17. Jahrgang | Nummer 10 | 12. Mai 2014

Bemerkungen

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Richard von Weizsäcker, 1985

Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.
Aus dem Buchenwaldschwur 1945

Helga Königsdorfs letzter Protest

Helga Königsdorf ist nun leise gegangen. Ihre Bücher sind seit Jahren nicht mehr erhältlich. Und doch, sie war eine der wichtigen Autorinnen der DDR, genannt neben Christa Wolf, Brigitte Reimann, Maxi Wander …In den Wendejahren war sie eine nicht zu überhörende Stimme – mir sehr wichtig. In einer der damals emotional geführten Diskussionen um den Verlust der DDR hatte sie sinngemäß gesagt: Was wir vermissen ist nicht die DDR, sondern unser Traum von ihr. Wir wären in rumänische Zustände gekommen… Das war eine sehr gewichtige Wortmeldung – und hat mir damals sehr geholfen, mich nicht an die Wirren dieser Zeit zu verlieren.
Helga Königsdorf kannte ich aus ihren skurrilen Kurzgeschichten, die mich mit ihren ungewohnten, ja extremen Wendungen überrascht hatten. Eine schreibende Mathematikerin mit solchem Humor und schräger Phantasie. „Meine ungehörigen Träume“ war ihr erster Erzählband. Sie war 40 Jahre alt, als er veröffentlicht wurde. Ihr Name stand für die Emanzipation der Frau; sie war deren gutes Beispiel und setzte sich zugleich kritisch mit dem erreichten Stand der Gleichberechtigung auseinander, die ja oft genug von den Frauen mit Doppel- oder Dreifachbelastung bezahlt wurde.
Seit 1990 widmete sie sich ganz dem Schreiben. Die Jahreszahl lässt vermuten, dass es vielleicht auch keine andere Wahl gab. Es erschienen „Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds“ (1990), „Aus dem Dilemma eine Chance machen“ (1991), die Romane „Im Schatten des Regenbogens“ (1993), „Die Entsorgung der Großmutter“ (1997) sowie der Band „Über die unverzügliche Rettung der Welt“. Welch wunderbare Titel! Schon lange litt sie schwer an der Parkinson-Krankheit, die nach und nach ihre Energien auffraß. 2002 wurden ihre Memoiren „Landschaft in wechselndem Licht“ veröffentlicht. Eine Wiederauflage erfolgte 2005. Seitdem war es ruhig um sie und leider auch ihr Werk geworden. Sie ist 75-jährig in einem Berliner Pflegeheim gestorben. „Ich gehe unter Protest. Ich hätte so gern gesehen, wie es weitergeht.“ Ja, dieser Protesterklärung möchte man sich anschließen.

