21. Jahrgang | Nummer 15 | 16. Juli 2018

Bemerkungen

Das Horrormärchen vom Mindestlohn

Manch einer wird sich noch daran erinnern, wie die Sirenen des Kapitals – vor allem Arbeitgeberverbände, Wirtschaftsinstitute und einschlägige Medien – in den Alarmmodus schalteten und immer schriller wurden, als 2015 auch hierzulande Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde eingeführt werden sollte. Nahezu kein Teufel, der da nicht an die Wand gemalt wurde: Der staatlich verordnete Personalkostenanstieg werde die Beschäftigung hunderttausender Niedriglohnempfänger für die Unternehmen unattraktiv machen. Das Münchener Ifo-Institut rechnete den Verlust von bis zu 900.000 Jobs aus. Insbesondere in Ostdeutschland werde es, so nicht wenige Volkswirte, zu Verödung kommen, weil dort gut ein Fünftel der Beschäftigten 2014 noch weniger als 8,50 Euro verdiente …
Wie ist der Stand heute?
Dass die Arbeitslosigkeit schon seit einiger Zeit immer neue frühere Tiefststände Geschichte werden lässt, dürfte sich bereits herumgesprochen haben.
Von der Einführung des Mindestlohnes profitierten seinerzeit immerhin vier Millionen Beschäftigte, für die die Arbeitsentgelte von 2014 auf 2015 um bis zu 18 Prozent stiegen. Anschließend stieg aber nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter, und zwar um 1,6 Millionen allein bis 2017. Im Osten verödete nichts, was nicht längst verödet war, und selbst das prognostizierte Massensterben von Kleinunternehmen fiel aus. Selbst im Gastrogewerbe mit traditionell besonders vielen Geringverdienern sind seit 2015 70.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts zog an – von 1,7 Prozent 2015 auf 2,2 Prozent 2017. Obwohl der Mindestlohn zum 1.1.2017 auf 8,84 Euro erhöht worden war.
Wunder über Wunder?
Nicht unbedingt.
Eine aktuelle Studie des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung präsentierte als Grund die simple Tatsache, dass die meisten Betroffenen ihr höheres Salär überwiegend in den Konsum steckten.
Mehr Nachfrage = mehr Umsatz = mehr Wachstum – solche simplen Kausalketten sind für hochdotierte Experten natürlich zu schön, um wahr zu sein.

Hannes Herbst

Kennst du Theodor Fontane?

Im Vorfeld des 100. Geburtstages Theodor Fontanes, dem Neuruppiner Apothekersohn, erschien in der Reihe „Kennst Du …?“ im Weimarer Bertuch-Verlag ein Fontane-Bändchen. Eine Besonderheit ist, dass der Autor Sebastian Hennig im Hauptberuf Bildender Künstler ist. Er schuf den Umschlag und weiteren „Schmuck“ für dieses Buch. Das Cover zeigt den alten Fontane am Schreitisch, über ihm schaukelt die junge, lebenszugewandte Effi B. Einige der Bildbeigaben, die fast auf Briefmarkengröße reduziert wurden, hätte man sich eindrucksvoller gewünscht.
Die Bücher dieser Reihe für Leser ab 14 sind Monographien und Lesebücher in einem. Ausgiebig kommt der Balladendichter Fontane mit bekannten und weniger vertrauten Texten zu Wort: „John Maynard“, „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ und auch „Das Trauerspiel von Afghanistan“.
Mit den Bildern und Texten vom Untergang der Concordia oder vom Kriegselend in Afghanistan versucht Hennig, seinen jungen Lesern einen aktuellen Bezug zu den aus dem 19. Jahrhundert stammenden Originalen zu ermöglichen.
Der Autor und Herausgeber zitiert, wenn auch etwas breit, aus den großen Romane „Irrungen und Wirrungen“ und „Der Stechlin“. Wohl bewusst wird das „Schulbuch“ „Effi Briest“ nur am Rande behandelt. Eine Bildleiste, die die vielen Verfilmungen des Romans dokumentiert, steht für die anhaltende Wirkung des großen Brandenburger Autors. Die Titelheldin wurde seit 1939 von Marianne Hoppe, Ruth Leuwerick, Angelika Domröse, Hanna Schygulla und Julia Jentzsch verkörpert. Diese Aufzählung widerspricht Kurt Tucholskys Diktum, dass Fontanes Erzählwerke „leicht angestaubt“ und „altbacken“ seien, dass Fontane als Romanschreiber „mit seiner Zeit [schwinde]“. Auch der berühmteste Autor der Weltbühne konnte irren.
Hennig stellt auch weniger beleuchtete Facetten aus Fontanes Leben dar: Seine Rolle in der Revolution 1848, die Zeit in England, seine Arbeit als Beamter, die Geldsorgen beim Übertritt in die Freiberuflichtkeit.
Von einer Reise durch Brandenburg zurückgekehrt, kann ich bestätigen, dass der Erzähler und Balladendichter namentlich im „Preußischen“ nach wie vor lebendig ist, dass man sich vielerorts mit Hochachtung an ihn erinnert.
Das Buch des Thüringer Verlags bietet für junge und ältere Leser bei eigenen Erkundungen vielfältige Anregungen.

