18. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2015

Bemerkungen

Völkermord – ja, Entschuldigung – Fehlanzeige

Es ist erst wenige Wochen her, dass sich das offizielle Deutschland nach langen Jahren der „Zurückhaltung“ dazu durchgerungen hat, den im Jahre 1915 begonnenen Genozid der Türkei an den Armeniern als das zu bezeichnen, was er wirklich war: Völkermord. „Wir können uns nicht von Schuld befreien, wenn wir sie leugnen, verdrängen oder bagatellisieren“, hatte Joachim Gauck in einer Rede zu diesem Genozid erklärt und dabei auch auf seinerzeitig deutsche Mitverantwortung – und sei es durch Schweigen – hingewiesen. Das war wohlgesprochen, und es wäre noch überzeugender gewesen, hätte er gleich noch das Notwendige zu den deutschen Verbrechen an den Herero und Nama in den Jahren 1904 – 1908 hinzugefügt. Aber soweit waren der Bundespräsident und die Bundesregierung da offenbar noch nicht.
Das offizielle Deutschland übte erst noch etwas und forderte zunächst Serbien auf, die Abschlachtung tausender Muslime in Srebrenica vor nunmehr 20 Jahren als schuldhaft begangenen Völkermord anzuerkennen.
Doch dann war es soweit: Am 10. Juli äußerte das Auswärtige Amt, dass folgender Satz nun auch für die Bundesregierung gilt: „Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord.“ Bis zur offiziellen deutschen Entschuldigung, die seltsamer Weise nicht im selben Atemzug erfolgte, vergehen nun hoffentlich nicht noch einmal hundert Jahre!
Nachdem Herero-Aufständische 1904 200 ihrer Besatzer getötet hatten, reagierte der deutsche Statthalter, General Lothar von Trotha, mit folgendem Befehl: „Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen.“* Nicht einmal ein Drittel der Herero und nur die Hälfte der Nama haben die deutsche Ausrottungspolitik überlebt – etwa 90.000 Menschen wurden von den deutschen Kolonialtruppen hingemetzelt oder ausgehungert.
Am 9. Juli 1915 endete die deutsche Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika. Fast bis gestern aber war danach übrigens eine Münchener Straße nach von Trotha benannt; erst seit 2006 heißt sie Hererostraße …

Hajo Jasper

*„Aufruf an das Volk der Herero

Abschrift zu O.K. 17290 Osombo-Windembe, den 2. Oktober 1904
Kommando der Schutztruppe.
J.Nr. 3737

Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält 1000 Mark, wer Samuel Maharero bringt, erhält 5000 Mark. Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen.
Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Hereros.
Der große General des mächtigen deutschen Kaisers.

Dieser Erlaß ist bei den Appells der Truppen mitzuteilen mit dem Hinzufügen, daß auch der Truppe, die einen der Kapitänen fängt, die entsprechende Belohnung zuteilwird und das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen. Ich nehme mit Bestimmtheit an, daß dieser Erlaß dazu führen wird, keine männlichen Gefangenen mehr zu machen, aber nicht zu Grausamkeiten gegen Weiber und Kinder ausartet. Diese werden schon fortlaufen, wenn zweimal über sie hinweggeschossen wird. Die Truppe wird sich des guten Rufes des Deutschen Soldaten bewußt bleiben.

der Kommandeur
gez. v. Trotha, Generalleutnant.“

Wertegemeinschaft – schön und gut.
Aber – welche Werte eigentlich?

