25. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2022

Einwürfe

von Heinz Jakubowski

„Krieg in erster Potenz ist Krieg, in zweiter Potenz ist es ein Krieg aus Anlass der Frage, wer den ersten Krieg begonnen habe.“ – Kierkegaard

Es ist merkwürdig, wie sich im so ziemlich kompletten Meinungsspektrum alles einzig um die Frage zu drehen scheint, ob, warum und mit welchem zu akzeptierenden Recht Russland mit seiner Politik die einstige Weltmachtrolle zurückerobern will oder nicht. Nur in einer sehr kleinen Zahl von – jedenfalls für mich erkennbaren – Veröffentlichungen (Reiner Oschmann im Blättchen 7/22) wird die Frage gestellt, warum das dem Kreml wichtiger ist als etwa die sozialökonomische und -politische Lage des Landes; etwas, wovon Weltgeltung und Respekt wohl mindestens auch, sogar zuvörderst, abhängen.

Warum also liegt der Fokus gerade jener Diskursler, die seit Jahr und Tag permanent Verständnis für Putin aufbringen und davon auch nicht wirklich ablassen, seit sie dies nun mit der Verurteilung der Ukraineaggression einleiten, um dann aber in das tradierte ideologische Muster zu verfallen, dass an alledem zuerst aber der imperialistische Westen verantwortlich ist?

Russland verfügt auch nach dem Zerfall der Sowjetunion über strategische Bodenschätze. Wer gedacht hatte, dass sich auch die russische Wirtschaft diversifizieren würde um ihre gewaltigen Ressourcen zu veredeln, statt sie wie Sprit aus der Zapfsäule laufen zu lassen, der hatte sich geirrt. Auch privatisiert ist’s bei der alten längst überkommenen Strategie des nahezu puren Exports geblieben. Die Milliarden all der seit Jahren daraus erwachsenen Einkünfte hat Russland – anders als das vergleichsweise rohstoffarme China – nicht genutzt, um wissenschaftlich-technische Innovationen hervorzubringen, mit denen man auch zum Exporteur von industriellen Erzeugnissen werden könnte; vom know-how-Export ganz abgesehen. Von Leuchttürmen wie der Militär- und Raumfahrttechnik und hypermodernen Citybauten sowie einzelner Prestigeobjekte abgesehen ist alles beim Alten: Russland, im weltweiten BIP-Ranking auf Platz 14 (und das bei eingerechnetem 20 Prozent-Anteil der Rohstoffexporte), im globalen Innovationsranking auf Platz 45, im Human Development Ranking Platz 49, ist im Wesentlichen noch immer eine „Tankstelle mit Atomraketen“.

Aber eben auch weil das so ist, versteift sich ein – zumal irrational auftretender – Narzisst wie Putin auf seine nationalistischen Großmachtträume. Damit immerhin gelingt es ihm, wie sich zeigt, das Gros seiner Landsleute hinter sich zu bringen. Breite Zustimmung ließe sich gewiss auch über sozialökonomische Fortschritte erzielen, dort aber …

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Im Übrigen haben nicht zuletzt die engen, regelrecht verflochtenen Wirtschaftsbeziehungen Russlands zum Westen, vornehmlich durch die gesicherte Einkommensquelle fossiler Brennstoffe eigentlich eine formidable Grundlage für umfassendes Wachstum der russischen Wirtschaft bereitet. „Erdöl, Erdgas und mineralische Rohstoffe fallen zusammen mit mehr als der Hälfte aller Exporterlöse ins Gewicht, die 2020 ein Volumen von 337 Mrd. Dollar erreichten. Sie sind auch die Haupteinnahmequelle des Staates“ bilanziert Capital. Aber eben: Fehlanzeige mit dem umso bedauerlicheren Nebenergebnis, dass die heute bescheidwisserisch so übel beleumdete bisherige deutsche Politik der Entspannung durch Handel und Wirtschaftsbeziehungen nun gar als Kardinalfehler auf Deutschland zurückschlägt.