Ulrich Kaufmann

Sebastian Hennig: Kennst Du Theodor Fontane?, Bertuch-Verlag, Weimar 2018, 160 Seiten, 14,80 Euro.

Trost- und hoffnungslos!?

Difficile est saturam non scribere – „Es ist schwer, keine Satire zu schreiben“, hat uns der römische Dichter Juvenal als eines der Credos seines Lebens zwischen 58-140 christlicher Zeitrechnung hinterlassen. Das gilt ungebrochen, allerdings auch die Erkenntnis, dass es schwer ist, nicht fassungslos zu sein, wenn man vor allem Politisches auf sich einwirken lässt. Da erleben wir also seit Monaten das Desaster der Flüchtlings- und Migrationspolitik, deren letztlich zweitrangigem Detail wegen die ganze Regierung am Rande des Kollapses stand (von dem sie wohl auch jetzt nicht sehr viel weiter entfernt ist), da ziehen hochbezahlte Politiker die Stirne in Weisheitsfalten, um ihre Erkenntnis zu offerieren, dass es vor allem Hilfe für jene Menschen in deren Heimat braucht, um a) Kriege zu beenden und/oder zu verhindern und b) eine Entwicklung zu befördern, die das Leben in diesen Ländern lebenswert sein lässt.
Das alles gehört nun bekundeter Weise auch zum Erkenntniskanon der Politik.
Und was geschieht in der Praxis?
Der Bundestag verabschiedet den Haushalt für 2019 und bringt es fertig, ausgerechnet Etat des Entwicklungshilfeministeriums um 500 Millionen Euro fehlauszustatten. 2020 ist gar die Kürzung um eine Milliarde Euro vorgesehen.
Man muss sich dies einmal vergegenwärtigen: 1970, also vor fast einem halben Jahrhundert, hatten die Vereinten Nationen das Ziel beschlossen, dass die Industrieländer 0,7 Prozent ihres Bruttoninlandsproduktes für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit einsetzen sollen; im Millenniumsjahr 2000 wurde dieses Vorhaben erneuert, diesmal mit dem Zeithorizont 2015. Das Ergebnis? 2011 haben lediglich Schweden, Norwegen, Luxemburg, Dänemark und die Niederlande danach gehandelt – alle anderen: Fehlanzeige. Der oben genannte deutsche Haushalt lässt trotz seines nominellen Zuwachses den besagten Anteil am BNP gar wieder auf 0,48 Prozent sinken.
Es ist klar: Durchgreifende Entwicklungshilfe ist nicht allein mit der Überweisung von Geldsummen zu bewerkstelligen, dazu ist sie viel zu komplex. Und auf der Hand liegt auch, dass durchaus Milliardensummen von Nord nach Süd bewegt worden sind, allerdings nicht genug und oftmals planlos eingesetzt, sofern nicht gar versackt.
Klar sollte aber auch sein, dass sich ohne den Einsatz gravierender Finanzhilfe schon gar nichts zum Besseren bewegt

PS: Die Fairness gebietet den Hinweis darauf, dass das desaströse jüngste Haushaltergebnis nicht das Verschulden von CSU-Entwicklungsminister Müller ist.

