22. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2019

Aegis Ashore und INF

von Gabriele Muthesius

Am 1. Februar haben die USA offiziell mitgeteilt, dass sie sich nicht mehr an den 1987 mit der UdSSR vereinbarten INF-Vertrag gebunden fühlen, weil Russland diesen verletze. Der Vertrag verbot bekanntlich landgestützte Mittelstreckensysteme (ballistische Raketen und Cruise Missiles) mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern und schrieb den Vertragsparteien in Artikel 4 darüber hinaus vor, ebenfalls „alle ihre Abschussvorrichtungen für solche Flugkörper“ (mit gewissen Ausnahmen für Testzwecke, Artikel 11 des Vertrages) zu beseitigen.
Gegen diese Festlegungen soll Moskau durch die Stationierung eines landgestützten Marschflugkörpers mit der Bezeichnung 9M729 (NATO-Code: SSC-8) verstoßen haben, von dem die USA behaupten, er verfüge über eine Reichweite oberhalb von 500 Kilometern. Russland bestreitet dies. Eine wenige Tage vor der US-Mitteilung von Moskau angebotene Inspektion des strittigen Waffensystems zur Klärung der Probleme hatte Washington abgelehnt: Entweder das System werde komplett abgerüstet oder der Vertrag sei tot.
Einen Tag nach der US-Mitteilung äußerte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Schuldfrage für das sich damit abzeichnende Ende dieses Abrüstungsabkommens: „Für uns ist klar, dass Russland diesen Vertrag verletzt hat.“
Dafür, die gemäß Artikel XV des INF-Vertrages nun laufende sechsmonatige Frist bis zum Wirksamwerden der US-Austrittsabsicht doch noch zu einer Kompromissfindung zu nutzen, war diese Loyalitätsadresse über den Atlantik wenig hilfreich, und ein Ausdruck sachbezogener Informiertheit einer promovierten Naturwissenschaftlerin als Grundlage für eine hinreichend differenzierte Urteilsfähigkeit in INF-Fragen war sie schon gar nicht. Denn die Materie ist denn doch ein wenig komplexer.
Russland seinerseits beharrt nämlich seit Jahren auf der Feststellung, dass die Ashore-, also landgestützte Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen von Typ Aegis in Rumänien und demnächst in Polen eine gravierende Verletzung des INF-Vertrages sei, weil aus den betreffenden Startkanistern auch konventionelle oder nukleare Cruise Missiles vom Typ Tomahawk (Reichweite: bis 2500 Kilometer) abgeschossen werden könnten. Derartige Systeme sind derzeit in konventioneller Version zur Bekämpfung von See- und Landzielen bei der USA-Marine im Einsatz. (Sie sind als seegestützte Systeme im Übrigen nicht Gegenstand des INF-Vertrages.)
Die USA verweigern eine substanzielle Expertenprüfung dieser Anschuldigung zusammen mit Russland und haben stattdessen versucht, das Problem mit einer einseitigen Erklärung des State Departments vom 8. Dezember 2017 aus der Welt zu schaffen: „Das Aegis Ashore-Raketenabwehrsystem befindet sich in voller Übereinstimmung mit den US-Verpflichtungen gemäß INF-Vertrag. Das System ist ausschließlich in der Lage, defensive Abfangraketen wie die SM-3 zu starten.“ Für offensive ballistische Raketen oder Cruise Missiles wie jene vom Typ Tomahawk fehlten dem System „die Software, die Feuerleitgeräte, Unterstützungsequipment und andere notwendige Infrastrukturelemente.“
Dazu hat Theodore A. Postol, emeritierter Professor für Wissenschaft, Technologie und Sicherheitspolitik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in einer dieser Tage vom Bulletin of the Atomic Scientists veröffentlichten Untersuchung festgestellt: „Offensichtlich ist die Erklärung des Außenministeriums vom Dezember 2017, dass dem Aegis Ashore-System die Software, die Feuerleitgeräte, die Unterstützungsausrüstung und andere Infrastrukturen fehlen, die benötigt werden, um offensive ballistische oder Marschflugkörper wie die Tomahawk abzufeuern, einfach nicht wahr.“ Und: „Wenn die auf Aegis basierenden Systeme in Osteuropa mit amerikanischen Marschflugkörpern bestückt würden […], wären sie furchterregende Offensivkräfte, aufgestellt an den Grenzen Russlands. Und es gäbe kaum eine Möglichkeit für Russland zu unterscheiden, ob die Aegis-Systeme mit Abfangraketen oder nuklear bewaffneten Marschflugkörpern bestückt wären.“