Am G7-Gipfel in Elmau durfte Putin nicht teilnehmen, weil – da tagte eine „Gemeinschaft der Werte“, wie Angela Merkel es in ihrer feinen Art formulierte.
Vulgo: Der Russe passte da nicht rein.
By the way (das Englische hier nur, weil auch Angie US-Jeans mal als ein Synonym für Freiheit empfand, wie sie im Weißen Haus ausplauderte): Wer im falschen Leben Agitprop-Funktionär bei der FDJ war, von der darf im Umgang mit solchen Ideologie und/oder Quasireligion getränkten verbalen Versatzstücken eine gewisse Routine erwartet werden.
Hans-Ulrich Jörges vom Stern allerdings hatte offenbar keinen Bock auf diesen Schwenk ins FDJ-Schuljahr, denn der holzte dagegen:
„Die Vor­macht USA nimmt sich das Recht heraus, die Kommunikation der ganzen Welt durch die Schnüffler ihres Geheimdiens­tes NSA ausspionieren zu lassen. […] Gemeinschaft der Werte?
Vor zwölf fahren marschierten die USA mit der Lüge von Massenvernichtungswaffen in den Irak ein […]. Der Krieg schuf den barbarischen Schläch­tern des IS erst Raum für ihr heutiges Kali­fat. […] Gemeinschaft der Werte?
[…]
In den Jahren von 2002 bis 2008 wurden Terrorverdächtige in […] Geheimgefängnissen und in Guantánamo systematisch gefoltert […] Gemeinschaft der Werte?
Seit Jahren führen die USA einen Drohnenkrieg in souveränen Staaten wie Pakistan, Somalia und dem Jemen. Terrorverdächtige werden […] gezielt aus der Luft exekutiert. Zahlreiche Zivilisten wurden dabei getötet, unter ihnen auch Kinder. Gemeinschaft …?“
Bleibt nur noch zu fragen: Müsste Putin, womit er als der Privat- und Politmacho, als den wir ihn auch schon erlebt haben, natürlich überfordert wäre, seinen Ausschluss aus dieser (westlichen) Wertegemeinschaft nicht eigentlich als Kompliment empfinden?

am

Markt, Macht & Demokratie

Vielen maßgeblichen Politikern im Westen, eifrig sekundiert von den Mainstreammedien, war das griechische Referendum, schon bevor es stattfand, zu viel Demokratie, und danach erst recht. Allerdings klappte dieses Mal nicht, was vor vier Jahren passiert war, als ein griechischer Ministerpräsident sein Volk schon einmal in vergleichbarer Weise befragen wollte. Der hieß damals Papandreou und gab erst dem Druck der EU, der EZB, des IWF, aus Deutschland, Frankreich, sogar aus England und Finnland nach, und sagte die Volksabstimmung wieder ab, nur um anschließend aus dem Amt gekegelt zu werden.
Seinerzeit schrieb der leider viel zu früh verstorbene Feuilletonchef der FAZ, Frank Schirrmacher, einen Beitrag unter dem Titel „Demokratie ist Ramsch“ und brachte auf den Punkt, welches Stück da gegeben wurde: „Es ist das Schauspiel einer Degeneration jener Werte und Überzeugungen, die einst in der Idee Europas verkörpert schienen. […] Man muss nicht alle Beziehungen des Witzes zum Unterbewussten kennen, um zu verstehen, wie massiv gerade moralische Übereinkünfte der Nachkriegszeit im Namen einer höheren, einer finanzökonomischen Vernunft zerstört werden.“ Bundesbürger und Politiker, so Schirrmacher weiter, sie „alle haben sich zu Gefangenen der Vorwegnahme von Erwartungen gemacht, die an den Finanzmärkten gehegt werden. […] Es wird immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode ist, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen. Schon hat das Politische massiv an Boden verloren, was man daran erkennt, dass alle politischen Begriffe, die mit dem geeinten Europa verbunden waren, im Wind zerstoben sind, wie Asche. […] Sieht man denn nicht, dass wir jetzt Ratingagenturen, Analysten oder irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse überlassen?“
Und Jürgen Habermas hatte in einem Kommentar zu Schirrmachers Beitrag vermerkt: „Erst die Peripetie, Papandreous Kehrtwende, enthüllt den zynischen Sinn dieses griechischen Dramas – weniger Demokratie ist besser für die Märkte.“ Und Habermas zielte auf die alles dominierenden „Systemimperative des verwilderten Finanzkapitalismus, den die Politiker selbst erst von der Leine der Realökonomie entbunden haben“.
Das damalige Stück ist nun wieder auf dem Spielplan. Dieses Mal haben die Märkte zwar im ersten Akt nicht gleich gewonnen, aber wie jeder weiß, sind Trauerspiele selten Einakter …