Helge Jürgs

„Wege der Moderne“ samt dem Rousseau von der Saale

Das Kunstmuseum Moritzburg in Halle an der Saale war bis zur Aktion „Entartete Kunst“ der Nazis 1937 eines der bedeutenden deutschen Museen für die Kunst der Moderne, also die damals zeitgenössische Kunst.
Seit Februar dieses Jahres wird eine neu eingerichtete Dauerausstellung zur Kunst in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts gezeigt. Deren erster Teil (1900 und 1945) widerspiegelt die Geschichte des Hauses anhand herausragender Objekte aus den eigenen Sammlungen und ist in drei Bereiche gegliedert: 1900–1918 mit dem Schwerpunkt Expressionismus; 1919–1933 mit dem Fokus auf Neue Sachlichkeit und Abstraktion; 1933–1945.
Alle drei Bereiche präsentieren Werke der freien und angewandten Kunst gleichrangig miteinander – neben Gemälden und Plastiken werden dem historischen Profil des 1885 als Museum für Kunst und Kunstgewerbe gegründeten Hauses entsprecchend Objekte des Kunsthandwerks sowie kleinplastische Medaillen ausgestellt. Ein besonderes Highlight unter den präsentierten Gemälden ist dabei zweifellos das großformatige „Porträt der Marie Henneberg“ des Wiener Zauberers Gustav Klimt aus der hauseigenen Sammlung, das eines von überhaupt nur vier Gemälden des Künstlers in Deutschland ist.
Der zweite Teil der Dauerausstellung präsentiert mehr als 100 Werke der bildenden und angewandten Kunst zwischen 1945 und 1990 überwiegend aus dem Bereich erst der SBZ, dann der DDR über das gesamte Spektrum der äußerst vielfältigen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die entgegen manchem immer noch gepflegten Vorurteil auch dort möglich waren.
Diese Sammlungspräsentation im zweiten Obergeschoss des Nordflügels soll immer wieder vertiefend ergänzt werden durch temporäre Präsentationen zu einzelnen Themen und Künstlern. Den Auftakt macht bis Sommer 2019 eine Vorstellung der sogenannten Halleschen Schule mit Werken von Hermann Bachmann, Fritz Baust, Kurt Bunge, Charles Crodel, Albert Ebert, Erwin Hahs, Otto Müller, Karl Völker, Gustav Weidanz, die zwischen 1945 und 1960 entstanden.
Apropos Albert Ebert: Keinesfalls versäumen sollte man bei einem Besuch des Kunstmuseums Moritzburg einen Gang in das architektonisch reizvolle Rundraum-Kabinett im Nord-West-Turm, das ganz allein dem Werk des „halleschen Rousseau“, wie der Maler Ebert einmal genannt wurde, gewidmet ist. Das Museum verfügt mit 27 Gemälden, zwölf Zeichnungen und kolorierten Drucken sowie dem gesamten druckgrafischen Werk über die größte öffentliche Sammlung von Ebert. In dem wie dafür wie geschaffenen Ambiente des Kabinettes wird auch Eberts „Akt auf rotem Hocker“ von 1974, eines der letzten und schönsten Gemälde aus dem Nachlass des Künstlers, dauerhaft präsentiert.