Der Hauptgrund dafür liegt in der Weiterentwicklung des erstmals 1983 auf dem US-Kreuzer Ticonderoga in Dienst gestellten Aegis-Kampfsystems zum Schutz von Kriegsschiffen gegen Luft- und Raketenangriffe zu einem defensiv wie offensiv einsetzbaren Multimissionsraketensystem zur gleichzeitigen Bekämpfung von Luft-, Land- und Seezielen sowie zur Abwehr von ballistischen Raketen. Dafür wurde mit dem „Mark 41 Vertical Launch System“ (VLS) eine neuartige Senkrechtstartbox für den gleichzeitigen Einsatz von diversen Raketen, aber auch von Marschflugkörpern entwickelt, deren Basismodul in jeweils acht einheitlichen Startkanistern gleichzeitig sieben verschiedene Flugkörpertypen aufnehmen und abfeuern kann: zwei verschiedene Arten von Boden-Luft-Raketen, zwei unterschiedliche Arten von Flugkörpern zur Raketenabwehr, zwei Varianten des Marschflugkörpers Tomahawk und eine Flugabwehrrakete kürzerer Reichweite. (Gegen Landziele in Syrien kamen Tomahawks zum Beispiel im April 2018 zum Einsatz, abgeschossen unter anderem vom Aegis-Raketenkreuzer USS Monterey aus dem Mittelmeer.)
VLS-Basismodule sind im Übrigen beliebig miteinander kombinierbar. Von außen ist nicht zu identifizieren, welchen Flugkörpertyp die Startkanister jeweils beherbergen.
Auch dieses neuartige Aegis-System wurde ursprünglich zum Offshore-, respektive Einsatz auf See entwickelt und ist als solches heute disloziert – auf Raketenzerstörern mit 96 Startkanistern in auf Vorder- und Hinterdeck platzierten VLS-Boxen und auf Raketenkreuzern mit 128 Startkanistern.
Für den Ashore-Einsatz des Systems in Rumänien (bisher drei Basismodule mit zusammen 24 Startkanistern) ist die VLS-Box eins zu eins übernommen worden, es gibt, wie Postol nachweist, „grundsätzlich keinen Unterschied zwischen dem Aegis Ashore-System und der Marinevariante“.
Die Autorin sprach zu diesen Fragen mit Otfried Nassauer, dem Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS), der Postols Bewertungen in einem Punkt kritisch hinterfragt: „Auch wenn das MK-41-System für den schiffsgestützten Senkrechtstart von Flugkörpern einschließlich der dazugehörigen Startkontrolleinheit (LCU) und anderer Komponenten vollständig in Europa an Land stationiert worden sein sollte, dann bedeutet das nicht automatisch, dass bis auf die Flugkörper schon alle erforderlichen Komponenten für das Waffensystem Tomahawk vorhanden sind. Zu diesem gehören zum Beispiel auch ein spezielles Führungs- und Waffeneinsatzsystem, das Tomahawk Comand and Control System (TC2S, früher TTWCS), und ein auf den Aegis-Schiffen vorhandenes System für die Planung der Marschflugkörper-Missionen, das Theater Mission Planning Center – also zusätzliche elektronische Hardware mit der zugehörigen Spezialsoftware – sowie Kommunikationssysteme, um mit den Tomahawks während des Fluges Informationen austauschen zu können. Erst wenn in Rumänien und Polen alle Systeme für diese Aufgaben vorhanden wären, wäre es möglich, von dort aus auch Marschflugkörper einzusetzen. Deren Einsatz im Geländefolgeflug gegen weit entfernte, möglicherweise mobile oder sogar während der Flugzeit veränderte Bodenziele ist ja eine äußerst komplexe Aufgabe.“
Bliebe noch die Frage nach Nuklearsprengköpfen für Tomahawks. Bekanntlich hatte die Obama-Administration diese Variante in den Jahren 2010 bis 2013 außer Dienst gestellt. Allerdings sind die Sprengköpfe vom Typ W80 lediglich eingelagert worden. Sie werden derzeit einem Modernisierungsprogramm unterzogen, um sie künftig unter der Bezeichnung W80-4 auch als Sprengköpfe der neuen luftgestützten Marschflugkörper vom Typ Long Range Standoff Missile (LRSOM) nutzen zu können.
Fazit: Bereits mit der Stationierung von Aegis-Startboxen in Rumänien wurde ein Schritt vollzogen, der im Hinblick auf die Festlegungen des INF-Vertrages russischerseits berechtigte Bedenken aufgeworfen hat. Und dies umso mehr, als die USA in absehbarer Zeit die Voraussetzungen komplettiert haben könnten, von dort sowie aus Polen Cruise Missiles mit bis zu 2500 Kilometern Reichweite abzuschießen – „in einem Nuklearschlag gegen vielfältige russische Ziele mit“, so Postol, „einer Vorwarnzeit gegen Null“. Und Postol weiter: „Diese Fähigkeit befürchtet die russische Regierung. Und das zu Recht, denn sie ist alles andere als theoretisch. Es handelt sich um eine Funktion, für die das Aegis-System entwickelt wurde (Hervorhebung – G.M.).“
Vor diesem Hintergrund sei daran erinnert, dass der damalige russische Generalstabschef Juri Balujewski schon im Jahre 2007 gewarnt hatte, dass Moskau aus dem INF-Vertrag aussteigen könnte, sollte Washington Teile seiner Raketenabwehr in Osteuropa stationieren.
Falls die Bundeskanzlerin, laut Amtseid gemäß Artikel 56 Grundgesetz verpflichtet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, ein neues nukleares Wettrüsten im Mittelstreckenbereich und gegebenenfalls die Stationierung entsprechender Waffen in der Bundesrepublik verhindern wollte, dann sollte sie sich vor weiteren Äußerungen zur Materie vielleicht mit etwas mehr Tiefgang in der Sache versehen …