Alfons Markuske

Klassik mit Begeisterung

Es soll ja Musikenthusiasten geben, die bei dem Wort Jugendorchester nur blasiert die linke oder rechte Augenbraue heben, so dass das (virtuelle) Monokel die Fassung verliert, aber allzu viele können es zumindest in Berlin nicht sein. Die Konzerte des jährlichen Festivals Young Euro Classic mit Jugendorchestern keineswegs nur aus Europa, sondern aus aller Welt im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt sind jedenfalls immer bestens besucht, häufig ausverkauft.
In diesem Jahr gab es einen vorgezogenen Auftakt mit dem San Francisco Symphony Youth Orchestra in der Berliner Philharmonie, passenderweise am 4. Juli. Und um es kurz zu machen: Die Professionalität und spürbare emotionale Begeisterung, mit der die jungen Musikerinnen und Musiker sich zu Gehör brachten, das hielt das Publikum zum Schluss nicht mehr auf den Sitzen. Gegeben wurde zunächst John Adams „Short Ride in a Fast Machine“; der Ritt kam wie kongeniale Vertonung von Fitz Langs „Metropolis“ rüber. Atemberaubend. Und so ging es weiter. Der begnadete blutjunge Solist Sergey Khachatryan auf seiner „Ysaÿe“-Geige von Guarneri aus dem Jahre 1740 ging unter die Haut und ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass Max Bruchs Violinkonzert Nr. 1 in g-Moll zu recht ein Alltime-Hit der klassischen Musikliteratur ist. Schließlich das Hauptwerk des Abends – Gustav Mahlers Symphonie Nr. 5. Das Orchester meisterte dieses anspruchsvolle Werk unter Leitung seines agilen Dirigenten Donato Cabrera mit Bravour. Die Symphonie war bekanntlich zu Mahlers Lebzeiten bei der Kritik überwiegend nicht wohlgelitten, was den Komponisten in seinem Tagebuch stoßseufzen ließ: „Die Fünfte ist ein verfluchtes Werk. Niemand capiert sie.“ Das San Francisco Symphony Youth Orchestra hingegen machte deutlich, was die Neue Zeitschrift für Musik schon 1905 im Hinblick auf diese Symphonie von einer „überwältigenden Fülle von Schönheiten“ sprechen ließ.
Das Publikum an diesem Abend war angemessen begeistert, es erapplaudierte sich erst eine Zugabe des Solisten, dann zwei des Gesamtensembles.

hpg

Young Euro Classic 2015 – vom 6. bis 23. August im Konzerthaus am Gendarmenmarkt.

NATO-Routine

Die Qualitätsmedien hierzulande vermerken zwar minutiös jede Flugbewegung russischer Luftstreitkräfte im internationalen Luftraum über der Ostsee und dem Nord- und Mittelatlantik, zumal wenn potenzielle Atomwaffenträger beteiligt sind, aber bezüglich entsprechender NATO-Routinen herrscht seltsamerweise das Schweigen im (Blätter-)Walde. So soll zumindest hier darüber informiert werden, dass an der NATO-Übung Baltops im Juni, die unweit der russischen Westgrenze stattfand, auch B-52-Bomber von der Minot Air Force Base in North Dakota teilnahmen. Diese vom fliegenden Personal gern als Big Ugly Fat Fucker bezeichneten Maschinen können zum Beispiel mit 20 nuklearen Marschflugkörpern armiert werden.
Und damit dies gar nicht erst für eine Eintagsfliege gehalten wird: Maschinen dieses Typs sind regelmäßig in NATO-Manövern in Europa, im Mittelmeer, über dem Schwarzen Meer im Einsatz – erst im Herbst letzten Jahres zum Beispiel im Rahmen der Übung Noble Justification.

ws

WeltTrends aktuell

Der westliche Mainstream von Politik und Medien beruft sich gern auf eine „russische Aggression“; gründlichere Analysten verorten die Ursachen des Ukraine-Konfliktes aber vor allem im Lande selbst, das nach dem Zerfall der UdSSR mit guten wirtschaftlichen Voraussetzungen unabhängig wurde. Oligarchenclans übernahmen jedoch die Wirtschaft, bereicherten sich schamlos und lenkten die Politik.
Mit inneren, aber auch internationalen Aspekten der Krise beschäftigt sich das Schwerpunktthema. Während sich Felix Jaitner, Tina Olteanu und Tobias Spöri (Universität Wien) auf die politischen Aspekte der Nationenbildung konzentrieren, analysiert Yuliya Yurchenko (University of Greenwich) den sozial-ökonomischen Transformationsprozess. Die russische Geschichtspolitik zur Ukraine beleuchtet Victor Apryshchenko (Universität Rostow am Don); August Pradetto (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) untersucht die Inszenierung des Ukrainekonflikts als Kalter Krieg.
Im WeltBlick spricht sich BICC-Direktor Conrad Schetter angesichts des G7-Gipfels dafür aus, das Primat des Militärischen zu brechen und mehr für die zukunftsorientierte Entwicklung der Welt zu tun. Mit dem deutschen Genozid an den Herero und Nama vor 100 Jahren im damaligen Deutsch-Südwestafrika setzen sich Reinhart Kößler und Henning Melber auseinander.
Engagiert spricht sich der langjährige CDU-Verteidigungspolitiker Willy Wimmer im Kommentar gegen Bemühungen aus, den Parlamentsvorbehalt zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr auszuhöhlen.