Alfons Markuske

Die Novemberrevolution in Deutschland

Im November 1918 war der Krieg für die Deutschen nicht mehr zu gewinnen, und doch sollte die Flotte in eine letzte, todbringende Schlacht geschickt werden. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Die Matrosen probten den Aufstand gegen die imperialistischen Eliten, gegen die antidemokratischen Verhältnisse im Land, gegen die Kriegstreiber und das Elend, das sie über die Bevölkerung gebracht hatten. Wie ein Lauffeuer griff ihr Impuls um sich, Massendemonstrationen zogen durch die Städte, Arbeiter- und Soldatenräte gründeten sich als alternative Regierungsformen. Doch von Anfang an kämpften die Revolutionäre mit ihrer inneren Zerrissenheit: Die Spitzen der SPD wollten einen bedächtigen Wandel im Schulterschluss mit den alten Eliten, die Sozialisten einen radikalen Umsturz hin zu basisdemokratischen Verhältnissen. In ihrer Angst vor einem Bürgerkrieg griff die SPD-Regierung schließlich zu blutiger Gewalt gegen die eigenen politischen Weggefährten …
Der Historiker Stefan Bollinger liefert nicht einfach einen weiteren Abriss der Ereignisse, sondern schildert anhand zahlreicher Originaldokumente packend die Stimmung im Land und geht der Frage nach, was die Akteure motivierte, ihre Entscheidungen so und nicht anders zu treffen.
Was wäre möglich gewesen, wenn etwa Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf der politischen Führungsebene mehr Gehör gefunden hätten?
Hätte der Faschismus verhindert werden können?
Und was lässt sich aus dieser Revolution und ihrem Scheitern für unsere Gegenwart lernen?

Stefan Bollinger: NOVEMBER ’18. Als die Revolution nach Deutschland kam, edition ost, Berlin 2018, 256 Seiten, 14,99 Euro.

Medien-Mosaik

Im Zeichen des 100. Ufa-Jubiläums hat Wolfgang Jacobsen einen schmalen Band über einen der großen deutschen Filmmogule des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Erich Pommer (1889-1966) aus einer jüdischen Hildesheimer Händlerfamilie ging nach einer kaufmännischen Ausbildung vor dem Ersten Weltkrieg zum Film, lernte bei Verleih und Produktion. Er musste in den Krieg, wo er wie, auch später immer wieder, antisemitischen Vorbehalten ausgesetzt war. Im Feld grassierte das Wort von der „jüdischen Drückebergerei“.
Als Chef der Filmfirma DECLA führte Pommer diese nach dem Krieg in die Ufa, deren Direktor er für einige Jahre wurde. Ihn zeichnete thematische Risikobereitschaft aus, auch formal. „Kinematografie ist Bewegung“ war sein Crédo, und er legte Wert darauf, die Kameraarbeit weiterzuentwickeln. Unter seiner Direktion entstanden Meisterwerke wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1919), „Der letzte Mann“ (1924), „Metropolis“ (1926/27), „Der blaue Engel“ (1930) und Tonfilmoperetten wie „Die 3 von der Tankstelle“ (1930) sowie „Der Kongress tanzt“ (1931). Pommer arbeitete unter anderem auch in Frankreich und England und wurde mit Beginn der Tonfilmzeit um 1930 ein Wegbereiter internationaler Co-Produktionen. Als er aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1933 aus der Ufa hinausgeworfen wurde, konnte er aufgrund seiner Kontakte einige Filme im europäischen Ausland drehen. In den USA hatte er weniger Erfolg, zeichnete sich aber dadurch aus, dass er Dorothy Arzner als einer der wenigen Regisseurinnen ein Stück Weges ebnete.
Als amerikanischer Filmoffizier kehrte Pommer nach Kriegsende nach Deutschland zurück. Es war für ihn schwierig, mit einstigen Tätern zusammenzutreffen, denen er einst kollegial verbunden war, wie dem Nazi-Mitläufer Emil Jannings.
Jacobsen konnte Pommers Korrespondenz auswerten und wartet mit interessanten Zitaten auf, die viel von Pommers Haltungen offenbaren.
Wolfgang Jacobsen: Erich Pommer – Filmproduzent zwischen Kunst, Industrie und Unterhaltung, Jüdische Miniaturen Band 208, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2017, 82 Seiten, 8,90 Euro.