Margit van Ham

Sächsische Rechtsbräuche

Ein Staatsanwalt vertritt den Staat, also dessen Auslegung des Rechtes, nicht das Recht selbst. Staatsanwälte sind Beamte. Sie sind in Hierarchien eingebunden – und natürlich dem Weisungsrecht ihrer Vorgesetzten unterworfen. Das ist „ganz oben“ der zuständige Minister, die zuständige Ministerin. Die wurden nicht gewählt, um „unpolitisch“ zu handeln. Staatsanwälte klagen immer im Auftrage der Herrschenden an. Manche sprechen daher von Klassenjustiz. Das ist falsch. Da Staatsanwälte immer politisch ausgelegte Rechtspositionen durchzusetzen haben – und politische Auffassungen etwas mit Gesinnungen zu tun haben –, wäre es korrekter, von „Gesinnungsjustiz“ zu sprechen. Leider ist der Begriff im Deutschen pejorativ besetzt.
Geradezu lehrbuchhaft handelt in diesem Sinne die Staatsanwaltschaft des Freistaates Sachsen. Alljährlich versucht sie beispielsweise im Februar, das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit durchzusetzen. Zur Erinnerung an die Opfer des „Bombenterrors“ (der Begriff ist eine Kreation Joseph Goebbels’) vom Februar 1945 will dann regelmäßig die NPD durch die Dresdner Innenstadt marschieren. Ebenso regelmäßig versuchen Antifaschisten, dies durch Sitzblockaden zu verhindern. In diesem Jahr wurde die Innenstadt außerdem zum wiederholten Male durch eine Menschenkette abgesperrt. Der Unterschied? Gegen etliche Teilnehmer der Sitzblockaden ermittelte die sächsische Staatsanwaltschaft bundesweit wegen der Behinderung einer genehmigten Demonstration, nämlich der NPD. Gegen die anderen Behinderer, die Veranstalter der Menschenkette – die dasselbe Ziel wie die Sitzblockierer verfolgten – wurde dies nicht getan. 2013 stand zum Beispiel Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) in der Kette. Eine honorige Tat. Hätte er sich zur Teilnahme an der Sitzblockade hinreißen lassen, wäre unter Garantie nicht gegen ihn ermittelt worden. Es wäre überhaupt nicht ermittelt worden. Auch die Berliner Staatsanwaltschaft stellte im Mai 2010 ein Ermittlungsverfahren „wegen zu geringer Schuld“, wie der Spiegel zitierte, ein. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hatte sich sitzend gegen einen NPD-Aufmarsch zur Wehr gesetzt. Man hätte die Immunität eines Bundestagsvizepräsidenten aufheben müssen. Die Staatsanwaltschaft sieht also gute, und sie sieht böse Demonstranten. Eine Blockade ist etwas anderes als eine Blockade. Das ist übersichtlich.
Schwieriger war die Situation jüngst in Leipzig. Im Juni 2012 hatte die Leipziger LINKEN-Stadträtin Margitta Hollick einen NPD-Mann „Nazi“ genannt. Der erstattete beleidigt Anzeige. Gegen die Stadträtin, die einen Nazi „Nazi“ nannte, wurde prompt ein Strafbefehl in Höhe von 1.600 Euro verhängt. Das Wort sei ehrverletzend. Frau Hollick blieb stur und legte Widerspruch ein. Es kam zum Prozess. Staatsanwalt Christoph Kurczynski wiederholte den Vorwurf, dass das „N“-Wort ehrverletzend sei. Am 29. April endete das Ganze mit einem Freispruch Hollicks. Sie habe ihre Äußerung öffentlich getätigt. Eine Beleidigung könne „in einem politischen Kontext“ rechtlich durchaus zulässig sein. So die Argumentation der Richterin. Nach dieser Logik darf man in Sachsen Nazi sein, man darf aber keinem Nazi ins Gesicht sagen, dass er einer ist. Das ist dann eine Beleidigung. Es sei denn im Rahmen einer politischen Debatte. Das ist eine klasse klassische politische Rechtsauslegung.
Was macht die sächsische Justiz nun mit dem Leipziger OB Burkhard Jung (SPD)? Der lehnte am 16. April die Entgegennahme einer Petition gegen einen Moscheebau ab: „Ich nehme von Nazis persönlich keine Petition entgegen“, zitierte ihn die LVZ. Dann fiel auch noch das Wort „Rattenfänger“. Ich sehe den OB schon in den Kasematten des Königsteins… Obwohl Rattenfänger, wie wir aus der Geschichte Hamelns wissen, ein ehrenwerter Beruf sein kann.

Günter Hayn

Nationalismus

Daß du nicht meiner Mutter Sohn,
das wird mich dauernd empören.
Es ist und bleibt der Stolz der Nation,
zur andern nicht zu gehören.

Karl Kraus

Aus: Die Fackel, Nr. 551, August 1920.