am

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 105 / Juli 2015 (Schwerpunktthema: „Gespaltene Ukraine“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Mein Dekalog

Wir haben Blättchen-Autoren
und -Freunde befragt:
Wenn Sie, aus welchen Gründen auch immer,
für den Rest Ihres Lebens mit zehn Büchern
auskommen müssten, welche wären dies?
Und wir haben auch uns selbst befragt …
Die Redaktion

1. J.D. Salinger: „Der Fänger im Roggen“ + „Nine Stories“
2. Victor Klemperer: LTI
3. Kurt Tucholsky: alles
4. Joseph Heller: Catch 22
5. Walter Kempowski: Echolot
6. Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand
7. Imre Kertesz: Roman eines Schicksallosen
8. Erich Kästner: Fabian
9. Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein
10. Douglas Adams: Lachs im Zweifel

Ulrike Steglich

1. Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita
2. Victor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs
3. Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel
4. Siegfried Lenz: Heimatmuseum
5. Thomas Mann: Tagebücher
6. Victor Klemper: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (Tagebücher)
7. Wassili Schukschin: Gespräche bei hellem Mondschein
8. Peter Weiss: Ästhetik des Widerstands
9. Walter Kempowski: Das Echolot
10. Stefan Hermlin: Abendlicht

Hajo Jasper

Mediterrane Melancholie

Lassen Sie uns eine Urlaubsfahrt machen. Nicht mit dem Flugzeug oder dem Hochgeschwindigkeitszug. Nein, wir fahren eher entschleunigt auf einem Motorroller.
Wir erkunden auf dieser Fahrt das Herzstück Italiens zwischen Mailand und Rom. Wir meiden dabei die lauten Städte und die überfüllten Strände. Wir drehen einen Kinofilm im Stil der 50er oder 60er Jahre. Ein Road Movie, das nicht von wilden Verfolgungsfahrten handelt, sondern uns die mediterrane Melancholie nahe bringt.
Und als Soundtrack empfehlen wir die soeben erschienene CD von Opez mit dem nekrophilen Titel „Dead Dance“. Das kunstvolle Cover mit den zwei Skeletten und den Grammophonköpfen sollte uns nicht zu Rückschlüssen auf morbide Musik verführen. Denn das Opez-Duo, bestehend aus den beiden Multi-Instrumentalisten Massi Amadori und Francesco Tappi, präsentiert auf ihrem Debut-Album höchst quicklebendige Musik.
Sie bieten uns eine Klanglandschaft aus Emotion und Einsamkeit an. Ihr musikalischer Anspruch ist dabei durchaus ambitioniert: „Uns geht es“, so der für alle Kompositionen verantwortlich zeichnende Amadori, „nicht allein um die akustische Komponente, unsere Musik soll alle Sinne ansprechen.“
Es mag etwas hoch gegriffen sein, doch sie haben damit das italienische Pendant zum Mississippi-Blues geschaffen.

Thomas Rüger

Opez: „Dead Dance“, Agogo Records/Indigo 2015; 15,00 Euro.

