufhören, das Land wie einen Paria oder wie potenzielle Verfügungsmasse zu behandeln und Beziehungen auf Augenhöhe anbieten und anstreben. Für scheinbar antagonistische Beziehungsgefüge gibt es eine historisch einzigartig erfolgreiche Formel – Wandel durch Annäherung.
Um zugleich nicht missverstanden zu werden: Hier wird kein Plädoyer für eine Verewigung der nuklearen Abschreckung gehalten, die im Versagensfalle für weite Teile der Welt, wenn nicht global zum Sterbeglöcklein werden könnte. Hier wird lediglich die Sinnhaftigkeit einer Raketenabwehr für Europa auf den Prüfstand gestellt – und zwar im Koordinatensystem westlichen Sicherheitsdenkens.
Apropos Sinnhaftigkeit: Auch die Frage der technischen Realisierbarkeit ist bei der jetzigen NATO-Entscheidung ausgeklammert worden. Seit den 60er Jahren und insbesondere seit Ronald Reagans Strategic Defense Initiative (SDI) von 1983 geistern entsprechende Visionen und Planungen – verbunden weniger mit bereits entwickelten, häufiger mit exotischen Technologien – immer wieder durch die amerikanischen und NATO-Sicherheitsdebatten, ohne dass es ein einziges wirklich funktionssicheres System bis heute gäbe. Auch was die amerikanischen Patriot-Abfangraketen von Israel aus während der Irakkriege gegen veraltete russische Scud-Raketen an Treffern abgeliefert haben, wird nicht umsonst nicht offensiv als Erfolgsstory vermarktet. Auf dieses Dilemma gab es schon einmal eine tragfähige, Abrüstung stimulierende Antwort: Begrenzung der Raketenabwehrrüstung durch den ABM-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion. Diesen Vertrag hat die Bush-Administration bekanntlich 2002 einseitig aufgekündigt. Seine Revitalisierung wäre eine sinnvolle Option, und dann gehörte die Frage, wie man die Grundidee des ABM-Vertrages gegenüber anderen Staaten mit Verfügungsgewalt über ballistische Raketen wie etwa China und Nordkorea produktiv machen könnte, auf die Tagesordnung.
Nach dem bisher Gesagten komplettiert es den höchst zweifelhaften Eindruck, den die NATO-Orientierung auf eine europaweite Raketenabwehr hinterlässt, dass man auch der Finanzierung der Idee in Lissabon keine weiteren Überlegungen widmete. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hatte im Vorfeld den Ball extrem flach gehalten und von lediglich 200 Millionen Euro Kosten gesprochen, dabei allerdings das Kleingedruckte unterschlagen: Nach Experteneinschätzungen fallen diese Kosten allein für die Dislozierung, Vernetzung und den Unterhalt bereits vorhandener Systeme (Aegis und andere) an. Neuentwicklung, Anschaffung, Stationierung und Unterhalt künftiger Systeme sind in Rasmussens Schätzung nicht enthalten. Daher kann man mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktiuon, Gernot Erler, einer Meinung sein: „Wie man ein solches System angesichts der Sparzwänge, die auch vor dem Verteidigungshaushalt nicht halt machen, realisieren will, ist mir ein Rätsel.“
So könnte der sinnvollste Aspekt an der NSK-Orientierung auf Raketenabwehr letztlich in der erklärten Einladung an Russland liegen, ein solches System kooperativ zu realisieren und damit den Kalten Krieg zwischen beiden Seiten endgültig zu beenden sowie das Tor zu einer neuen Ära sicherheitspartnerschaftlicher Beziehungen aufzustoßen. Ob das aber eine realistische Erwartung ist?
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: ABM-Vertrag, Barack Obama, Frankreich, Iran, NATO, Raketenabwehr, Russland, SDI, Wandel durch Annäherung, Wolfgang Schwarz