Deutsche Politik in der Ukraine 1914/18

In diesem Heft beschreibt Renate Drommer den literarischen Blick Michail Bulgakows auf die Ukraine in der Zeit um den 1.Weltkrieg herum. Götz Aly ergänzt diesen in der Berliner Zeitung mit Zitaten aus deutscher Politik in der Ukraine von 1914 bis 1918. Er entnahm diese Zitate dem offensichtlich sehr lesenswerten Buch von Claus Remer „Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen von 1917/18“, erschienen im Jahre 1997. Hier ein paar sehr erschreckend aktuelle Kostproben:
1914: Der Staatssekretär des Auswärtigen beschreibt wichtige Ziele der „Insurgierung nicht nur Polens, sondern auch der Ukraine“:
„ 1. als Kampfmittel gegen Russland, 2. weil im Falle glücklichen Kriegsausganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zweckmäßig würde, [… um] Russland möglichst nach Osten zurückzudrängen.
1916: Exkanzler Bernhard von Bülow sagt Kriegsziel bleibe: „ dass Russland entweder politischer oder sozialer Zersetzung verfällt oder die Ukraine, seine Kornkammer und die Basis seiner Industrie, verliert.“
Diesem Ziel diente dann die Beförderung Lenins aus dem Exil in der Schweiz nach Petersburg.  Kaiser Wilhelm II. 1917: „Ukraine autonom mit Freistellung, sich später uns anzuschließen.“
Aly verweist darauf, dass diese bösartige Politik Deutschlands im 1. Weltkrieg eine schreckliche Steigerung im 2.Weltkrieg fand –  und dass traumatisierende Gewalttaten sehr lange im Gedächtnis der Menschen haften bleiben und ihre Folgen in der Gegenwart zeigen.

mvh

WeltTrends aktuell

Im Januar dieses Jahres hielten 40 Prozent der Deutschen die Beziehungen zu den USA für schlecht, über 90 Prozent hatten kein Vertrauen in die Worte des einst umjubelten US-Präsidenten Obama. So die Stimmungslage im transatlantischen Verhältnis 25 Jahre nach der deutschen Einheit. Sicher, es gibt weiterhin enge wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zwischen beiden Staaten. Die USA sind der zweitgrößte deutsche Exportmarkt; „noch“ muss man ergänzen, denn China folgt unmittelbar. Deutsche Investitionen in den USA sind mit 200 Milliarden US-Dollar erheblich. Über 50 Millionen US-Bürger haben deutsche Wurzeln. Aber die Bindungen, die sich vor allem im Kalten Krieg mit dem westlichen deutschen Teilstaat herausgebildet hatten, werden schwächer und dünnen aus. Neue Generationen von Politikern, mit deutlich weniger Erfahrungen und Kenntnissen voneinander, haben heute auf beiden Seiten des Atlantiks das Sagen.
Vor diesem Hintergrund beleuchten Autoren wie Erhard Crome, Robert O. Keohane, Henriette Rytz, Joscha Schmierer und andere das Schwerpunktthema „Die USA und WIR“ in der jüngsten Ausgabe von WeltTrends.

am

WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 95 – März / April 2014 (Schwerpunktthema: Die USA und WIR), Potsdam / Poznan, 9,50 Euro (für Bezieher des Newsletters: 6,- Euro) plus Porto. Weitere Informationen im Internet: www.welttrends.de.

Heiligsprechung im Doppelpack: War Gott dagegen?

Dass der Ritus der Heiligsprechung durch die Katholische Kirche, konkret den jeweils seines Amtes als Stellvertreter Gottes waltenden Papst, Hunderttausende von Gläubigen auf die Straßen treibt und mehr als nur einen Petersplatz füllt, war am Sonntag, den 27. April, wieder einmal augenfällig. Zwei Päpste, Johannes XXIII. und Johannes Paul II., wurden geheiligt, und zwei weitere Päpste, Franziskus und Benedikt XVI., waren beteiligt.
Bekanntlich müssen als Voraussetzung für solch eine Heiligsprechung vom Kandidaten zwei Wunder bezeugt sein, die er nach seinem Ableben gewirkt hat. Dafür eignen sich Heilungen tödlicher Krankheiten besonders gut – wie im Falle Johannes Paul II., der eine Nonne von Parkinson und eine Costa Ricanerin von einem inoperablen Aneurysma kuriert haben soll.
Auf die parallele Heiligsprechung beider Ex-Päpste hatte Franziskus dem Vernehmen nach großen Wert gelegt: Der als liberaler Reformer geltende Johannes XXIII. sollte dabei quasi ausgleichen, was Johannes Paul II. als reaktionäre Hinterlassenschaft in Sachen rigoroser Verhütungs- und Abtreibungsablehnung, Homosexuellenfeidlichkeit und Blindäugigkeit gegenüber Kindes- und anderen Missbrauchsdelikten im Klerus auch aufzuweisen hat. Um die Heiligsprechung im Doppelpack sicherzustellen, wurde Johannes XXIII. daher das zweite Wunder, das er noch nicht gewirkt hatte, in aller Stille erlassen …
Ob dieser Regelverstoß oder doch eher das Unheilige im Wirken Johannes Paul II. den Chef erzürnt hat, wird abschließend kaum zu klären sein. Aber dass er erzürnt war, daran kann aus katholischer Sicht Zweifel eigentlich nicht bestehen – auch wenn die Zornesentäußerung ebenso makaber wie für den Betroffenen tragisch war: Drei Tage vor dem Vier-Päpste-Event wurde, wie Die Welt unter dem fragenden Stichwort „Schlechtes Omen?“ berichtete, im norditalienischen Cevo – nahe der Stadt Brescia – ein junger Mann von einem riesigen Kruzifix (Höhe: 30 Meter) erschlagen. Das Opfer hatte sich mit anderen Pilgern am Fuß des Kreuzes zu einem Picknick gelagert, als der Balken plötzlich zu knirschen begann und herunterbrach. Das Kruzifix, in das der sinnige Spruch geschnitzt war „Das Kreuz bleibt fest während die Welt sich dreht.“, war Johannes Paul II. gewidmet worden, als dieser 1998 Brescia besuchte. Und auch Johannes XXIII. hat einen gewissen Anteil an der Tragödie vom 24. April. Der junge Mann wohnte in seinem Heimatort Lovere in der Via Giovanni XXIII., also in jener Straße, die nach diesem Papst benannt ist.
Falls Gott damit ein Zeichen setzen wollte, wäre ihm auch dieses gründlich misslungen.