Kurze Notiz zu Barby

Einen Satz wissen alle Grundschüler im Land gleichermaßen gebetsmühlenartig herunterzuleiern: „Die Saale fließt bei Barby in die Elbe.“ Wo die Bode, die Unstrut und die Weiße Elster in die Saale münden, wo die Mulde, die Ohre und die Schwarze Elster in die Elbe fließen – das wissen die Leute vor Ort, wo auch immer der sein mag. Barby aber ist landesweit berühmt für das dortige Zusammengehen der beiden größten Flüsse, die durch Sachsen-Anhalt ziehen. Für mehr allerdings auch nicht, sodass Barby die bekannteste unbekannte Stadt des Landes ist, noch vor Egeln und Oebisfelde-Weferlingen.
Was nicht weiter wundert, denn das kleine Landstädtchen an Elbe und Saale ist tatsächlich ziemlich unbedeutend, im geografischen wie im geschichtlichen Sinn. Zwar zieht sich Barby auf eine Fläche hin so groß wie keine andere Stadt oder Gemeinde im Salzlandkreis, doch den Einwohnern nach – ach herrje! Da stehen ein paar Häuser zwischen Kirchgasse und Küstergasse, zwischen Lindenstraße und Lindenallee. Und weit draußen im westelbischen Flachland bringen zehn eingemeindete Dörfer den Stadtcharakter von Barby restlos zum Verschwinden.
Ja, früher natürlich! Da gab es die Edlen von Barby, die einmal über das so viel größere Zerbst geboten und dann doch zwischen dem Magdeburger Erzbistum und den Anhaltinern zerrieben wurden, bis die Grafschaft Barby schließlich an Sachsen fiel. Seitdem – das war ziemlich genau 1659 – war Barby nur noch eine nachgestellte Handelsstadt, ein etwas größeres Fischerdorf (woran heute noch das Fischertor und die Fischerhäuser dem Namen nach erinnern).
Was aber hat Barby zu bieten außer zwei recht große Flüsse und etwas herrliche Landschaft, was beides ja auch ohne das Städtchen da wäre? Da ist zunächst einmal das Rathaus, das recht malerisch mit zwei Kirchen über Eck den Marktplatz umsäumt. Dann gibt es noch ein Schloss, ein ehemals herzogliches Schloss sogar, wenngleich auch nur des Herzogtums Sachsen-Weißenfels Die Kleinstaaterei lässt grüßen. Und der deutsche Behördenwahn: Im Schloss sitzt das Grundbucharchiv des Landes. Es bleiben in Barbys zentralem Ortsteil Barby (Elbe) nur noch Prinz und Prinzesschen. Und das ist wirklich eine recht verdrehte Angelegenheit: Das Prinzesschen nämlich ist ein alter Wehrturm, hübsch restauriert und mit dem ansehnlichen Fachwerk zweifellos das schönste Stück der noch erhaltenen Stadtmauerreste. Der Prinz hingegen ist – ein Teehaustürmchen, draußen feister Barock, drin verspieltes Rokoko. Wer über dieses kleine gender crossing hinaus etwas erleben möchte in Barby, muss über Barby (Elbe) hinaus gehen. Die Heimatstube von Lödderitz, die Bockwindmühle von Sachsendorf, die Rosenburg von Groß Rosenburg – das alles ist ohne Zweifel sehenswert, betont aber eher die jeweilige dörfliche Eigenart der Ortsteile, ohne dass Barby selbst an Profil gewänne. Und so wundert es nicht weiter, dass Breitenhagen im Südosten seine eigene Elbfähre hat und Gnadau im Nordwesten weitaus besser an den Regionalverkehr angebunden ist als die Kleinstadt, nein das Großdorf Barby, wo die Saale in die Elbe mündet.

Thomas Zimmermann

Wie man Volkes Interesse ermittelt

„Wir sollten uns langsam auch wieder auf andere Themen konzentrieren. Ich habe bei meinen Wahlkampfterminen die Erfahrung gemacht, dass sich die Bürger für das Thema nicht so stark interessieren.“ So Union-Fraktionschef Volker Kauder in einem Spiegel-Interview vom August 2013.
Wenn man sieht, welche Themen Kauder eher selten im Munde führt, könnte man m mutmaßen, dass seine Kontakte zu den Bürgern auch ein veritables Desinteresse an Rüstungsexport, gerechterer Vermögensverteilung, sozialer Energiewende, Schutz vor Verarmung, Abschaffung der 2-Klassen-Medizin und vergleichbarem mehr ergeben hat.
Woran erinnert mich das nur? Ach ja: „Wer derart tief im Volk verwurzelt ist wie wir, braucht keine institutionalisierte Meinungsforschung“ – so lautete die ebenso interne wie offizielle Begründung, mit der 1979 das Institut für Meinungsforschung beim ZK der SED aufgelöst worden ist. Same procedure as in every system …

Hella Jülich

An einen politischen Dichter

Du singst wie einst Tyrtäus sang,
Von Heldenmut beseelet,
Doch hast du schlecht dein Publikum
Und deine Zeit gewählet.