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Ob der kleine (aber nicht kurze) Film „303“ von Hans Weingartner das Zeug zum Klassiker hat, muss sich noch herausstellen. Es ist ein sympathisches Road-Movie, in dem die Studentin Jule (Mala Emde) den gleichaltrigen Studenten Jan (Anton Spieker) mit ihrem Wohnmobil von Berlin zur iberischen Halbinsel mitnimmt. Sie kannten sich vorher nicht und kommen sich natürlich näher, näher als sie vorhatten. Weingartner (bekannt durch „Die fetten Jahre sind vorbei“) hat ihnen ins Philosophische zielende lange Gespräche geschrieben, die in der ersten Filmhälfte manchmal hörspielartig bleiben. Die jungen Schauspieler meistern dies, und als nicht ganz anspruchsloser Zuschauer ist man froh, einem Meinungsaustausch in einem Mercedes 303 (daher der Titel!) beizuwohnen, der sich mit dem Charakter des Kapitalismus und dem Wettbewerb der Systeme beschäftigt und nicht im pubertären Geschwafel über den Sinn des Lebens steckenbleibt.
303“, Regie: Hans Weingartner. Derzeit in ausgewählten Kinos.

bebe

Berlin-Madrapour, aussteigen bitte!

In vergangenen Jahrhunderten konnte man beispielsweise in Belzig im Hohen Fläming eine Postkutsche besteigen und war nach zehn und einer Dreiviertelstunde zuverlässig in Berlin. Ebenso zuverlässig konnte man auf dieser Route in Brück und sogar in Potsdam aussteigen. Bis Dresden brauchte man 36 und eine Viertelstunde. Kurfürstlicher Ungnade sicher sein konnten sich hingegen die Postillione, die sich nicht an diese Vorgaben hielten. Es waren dunkle Zeiten feudal-absolutistischer Willkür.
Die sind gottseidank vorbei.
Daherwird man in absehbarer Zukunft in Berlin zum Beispiel seine Reisen nicht mehr so genau planen können. Keine Sorge, jetzt kommt nicht die x-te Glosse zum BER – vor einigen Jahren wurde ich in Istanbul mit den Worten begrüßt: „Ach, Sie sind tatsächlich mit dem Flugzeug direkt von Berlin gekommen?“… –, es geht um die Berliner S-Bahn. Deren Chef Peter Buchner hatte im Winter ein Team bilden lassen, das sich unter anderem mit der Pünktlichkeit dieses Verkehrsmittels befassen sollte. Anlass war eine Zuverlässigkeitsquote von 92,5 Prozent im Januar 2018.
Um deutlich zu machen, dass man sich mit dem bis dato Erreichten nicht zufriedengeben wollte, gab sich die Truppe einen tollen Namen: „Operative Exzellenz Berlin“. Das klingt nach mindestens 105 Prozent Fahrplanerfüllung. Aber ganz so heftig wird es nicht werden. Man knüpfte sich nämlich erst einmal das Herzstück des Systems, den „Ring“, vor. Für Nicht-Berliner zur Erklärung: Diese Strecke mit einer Länge von 37 Kilometern umrundet das innere Stadtgebiet. Üblicherweise braucht man für eine Runde von Ostkreuz nach Ostkreuz circa 60 Minuten. Auch eingefleischte Autofahrer kennen den „Ring“ – in seinem Inneren gilt die Umweltzone und man stößt auf eine vergleichsweise hohe Politessendichte.
Buchners S-Bahn-OP-Team kam jetzt nach Informationen der Berliner Zeitung auf eine grandiose Idee, wie man – vorausgesetzt, die marode Technik hält durch – sich 100-prozentiger Pünktlichkeit zumindest nähern kann: Wenn‘s eng wird – einfach nicht anhalten! Autofahrer kennen das. Man ist 15.00 Uhr bei der Oma in Ziesar zum Kaffee angekündigt, kommt erst 14.30 Uhr aus Berlin raus und bei Caputh nervt das Kind auf der Rückbank: „Papa, pullern!“ – da muss es dann durch …
Praktisch soll das bei der S-Bahn so aussehen: Bemerkt der Zugführer irgendwo um das Südkreuz eine Verspätung seines Vehikels, darf er in Halensee und am Hohenzollerndamm ohne Anhalten durchfahren. Natürlich muss er das zuvor seinen Passagieren mitteilen, damit die vorher aussteigen und den nachfolgenden Zug benutzen können. Theoretisch sollte der wieder pünktlich sein. Infolge des vermehrten Fahrgastdruckes aber … Sie merken schon, das ist wie eine der berühmten Endlostreppen des Zeichners Maurice Escher.
Einen Ausweg aus dieser vertrackten Lage gäbe es: Man kündigt überhaupt keine Stationen mehr an und hält nur noch, wenn sich die reale Fahrzeit und die Fahrplanvorgaben in Übereinstimmung befinden sollten. Das ließe sich in den Zügen dem Publikum durch Monitore und einen Piepton im seltenen Falle der Kongruenz anzeigen. Macht es „Piep“, kann man aussteigen. Auf den Bahnsteigen befinden sich in der Regel noch Schilder, auf denen man lesen kann, wo man sich gerade befindet. In Halensee zum Beispiel. Oder doch schon Westhafen? Dann kann man den Gegenzug nehmen. Der hält vielleicht in Halensee. Schließlich handelt es sich beim „Ring“ um eine „Strecke ohne Ende“, wie die Bahn voller Eigenlob verkündet.
Wen das Ganze an Robert Merles Roman „Madrapour“ erinnert, der ist ein Bösewicht. Die Flugzeugpassagiere des Romans wussten nicht, wo sie ankommen werden! Bei der S-Bahn aber können Sie sicher sein: Sie bleiben in Berlin. Jedenfalls solange, bis die Stadt in Madrapour umbenannt wird.