Sarcasticus

Saubermann Obama

Wer wie die USA die ersten Atombomben dieser Welt mal eben an einem anderen Volk, Japan, getestet hat, sollte bis heute eigentlich gehalten sein, bei Reisen dorthin besonders sensibel aufzutreten. Das gilt umso mehr für jemanden wie den US-Präsidenten, der qua Amt gleich für ganz Amerika zu sprechen pflegt. Obamas Hinweis auf die von Japan im 2. Weltkrieg begangenen Entführungen vornehmlich koreanischer Frauen als Zwangsprostituierte für japanische Soldaten und seine Mahnung, diese Gräuel weder zu vergessen, noch auch nur herunter zu spielen, sondern diese aufzuarbeiten, ist zwar mit Sicherheit ebenso wenig fehl am Platze wie die Erinnerung der Türkei an das von ihm verantworteten Genozid an den Armeniern vierzig Jahre zuvor. Nur: Würden sich die Vereinigten Staaten daran machen, den von ihnen verursachten Dreck in den historischen Beziehungen der Völker im Sinne dieses „Ratschlages“ vor der eigenen Tür zu kehren – eine globale Staubwolke wäre sicher; und „Feinstaub“ wäre es nicht, der dann aufgewirbelt würde.

Hella Jülich

Vorreiter

Wahlkampfrhetorik wird wohl nur von wenigen ernst genommen, praktiziert wird sie dennoch stets mit dem Anspruch der Verkündigung letzter Wahrheiten. Was die Sozialdemokraten betrifft, so gehören Forderungen nach mehr Gerechtigkeit, fairem Welthandel und nach einer angemessenen Vergütung von Arbeit (Mindestlohn) zu den unverzichtbaren Standards in allen bedruckten Papieren, die in die jeweilige Wahlkampfschlacht geworden werden.
Nun kostet Wahlkampf viel Geld, je größer die Parteien, umso höher die Tonnenzahl der in die Republik gestreuten Plakate, Poster, Flyer, Broschüren, Fähnchen und andere bunte „Winkelemente“. Umso höher allerdings auch der jeweilige Beitrag der Steuerzahler dazu, der den Parteien in Gestalt des Wahlkampfkostenzuschusses in die Taschen fließt.
Das ist hier aber nicht das Thema. Vielmehr ist es ein Detail jener Doppelmoral, die Politik hienieden schon lange auszeichnet und zur Abkehr von immer mehr Menschen vom Politischen einen lebhaften Beitrag leistet. Denn sieht man an, woher – zum Beispiel – die SPD einen nicht geringen Teil ihrer Wahlkampfartikel bezieht, so mag seinen Augen nicht recht trauen. Fußbälle (mit dem illustren Aufdruck „Antreten für unser Land“) kommen aus Pakistan, Gummienten oder Display-Reinigungstücher, Tragetaschen, To-Go-Kaffeetassen und mindestens ein weiteres halbes Dutzend, zumeist Plastik-Werbeartikel wiederum aus China. Beides Länder mit einer sehr unterschiedlichen sozialwirtschaftlichen Entwicklung – dennoch mit Sicherheit keine, in denen die dortigen Produzenten nach unseren Vorstellungen „gerecht“ entlohnt werden, auch dann gewiss nicht, wenn alle diese Artikel im Auftrag gefertigt worden sind, wie die allgegenwärtigen SPD-Schriftzeichen und Logos bestätigen; von der Ökobilanz dieser Art sozialdemokratischen Welthandels per Luft- und Seeverkehr ganz zu schweigen. Aber wenn man doch so die Parteikassen schonen kann, ist das Hemd eben doch näher als die Hose.
„Europa muss mit deutlicher Stimme sprechen und über die notwendigen Instrumente verfügen, um bei der Förderung von weltweitem Frieden, Demokratie und Wohlstand eine Vorreiterrolle zu übernehmen“, heißt es im SPE*-Manifest „Für ein neues Europa“, dass am 1. März 2014 durch den SPE-Wahlkongress in Rom bestätig worden war. Das ist schön. Der Teufel liegt eben nur mal wieder im Detail.