Nein, Putins Aggression ist keineswegs durch national-moralische und exzeptionell-historischen Grundwerte bestimmt. Sie ist das Verhalten von einem Großmächtigen, der mit dem Rücken zur Wand stehend meint, mit dem Mittel der Gewalt in politische Vorhand kommen zu wollen/ können, ohne sich für den Entwicklungsstillstand einer 20jährigen Regierungsverantwortung rechtfertigen zu müssen. Kriegführen ist in solchen Fällen bei Typen wie ihm ein allemal probates Mittel; auch die Krimannexion hatte 2014 seinen seinerzeit innenpolitisch im Sinken begriffenen Stern zwischenzeitlich wieder aufpoliert. Die Affinität der Massen zu „starken Männern“ an der Staatsspitze ist weiß Gott kein russisches Spezifikum – die Geschichte zeigt aber, dass es dort ein ziemlich verlässliches ist.

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Nicht nur, aber auch im Blättchen (Ausnahme Erhard Crome in 6/22) ist linkerseits permanent beklagt worden, dass Russlands „berechtigtes Sicherheitsbedürfnis“ durch die „Einkreisung“ durch die NATO westlicherseits mutwillig und provozierend entgegengewirkt worden ist. Immer wieder reicht für diesen Vorwurf der Blick auf die osteuropäische Karte aus. Sieht man vom dabei ärgerlich denunzierten, durch leidvolle Erfahrung begründeten und also souveränen Sicherheitsbedürfnis besagter osteuropäischer Beitrittsländer ab, das diese um NATO-Aufnahme ersuchen ließ, so hat diese NATO-Erweiterung in der Realität nichts zu sicherheitspolitischen Lasten Russlands verändert; das wird auch durch den – letztlich erst durch den Moskauer Chauvinismus herbeigeführten – NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens nicht anders, das bestätigen sogar Lawrow und Putin selbst. Dass Putin die „hirntote NATO“ erst wiederbelebt hat, ist nur eine von jenen gegenteiligen Folgen dessen, was er mit diesem Krieg eigentlich bezweckt hat.

Der Westen müsste schwachsinnig sein, von Ost- oder Nordeuropa aus Russland überfallen zu wollen. Nicht nur, weil es für das grandiose Scheitern solcher Versuche in der Geschichte unvergessene Präzedenzfälle gibt. Warum sollte sich der Westen, der auf so gut wie allen zivilen Gebieten keine Konkurrenz Russlands zu befürchten hat, gerade auf dem einzigen Gebiet mit Russland anlegen, auf dem dieses eine Weltmacht darstellt? Und vor allem weiß nun wirklich alle Welt, dass aus einem konventionellen Krieg zwischen Russland und der NATO zwangsläufig ein Atomkrieg werden müsste – und der, was auch Russland jüngst wieder bestätigt hat, ist für niemanden gewinnbar.

Es hat sich nichts am jenem „Gleichgewicht des Schreckens“ geändert, dem gewiss eine friedlichere Variante nationaler und regionaler Sicherheiten vorzuziehen wäre, dem die Welt seit 1945 aber immerhin einen so weitgehenden Frieden verdankt, wie es ihn lange Zeit davor nicht gegeben hat. Man kann dem Westen gewiss vorwerfen, er habe seit dem Ende der Sowjetunion nicht genug getan, um ein Optimum im Verhältnis zu Russland zu erreichen; ein solcher Vorwurf stimmt irgendwie immer und ist schon deshalb wohlfeil. Dass Russland vom Westen eine „strategische Partnerschaft“ angeboten wurde, dass ein NATO-Russland-Rat als gemeinsames Gremium zur Konsultation in Sicherheitsfragen geschaffen wurde, dass Russland als achter und gleichberechtigter Staat in die seinerzeitigen G7 kooptiert wurde – aus alledem hätte sich für ein partnerschaftliches Verhältnis Vielversprechendes entwickeln können. Gekommen aber sind russischerseits Tschetschenien, Georgien, die Krim, Syrien und nun die Ukraine.