Günter Hayn

Absage an eine Geschäftsidee

Ich kann und mag sie nun endgültig nicht mehr sehen, die fönfrisierten, ganzkörpertätowierten Kicker, die jedes erzielte Tor mit aufgerissenen Mäulern und Augen mit kriegstanzähnlichen Balletteinlagen feiern wie einen Geniestreich zur Welterrettung.
Ich ekle mich mittlerweile vor der – längst zur Regel gewordenen – durch und durch unsportlichen Schauspielerei auf dem Rasen, bei denen wirklich oder nur scheinbar gefoulte Spieler sich am Boden wälzen wie Todeskandidaten und die Verursacher von Regelwidrigkeiten aller Art bühnenreif die Unschuld vom Lande geben.
Ich mag die Nahaufnahmen von den Tribünen nicht mehr sehen, bei denen man mehr und mehr den Eindruck hat, dass dort vorrangig entlaufene Psychopathen oder mindestens Hysteriker versammelt sind. Ich finde es widerlich, wenn sich rund um den Fußball immer mehr die Lust an der Gewalt versammelt, organisiert und austobt. (Wegen Gewaltausbrüchen sind laut DFB in der vergangenen deutschen Saison in allen Spielklassen 25 Spiele abgebrochen worden, wegen Beleidigungen weitere zehn.) Wütend macht mich, für wie selbstverständlich es mittlerweile gehalten wird, dass Woche für Woche steuergeldfinanzierte Großeinsätze der Polizei nötig sind, um Fußball-„Spiele“ vor noch mehr Gewalt unter denen zu verhindern, die sich diminutiv Fans nennen.
Fast noch satter als den Fußball selbst habe ich allerdings dessen Totalvermarktung und Instrumentalisierung in der Öffentlichkeit, mit den Medien als profitierenden Vollzugsorganen. Egal, ob es die manipulierte „Begeisterung“ ist, die Patriotismus genannt wird, aber Nationalismus ausstrahlt. Egal, ob es sich um Merchandising mit einem unübersehbaren Arsenal von „Fan-Artikeln“ handelt …
Dieter Hildebrandt, der Grande des deutschen Kabaretts und Freund des Fußball-Sports, hat einmal auf die Frage, warum er in München keine Spiele im Stadion live verfolge, geantwortet, er sei nicht willens, Geld dafür auszugeben, Millionären beim Spielen zuzuschauen Fußball, mit Ausnahme seiner Amateursparte, ist primär längst kein Sport mehr, sondern ein Geschäftsmodell. Und schon deshalb nicht mehr „die schönste Nebensache der Welt“, denn wer Geschäft als Nebensache betreibt, hat schon verloren.