*Sozialdemokratische Partei Europas; Hervorhebung im Original

HWK 

Aus anderen Quellen

„Die Annexion der Krim gefährdet auch den Frieden in der Welt: Sprachliche Minderheiten jenseits einer Grenze dürfen nicht zum Vorwand für Landnahme werden“, meint Klaus von Dohnanyi und fügt hinzu: „Gerade für die Vereinigten Staaten sollte Putins Lagebeurteilung so schwer verständlich nicht sein. Als Fidel Castro 1959 die Macht auf Kuba gewann, kam er den Vereinigten Staaten so nahe, dass Kennedy 1961 einen militärischen ‚Befreiungsversuch‘ unternahm.“ Denen, die zur Krisenbewältigung auf Konfrontation setzen, schreibt er ins Stammbuch: „Die Geschichte lehrt […]: Russland mit militärischen Mitteln zurückzudrängen war noch nie erfolgreich.“ Und: „Nur einmal gelang es […] in den letzten 200 Jahren, die Grenzen Russlands erfolgreich nach Osten zurückzudrängen: durch Entspannungspolitik.“
Klaus von Dohnanyi: Was sie in die Knie zwingt, Frankfurter Allgemeine, 28.04.2014. Zum Volltext hier klicken.

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„Wer jetzt vor dem Krieg in Europa warnt,“ so Jakob Augstein „schätzt die Lage nüchtern ein. Aber es ist nicht die absichtliche Konfrontation, die wir fürchten sollten. Sondern der zufällige Zusammenstoß, der zur Katastrophe wird.“ Sein Fazit: „Darum kann es jetzt nur eine Antwort geben: Der Westen muss sich aus diesem Konflikt zurückziehen.“ Und zu der Frage, was aus der Ukraine wird: „Wenn die Zukunft der Ukraine […] der Zerfall ist, sollte der Westen nicht versuchen, ihn aufzuhalten. Niemand trägt einen Schaden davon, wenn die östliche Ukraine sich Russland zuneigt und die westliche der Europäischen Union.“
Jakob Augstein: Krieg aus Versehen, Spiegel Online, 28.04.2014. Zum Volltext hier klicken.

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Zuvor als „Streng geheim“ klassifizierte, jetzt frei gegebene NATO-Dokumente offenbaren, dass das westliche Bündnis nach dem Mauerbau von 1961 für den Fall weiterer Berlin-Krisen auch nukleare Angriffsoptionen plante. In einem Beitrag der Welt über eine aktuelle diesbezügliche Publikation des Historikers Klaus Storkmann heißt es: „Da ist die Rede von einer Kernwaffenexplosion über einem ‚Nicht-Ziel‘, die ‚keinen Schaden‘ hervorrufen sollte, möglichst in der Nähe eines militärischen Stützpunktes. Noch weiter ging eine zweite Variante, ein luftgestützter Nuklearwaffenangriff auf ein rein militärisches Ziel ‚abseits von Bevölkerungszentren‘.“
Sven Felix Kellerhoff: Nato sah Nuklearangriff als Option in Berlin-Krise, Die Welt, 12.04.2014. Zum Volltext hier klicken.