Beifällig horchen sie dir zwar,
Und loben schier begeistert:
Wie edel dein Gedankenflug,
Wie du die Form bemeistert.

Sie pflegen auch beim Glase Wein
Ein Vivat dir zu bringen,
Und manchen Schlachtgesang von dir
Lautbrüllend nachzusingen.

Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
Des Abends in der Schenke:
Das fördert die Verdauungskraft
Und würzet die Getränke.

Heinrich Heine

Glaskugelorakel

Wer sich im Online-Portal eines namhaften Nachrichtenmagazins über den Verlauf ökonomischer Vorgänge auf dem aktuell Laufenden halten möchte, hat viel Spaß, weil sehr viel Abwechslung. Nun ist ja allweil bekannt, dass sich die marktwirtschaftlichen Entwicklungen zyklisch vollziehen – dass die Ausschläge nach oben und unten sich jedoch zeitlich derart nahekommen, war wohl in der Art, wie man sie heute nachrichtlich präsentiert bekommt, noch nicht da.
Kostproben aus dem Online-Stadel:

14.04.2015: Schwaches Wachstum: WTO kappt Ausblick für Welthandel
15.04.2015: Frühjahrsgutachten: Wirtschaftsforscher rechnen mit kräftigem Wachstum
16.04.2015: Frühjahrsgutachten: Ökonomen wollen Steuerzahler um Milliarden entlasten
21.04.2015: ZEW-Konjunkturindex: Börsenprofis verlieren Zuversicht
22.04.2015: Starke Konjunktur; Regierung erhöht Wachstumsprognose
24.04.2015: Geschäftsklima: Ifo-Index steigt auf höchsten Stand seit Juni 2014
22.05.2015: Ifo-Index: Stimmung in der deutschen Wirtschaft trübt sich ein
29.05.2015: Arbeitsmarktprognose: Deutschland droht Wachstumseinbruch durch fehlende Fachkräfte
10.06.2015: Konjunktur: Weltbank sieht stärkeres Wachstum in Eurozone
24.06.2015: Schlechte Stimmung: Ifo-Index fällt überraschend stark
03.07.2015: Konjunktur; Eurozone trotz der Krise – noch
09.07.2015: Gute Konjunktur: Deutsche Exporte stiegen überraschend

Nun, fühlen Sie sich auch so gut informiert wie ich?
Ringeding klingelt der Ticker – die nächsten Meldungen kommen gerade rein …

HWK

„Schwulenfieber“

Russlands regierende Partei Einiges Russland hat angelegentlich eines Festes zum „Tag der Familie, Liebe und Treue“, eine neue Fahne vorgestellt. Vater, Mutter und drei Kinder sind darauf stilisiert abgebildet und mit dem Text versehen „Wirkliche Familie“. Das Anliegen dieses Banners ist unmissverständlich, und Alexei Lisowenko als Repräsentant der Moskauer Parteizentrale hat sie für den, dem es nicht aufgehen sollte, in der Iswestia erklärend kommentiert: „Das ist unsere Antwort auf die gleichgeschlechtliche Ehe, auf die Verspottung des Konzepts der Familie. Wir müssen vor dem Schwulenfieber warnen und unsere traditionellen Werte unseres Landes verteidigen.“
In Russland ist es übrigens verboten, gegenüber Kindern über das Thema Homosexualität zu sprechen. Über den Spaß am Schießen und gegebenenfalls Töten darf hingegen angeregt geplaudert werden. Die opulente Waffenschau der russischen Armee beim jüngsten und größten Rockfestival des Landes hat dabei gewiss eine besonders interessante Klientel von – wenngleich reiferen – Kindern erreicht. Inwieweit amtlich überprüft worden ist, ob auch Schwule in die Panzer klettern und Raketenwerfen simulieren durften, ist nicht bekannt.