Horst Jacob

WeltTrends aktuell

Im Jahr 1968 wurde Geschichte gemacht, wenn es auch mehr Geschichten vom Scheitern waren. Im Thema setzen die Autoren die Entwicklungen in West und Ost in Verbindung miteinander. Es ging um Emanzipation, wenn auch die politischen Ziele und Wege verschieden waren: auf der einen Seite gegen das (wieder) fest etablierte System, auf der anderen gegen die (noch) stalinistischen Strukturen, die man reformieren wollte, um damit dem Sozialismus ein „menschliches Gesicht” zu geben.
Im WeltBlick beschäftigen sich die Autoren mit den Spannungen auf dem Westbalkan und mit Thailands Militär vier Jahre nach dem Sturz der gewählten Regierung.
Was sollte ein Staat tun, wenn er von einem Cyberangriff getroffen wird? Die Cyberdiplomatie als neue Kategorie der internationalen Beziehungen ist Gegenstand der Analyse.
Im Kommentar fragt der an der Keimyung University in Südkorea lehrende Ralf Havertz nach den Gründen für die Annäherung auf der koreanischen Halbinsel.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 141 (Juli) 2018 (Schwerpunktthema: „Das Jahr 1968“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

Das Beispiel Italien zeigt: Linke und rechte Populisten ziehen zunehmend an einem Strang bei ihrer nationalistischen Ablehnung der EU wie des Euro. Diese Kritik, so der Ökonom Stephan Schulmeister, verwechselt jedoch die Währung mit neoliberaler Geldpolitik. Statt über den Euro und „mehr“ oder „weniger“ Europa zu diskutieren, komme es darauf an, die Dominanz der neoliberalen Weltanschauung zu durchbrechen.
Frauenfeindlichkeit und Sexismus gab es bereits im analogen Zeitalter. Heute jedoch werden Frauen im Internet noch massiver beleidigt und bedroht als zuvor. Aber nicht das Netz selbst ist ein Problem, so die feministische Autorin und Aktivistin Laurie Penny. Vielmehr sind es nach wie vor Männer, die dort ihren Frauenhass ausbreiten. Das Netz macht es ihnen nur leichter, ihre Verachtung zu artikulieren – es ermöglicht aber auch, dagegen zu halten.
Die deutsche Gesellschaft erlebt derzeit hoch aufgeladene identitätspolitische Debatten, bei denen sich Muslime und Ostdeutsche oft gegenüber stehen. Dabei erfahren gerade diese beiden Gruppen ähnliche stereotype Diskriminierung, so die Sozialwissenschaftler Naika Foroutan und Daniel Kubiak. Beide Gruppen reagieren darauf mit einer Identitätspolitik, die ausgrenzend sein kann. Richtig verstanden, ermögliche sie es aber auch, gemeinsam für Gleichbehandlung und Teilhabe zu streiten.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Welterfahrung und Weltzerstörung. Tourismus in Zeiten des Klimawandels“, „Linkspartei nach Leipzig: Auf zum letzten Gefecht?“ und „Spanien: Die Stunde der Sozialisten“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Juli 2018, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

