22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Vor 20 Jahren: Sündenfall Kosovo

von Hannes Herbst

Wollte man rückschauend das Scheitern der Intentionen der Verfasser und Unterzeichner der Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990 auf einen konkreten Tag datieren, dann wäre der 24. März 1999 der prioritäre Kandidat dafür: An diesem Tag gegen 20.00 Uhr begann die Bombardierung Serbiens (und Montenegros) durch die NATO mittels Kampfflugzeugen und von See gestarteter Cruise Missiles, um Belgrad zur Aufgabe eines Teils des serbischen Staatsgebietes – nämlich Kosovos – zu zwingen. Ein Mandat des UN-Sicherheitsrates für diese Kriegseröffnung gab es nicht, und so fielen nicht nur serbische Städte und Dörfer in Schutt und Asche, sondern ebenso das Völkerrecht und die Charta von Paris. Die war ein schönes Manifest für eine neue europäische Friedensordnung – nicht weniger, aber, wie sich damals zeigte, leider auch nicht mehr.
Wenn der 24. März 1999 hier als ein denkwürdiges Datum aufgerufen wird, dann muss zugleich daran erinnert werden, dass es eine rot-grüne Bundesregierung war, die nach der Katastrophe von 1939 bis 1945 Deutschland erstmals wieder mit militärischen Mitteln, Kampfbombern Tornado, direkt an einem Krieg beteiligte – und gleich in bester (oder besser gesagt in unsäglicher) deutscher Tradition an einem Aggressionskrieg. Die Spitzenpolitiker, die das zu verantworten haben, waren Kanzler Gerhard Schröder (SPD), der die Völkerrechtswidrigkeit später zumindest einräumte und eine „Blaupause“ für das russische Vorgehen gegenüber der Krim nannte, Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90 / Die Grünen) und Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD).
Letzterer musste zwar 2002 seinen Hut nehmen, aber nicht wegen Serbien und Kosovo, sondern lediglich wegen unzeitgemäßen öffentlichen Turtelns und Pool-Planschens mit seiner Lebensgefährtin für Fotografen der Regenbogenpresse. Na ja, Verdacht auf Bestechlichkeit spielte ebenfalls eine Rolle.
Fischer im Übrigen hat sich mit seiner perfiden persönlichen Begründung für die damalige Kriegsbeteiligung Deutschlands besonders nachhaltig in die Erinnerung eingegraben. Auf dem Parteitag der Grünen im Mai 1999 erklärte er: „[…] ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus.“ Das sollte die Behauptung stützen, dass das Ziel des Eingreifens der NATO die Verhinderung geplanter flächendeckender ethnischer Säuberungen der serbischen Führung in Kosovo gewesen sei.
Die habe, so nach Kriegsbeginn Fischer und Scharping konzertiert gegenüber der deutschen und internationalen Öffentlichkeit, ein „Hufeisenplan“ genanntes Konzept zur Vertreibung der gesamten kosovo-albanischen Bevölkerung verfolgt. Auf einer damals von Scharping präsentierten Grafik wies das offene Ende der ansonsten kompletten hufeisenförmigen serbischen Einkreisung Kosovos nach Albanien und damit auf den vermeintlich einzigen möglichen Fluchtweg für die Bevölkerung.
Die Sache hatte nur einen Haken, wie das ARD-Magazin Panorama am 18. Mai 2000 öffentlich machte: Die Grafik, so ein Insider, der ehemalige Bundeswehrgeneral Heinz Loquai, seinerzeit militärischer Berater bei der OSZE, sei „entstanden im deutschen Verteidigungsministerium“. Daher Loquais unmissverständliche Feststellung, „dass der Verteidigungsminister bei dem, was er über den Hufeisenplan sagt, nicht die Wahrheit sagt“. Panorama fügte seinerseits hinzu: „Der schlimme Verdacht: Der Hufeisenplan wurde gar nicht in Belgrad, sondern in Bonn geschrieben. Und für diesen Verdacht spricht ein weiteres Dokument, das Panorama vorliegt. Es stammt aus dem Verteidigungsministerium: das Ausgangspapier des angeblich genau bekannten Hufeisenplans. Doch dort heißt es ausdrücklich, der Plan sei ‚in seinen Details nicht bekannt‘.“
Doch selbst dieser Vorgang hatte, wenn man so will, beste deutsche Tradition: Auch 1939 war schließlich nur zurückgeschossen worden – nach dem polnischen Überfall auf den grenznahen oberschlesischen Sender Gleiwitz. Fingiert durch die SS.
Schäden und Folgen der NATO-Bombardierungen in Serbien?
Die Terrorangriffe währten bis zum 10. Juni 1999, insgesamt 78 Tage. Nach offiziellen serbischen Angaben wurden dabei rund 1000 Soldaten und Polizisten sowie 2500 Zivilisten getötet; die Zahl der Verletzten belief sich auf etwa 10.000 Menschen. Zerstört wurden zahlreiche Industrieanlagen, Brücken, Flughäfen, aber nicht minder Schulen, Krankenhäuser und Wohnsiedlungen. Der materielle Schaden wurde später auf zwischen 30 und 100 Milliarden Dollar geschätzt. Erholt hat sich das Land davon nicht. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt derzeit bei zwölf Prozent, die tatsächliche ist unbekannt. Einer neueren Untersuchung zufolge wollen von den sieben Millionen Einwohnern 20 Prozent das Land verlassen, weil sie keine wirtschaftliche und soziale Zukunft für sich sehen. Das Oppositionsbündnis Allianz für Serbien nennt die Zahl von 600.000 Auswanderern allein für die letzten sechs Jahre. Vor allem Ärzte, Handwerker, Pflege- und andere Fachkräfte würden in Deutschland, Österreich und Skandinavien „mit offenen Armen“ empfangen, wie Die Welt am 6. Februar berichtete. Der Beitrag trug die Überschrift „Serbien blutet aus“.
Zu den übelsten, bis heute auf Mensch und Natur nachwirkenden Kapiteln der Bombardierungen von 1999 gehört der Einsatz von 10 bis 15 Tonnen hochgiftiger und radioaktiver Uranmunition, in erster Linie durch die Luftwaffe der USA. Solche Geschosse werden insbesondere gegen gepanzerte Ziele eingesetzt, die sie zu durchschlagen vermögen. Dabei werden die Geschosskörper häufig „atomisiert“, und ihr Staub aus abgereichertem Uran kontaminiert großflächig die Umwelt. Das Uran gelangt unter anderem über Nutzpflanzen und -tiere auch in die menschliche Nahrungskette. Die Folge sind laut Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) gehäufte Krebserkrankungen und angeborene Fehlbildungen in den betroffenen Bevölkerungsgruppen.
Serbien weist heute die höchste Krebsneuerkrankungsrate Europas auf und hat nach derzeitigem Stand noch eine strahlende Ewigkeit vor sich, denn die Halbwertzeit von Uran 238 – abgereichertes Uran besteht zu 99,8 Prozent aus diesem Isotop – beträgt knapp 4,5 Milliarden Jahre.