Horst Jacob

Aus anderen Quellen

Der Mord an Osama bin Laden „war der Höhepunkt von Barack Obamas erster Amtszeit und trug in erheblichem Maße zu seiner Wiederwahl bei“, so beginnt der Pulitzer-Preisträger Seymour M. Hersh, der 1969 durch die Aufdeckung des US-Massakers in My Lai weltberühmt wurde, seinen Beitrag und fährt fort: „Das Weiße Haus behauptet nach wie vor, es habe sich bei der Mission um eine rein amerikanische Aktion gehandelt; weder Pakistans höchste Militärs noch der Nachrichtendienst – die Inter-Services Intelligence Agency (ISI) – des Landes hätten von dem bevorstehenden Handstreich gewußt.“ Das Weiße Haus lüge in der causa Bin Laden nicht nur in dieser Hinsicht. Schon die Basisinformation über den Aufenthaltsort Bin Ladens in Abbottabad sei nicht durch verschärfte Verhöre, sprich: Folter, Gefangener gewonnen worden, sondern stamme von einem pakistanischen Ex-Geheimdienstler, der sie gegen Cash der US-Botschaft in Islamabad angeboten hatte. Bin Laden sei ein Gefangener der ISI in dem Objekt gewesen, in dem er von US-Navy Seals erschossen wurde. Und die Einbindung der Spitze des pakistanischen Militärs und des Geheimdienstes sei die Voraussetzung dafür gewesen, die Seals-Mission zu einem risikolosen Unternehmen zu machen, indem nicht nur die pakistanische Luftabwehr die beiden Hubschrauber des Seals-Kommandos unbehelligt ein- und ausfliegen ließ, sondern sich auch in Abbottabad nichts rührte, als einer davon abgestürzt war. Überdies habe es auf dem gesamten Gelände von Bin Ladens Unterkunft keine Waffen gegeben …
Seymour M. Hersh: Der Tod Osama bin Ladens. Lügen, Logik, Tatsachen – eine kritische Rekonstruktion der Ereignisse, Lettre INTERNATIONAL, Nr. 109, Sommer 2015. Zu einem längeren Exzerpt hier klicken.

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Unkritische oder einäugige Prediger des technischen Fortschritts gehen auch heute noch mit dem gebetsmühlenartig wiederholten Mantra unters Publikum, dass ständige Weiterentwicklung komplexe großtechnische Systeme immer sicherer machten. Dabei hat der US-Soziologe Charles Perrow bereits vor über 30 Jahren den Nachweis geführt, dass solche Systeme nie völlig und auf Dauer fehlerfrei sind, ja gar nicht sein können (deutsch – Normale Katastrophen: Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Campus Verlag 1988). Trotzdem haben die Sicherheitsstandards etwa bei Verkehrsflugzeugen seither nicht nur neue Dimensionen erreicht, sondern wahrscheinlich bereits ein Niveau, dass für den menschlichen Faktor im Falle von Fehlfunktionen nur noch bedingt oder auch nicht mehr beherrschbar ist – wie der Absturz des Air France Fluges 447 über dem Atlantik im Jahre 2009 nahelegt. „Es war eine hochqualifizierte Besatzung,“ schreibt der US-Journalist und frühere Pilot William Langewiesche in seinem sehr detaillierten Beitrag, „die in einem tadellosen Großraumjet vom Typ Airbus A330 […] unterwegs war. Selbst heute – nach Bergung der Flugschreiber vom Grund des Atlantiks, trotz technischer Gutachten und eingehender Untersuchungen französischer Gerichte – bleibt es schier unvorstellbar, daß Flug 447 abgestürzt ist. Eine minimale Fehlfunktion leitete die Katastrophe ein, ein momentaner Ausfall des Fluggeschwindigkeitsmessers – ein Informationsproblem von der Dauer eines Wimpernschlags während eines unbeschleunigten horizontalen Geradeausflugs. Die Piloten waren überfordert; es scheint absurd.“ Denn trotz ihrer nachgewiesenen Qualifikation verfiel die Besatzung „kurz vor ihrem Tod in eine kopflose Hektik […]. Wobei allerdings gerade diese Kopflosigkeit an sich aufschlußreich ist, scheint sie doch ihre Ursachen in eben den Fortschritten beim Bau von Flugzeugen und deren Führung zu haben, die für die Verbesserung der Flugsicherheit während der letzten vierzig Jahre verantwortlich waren. Kurz gesagt, durch die Automatisierung ist es zunehmend unwahrscheinlich geworden, daß Verkehrspiloten sich im Alltagseinsatz in einer akuten Krisensituation sehen; auf der anderen Seite ist es auch zunehmend unwahrscheinlich geworden, daß sie einer solchen Krise, sollte sie denn doch eintreten, auch tatsächlich gewachsen sind.“
William Langewiesche: Der menschliche Faktor. Warum AF 447 vom Himmel stürzte, Lettre INTERNATIONAL, Nr. 109, Sommer 2015. Zu einem längeren Exzerpt hier klicken.