In Mecklenburg-Vorpommern hatte die Linkspartei, damals noch PDS, 1998 etwa 11.000 Mitglieder. Derzeit sind es bloß noch rund 4000. Auf die Frage, ob die Partei aussterbe, antwortet André Brie: „Auf den Gedanken kann man kommen. Die Demonstration zum Antikriegstag am 1. September organisieren oft Leute, die über 80 Jahre alt sind. Wir haben zwar auch junge Leute. Aber weil es so wenige sind, kommen viele gleich in die Ämter und in die Parlamente. Das ist ja ein Teil unseres Problems: zu viele, die Karriere machen, die nur ja sagen und wissen, wie man Mehrheiten auf Parteitagen organisiert. Aber die kein Gefühl mehr für normale Leute haben. Und keine Sprache.“
„Kein Gefühl mehr für normale Leute“, Interview mit André Brie, taz (online), 05.0 6. 2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Längerfristige strategische Voraussicht sollte die Möglichkeit erwägen“, empfiehlt Maximilian Mayer, „dass der Euro-Raum stagniert und Ostasiens Konjunktur für eine weitere Dekade anhält. Sollte die Seidenstraßen-Initiative nur ansatzweise gelingen, würde China zum entscheidenden Player nicht nur im gesamten eurasischen Raum einschließlich Ostafrika werden, sondern auch den Indischen Ozean enger mit Südamerika verknüpfen. Anstatt China reflexartig Hegemonialbestreben zu unterstellen, gilt es die enormen Potentiale für soziale Stabilisierung und wirtschaftliche Transformation in Nachbarregionen der EU zu erschließen.“
Maximilian Mayer: Jenseits des Feindbildes. Warum es eine strategische Neubewertung der Beziehungen zu China braucht, IPG. Internationale Politik und Gesellschaft, 02.07.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Es gibt viele Gründe, das saudische Regime zu kritisieren“, beginnt Florence Beaugé, „nicht zuletzt für seine Missachtung der Frauenrechte. Doch ausgerechnet auf diesem Feld hat sich in letzter Zeit viel getan. Im Februar 2018 wurde die Radiologin Tamader al-Rammah zur stellvertretenden Arbeitsministerin ernannt, und so sitzt nun zum zweiten Mal in der Geschichte des Landes eine Frau in der Regierung. Armee und Polizei stellen mittlerweile Frauen ein, und dann wurde nach 35 Jahren nicht nur das Kinoverbot aufgehoben, Männer und Frauen können sogar erstmals gemeinsam ins Kino gehen. Womöglich könnte auch die Geschlechtertrennung an öffentlichen Orten gelockert werden. Doch dass Frauen ab dem 24. Juni allein Auto fahren dürfen, ohne dass ein männlicher Vormund zustimmen muss, hat wohl am meisten Aufsehen erregt.
Florence Beaugé: Selbst lenken. Frau sein in Riad, Le Monde diplomatique, 07.06.2018. Zum Volltext hier klicken.

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„Kaffeefahrt, das klingt nach Heimatfilm“, meint Thomas Hummel, „Omas und Opas tuckern im Bus über hügeliges Land, alles gratis, sogar Geschenke gibt es, steht ja so in der Einladung. Von wegen. Die viereinhalb bis fünf Millionen Deutschen, die […] jedes Jahr an Kaffeefahrten teilnehmen, werden oftmals viel Geld für Schund los – auch gegen ihren Willen. ‚Die Verletzlichkeit der Teilnehmer‘ werde ‚mit aggressiven und irreführenden Verkaufsmethoden zu ihrem finanziellen Nachteil ausgenutzt‘, so steht es in dem Gesetzesantrag, den die Bundesregierung nun prüft und dem eine Verschärfung der Gesetze rund um Kaffeefahrten folgen könnte. Denn die Fahrten sind mitunter wahrhaftige Kriminalgeschichten, mit Opfern, Jägern und Tätern.“
Thomas Hummel: Wer in den Bus steigt, sitzt in der Falle, Süddeutsche Zeitung (online), 06.04.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Am Widerspruch der orthodoxen Kirche in Russland“, schreibt Anaïs Llobet, „scheiterte 2014 […] eine Strafrechtsreform für minderjährige Straffällige. Danach sollten spezielle Jugendrichter eingesetzt, niedrigere Haftstrafen verhängt und Alternativen zu Gefängnisstrafen gefunden werden. Unter Berufung auf den Schutz der Familie hat die Kirche es auch geschafft, ein Fürsorgegesetz zu stoppen, das Eltern in schwierigen Situationen unterstützen und die Unterbringung von Kindern in Heimen vermeiden sollte. Es wäre allerdings übertrieben zu behaupten, die Kirche könne der russischen Regierung ihre politische Linie aufzwingen.“
Anaïs Llobet: Russlands Kirche in Putins Staat, Le Monde diplomatique, 03.08.2018. Zum Volltext hier klicken.