Ein Land, das einmal das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt besaß, per Budapester Memorandum 1994 auf den weiteren Besitz von Atomwaffen verzichtete, wofür auch Russland als völkerrechtlich vertragliche Gegenleistung unter anderem zusicherte, die Unabhängigkeit und „die existierenden Grenzen“ der Ukraine zu respektieren – böser Westen, denn schließlich: „In der Tat haben die Versuche, uns für ihre Interessen zu missbrauchen, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden, nicht aufgehört, jene Haltungen, die sie bereits aggressiv in ihren Ländern durchsetzen und die direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind.“ (Putin) „Die Hölle, das sind die anderen“! (Sartre)

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Die honorigen Unterzeichner des Briefes in der Emma haben natürlich recht: Es braucht ein umgehendes Ende des Krieges. Das aber ist nun wieder Binsenweisheit, die durch die Realitäten gebrochen wird. Mit Minsk 1 und 2 – westlicherseits (!) initiiert und erreicht und nicht seinerseits leider ad absurdum geführt – waren der jetzigen Situation die jetzt so geforderten Verhandlungen vorausgegangen. Durch Russland ist daraus ein regulärer Angriffskrieg geworden. Ganz und gar weltfremd mutet es an, wenn aus dem sicheren Hort bundesdeutscher Quasi-Idylle den Ukrainern zu opferschonender Kapitulation geraten wird und deren Notwehrverhalten zum Teil, wenn nicht gar zum Kern des Problems gemacht wird. Es wäre eigentlich nicht verwunderlich gewesen, wenn aus solchen Quellen mit dem gerade erlebten 8. / 9. Mai auch eine retrospektive Umwertung sowjetischen Verteidigungsverhaltens verbunden gewesen wäre. Hätte Stalin allein in den ersten Monaten nach dem faschistischen Überfall, in denen es für die Rote Armee verlustreich bis vor die Tore Moskaus nur rückwärtsging, kapitulieren müssen, um Menschenleben zu retten? Hätte die Rote Armee Stalingrad zugunsten von erhaltenen Menschenleben nicht aufgeben müssen, da man dort nur noch in den Uferabhängen der Wolga und als versprengte Gruppen in den Ruinen zerbombter Fabriken operierte? Müssten die Vietnamesen nach diesem Paradigmenwechsel nicht a posteriori dafür geächtet werden, den hochüberlegenen USA einst einen erbitterten und opferreichen Widerstand geleistet zu haben statt zu kapitulieren? Wie kommt es, dass gestandene deutsche Friedensfreunde einst fest zu dem Grundsatz standen, dass der Friede bewaffnet sein müsse, heute indes der Ukraine das in Artikel 51 der UN-Charta verbriefte Recht auf „das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ absprechen? – Hm…

Mit Russland zu verhandeln ist ebenso eine Forderung der Unterzeichner, die sich auch an die Ukraine richtet. Abgesehen davon, dass das die Beteiligten seit Beginn der „militärischen Spezialoperation“ tun und „der Westen“ Putin mal um mal persönlich zur voraussetzenden Einstellung der Invasion auffordert: „You cannot reason with a tiger when your head is in its mouth“, hat Churchill einst die auch heute gültige Gemengelage besonders plausibel erklärt.

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„Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom“, hat wiederum Albert Einstein einst festgestellt. Die mit dem Thema „Der Westen und Russland“ maßgeblich befassten Autoren scheinen noch immer zu glauben, dass der Westen Ursache allen Übels ist. Ursache vielen Übels ist er historisch und dies bis in die jüngste Zeit ganz sicher. Das wurde im Blättchen auch gebührend gegeißelt, allerdings ohne dabei stets gleichzeitig darauf zu verweisen, dass ja auch der Osten Dreck am Stecken habe. Gewiss wird es auch westlicher Änderungen bedürfen, wenn es denn je wieder zu einem Versuch einer europäischen, globalen Sicherheit kommen sollte. In den Wochen und nun schon Monaten eines blutigen, allein von Russland zu verantwortenden Krieges allerdings gebetsmühlenartig auf Untaten des Westens und/oder die fraglosen politischen Webfehler der Ukraine zu verweisen, ist reine und ablenkende Relativierung dessen, was derzeit geschieht und was derzeit erforderlich ist; es ist Hermetik. Und die ist ein Charakteristikum von Ideologie als ein geschlossenes Denken, das alles Gegenteilige zum „Mainstream“ erklärt – als wenn Mehrheitlichkeit per se etwas Verachtenswertes wäre …