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„Warum aber sind die USA unentbehrlich?“, fragt Xenia Wickett, Projektdirektorin im Londoner Think Tank Chatham House, aber nur rhetorisch, denn die – facettenreiche – Antwort gibt sie selbst: „Für die Bewältigung der meisten, wenn nicht aller wichtiger Herausforderungen, denen sich die Welt heute stellen muss, ist die Beteiligung der USA auf die eine oder andere Weise notwendig. Die Beurteilung, welche globale Problematik welchen Stellenwert hat, hängt vom jeweiligen Standpunkt ab, doch es dürfte unstrittig sein, dass zu den größten Problemen der heutigen Zeit Terrorismus, Pandemien (wie Ebola), die Klimaveränderung, knappe Rohstoffe (wie Energie, Nahrung und Wasser), traditionelle Konflikte zwischen Staaten in Osteuropa und im asiatisch-pazifischen Raum sowie Unruhen im Nahen Osten zählen. Dieser langen Liste lassen sich Probleme wie wirtschaftliche Instabilität, humanitäre Tragödien und Naturkatastrophen sowie der Einsatz von Massenvernichtungswaffen hinzufügen.“ Das mag, da die USA bei etlichen der genannten Probleme zu den Hauptverursachern zählen, in amerikakritischen Ohren wie platte Apologetik klingen, aber Wickett ist diese verflochtene Dialektik durchaus bewusst: „Im Hinblick auf die Klimaveränderung wird den USA, die weltweit den größten CO2-Ausstoß zu verantworten haben, zwar eine Verschleppungstaktik vorgeworfen. Doch eine Lösung wird ohne die Amerikaner nicht möglich sein.“ Und gänzlich unkritisch ist die Politologin im Übrigen nicht: „Unentbehrlichkeit bedeutet nicht unbedingt, dass die USA immer die richtigen politischen Entscheidungen treffen oder diese immer mit den richtigen Mitteln durchsetzen.“
Xenia Wickett: Weshalb die Vereinigten Staaten unverzichtbar bleiben, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 15.06.2015. Zum Volltext hier klicken.

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„Nach einem Rückgang der deutschen Exporte nach Russland um 6,5 Milliarden Euro im Jahr 2014“, heißt es in einer aktuellen Pressemeldung, „rechnet der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft für 2015 mit einem Einbruch um weitere neun Milliarden Euro. ‚Die aktuellen Zahlen übertreffen selbst unsere schlimmsten Befürchtungen. Die negative Entwicklung seit Beginn der Sanktionen bedroht in Deutschland unmittelbar 150.000 Arbeitsplätze‘, sagte Ost-Ausschuss-Vorsitzender Eckhard Cordes in Berlin.“ Weiter heißt es: „In den ersten vier Monaten 2015 waren die deutschen Exporte nach Russland um 34 Prozent zurückgegangen, deutsche Exporte in die Ukraine sanken um 30 Prozent. Nach Prognosen des Ost-Ausschusses werden sich die deutschen Exporte nach Russland im Vergleich zum Rekordjahr 2012 bis Ende 2015 halbiert haben und nur noch bei rund 20 Milliarden Euro liegen.“ Auf die politische Dimension verweist Cordes‘ Forderung: „Damit der Friedensprozess endlich an Fahrt gewinnt, muss die EU ihre trilateralen Gespräche mit Russland und der Ukraine intensivieren und durch die Lockerung der Wirtschaftssanktionen begleiten. Wir brauchen den Einstieg in den Ausstieg aus den Sanktionen.“
Ost-Ausschuss fordert Abbau von Sanktionen, Pressemitteilung, 26. Juni 2015. Zum Volltext hier klicken.