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„Fehlalarme, technische Defekte, verlegte Zündungscodes: Unzählige Male ist die Welt nur haarscharf an einer weiteren Atombombenkatastrophe vorbeigeschrammt.“ So beginnt ein Bericht der Süddeutschen Zeitung über eine Untersuchung von insgesamt 13 einschlägigen Fällen, die der renommierte britische Thinktank Chatham House vorgelegt hat. „Eine erste wichtige Erkenntnis […]: Keine Nation ist davor gefeit, dramatische Fehler zu begehen.“ Und: „Nur in knapp einem Drittel der 13 Fälle spielte die Eskalation eines militärischen Konflikts eine entscheidende Rolle. Häufiger waren schlicht Missverständnisse, Fehleinschätzungen oder technische Defekte verantwortlich dafür, dass beinahe gezündet worden wäre.“ Und dieses Risiko habe in den vergangenen Jahren keinesfalls abgenommen, betonten die Experten des Chatham House und verwiesen unter anderem auf die weitere Verbreitung von Atomwaffen.
Risikobericht zu Nuklearwaffen. Ganz dicht an der Explosion, Süddeutsche Zeitung, 01.05.2014. Zum Volltext hier klicken.

Reminiszenz

Die Geschichte kennt sowohlals auch – und nicht selten parallel, wie gerade die aktuelle Krise um die Ukraine wieder einmal zeigt.
Vor 40 Jahren titelte der Der Spiegel in seiner Ausgabe vom 29. April 1974: „Fall Guillaume. DDR-Spion im Kanzleramt“, doch die nämliche Nummer enthielt unter der Überschrift „Stufenplan aus Ost-Berlin“ auch folgende Meldung: „Aus der DDR kommt zum ersten Mal ein konkreter Vorschlag zur militärischen Entspannung in Europa. Der Direktor des Ost-Berliner Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft, Professor Herbert Bertsch, 44, legte über den Sender ‚Stimme der DDR‘ einen Zehnjahresplan vor, der dem Rapacki-Plan aus dem Jahr 1957 ähnelt und über den allgemein gehaltenen Vorschlag des Warschauer Paktes vom vorletzten Donnerstag hinausgeht. Danach sollen die Militärblöcke Nato und Warschauer Pakt zunächst noch bestehen bleiben. In der ersten Etappe (Dauer: zwei bis drei Jahre) sind jedoch bereits eine ‚Minderung der militärischen Konfrontationen in Mitteleuropa‘, gegenseitige Konsultationen und der Ausbau der Vertragssysteme vorgesehen. In der zweiten Etappe (gegen Ende der siebziger Jahre) soll ein europäisches Sicherheitssystem schon als ‚Institution‘ die vorhandenen Militärblöcke überlagern und sollen militärisch verdünnte Zonen ‚über Mitteleuropa hinaus die Nord- und Südbereiche unseres Kontinents umfassen‘. Als dritte Etappe (bis 1984) empfiehlt Bertsch einen ‚Übergang zu entwickelteren Formen des Systems der militärischen Sicherheit‘. Laut Europa-Planer Bertsch, der 1970 die ersten Vorschläge für einen Grundvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik nach Bonn gebracht hatte, hängt alles davon ab, ‚wie erfolgreich sich die Friedenskräfte durchsetzen, um die diesen Prozeß hemmenden Tendenzen zu überwinden‘.
Zu korrigieren ist der Ordnung halber: Bertsch war zu keiner Zeit Direktor des IPW. Doch die Berufung dazu durch das Zentralorgan respektive Sturmgeschütz der Demokratie gehört zu den eher lässlichen Fehlern, die dessen Redaktion im Laufe der Jahre auch unterlaufen sind.

hpg

Mehr als nur Schafe oder die Tochter von Hans…

Die Färöer sind eine Gruppe von 18 Inseln, die in der Mitte des atlantischen Ozeans zwischen Island und Schottland liegen. Sie haben denselben autonomen Status wie Grönland im Königreich Dänemark.
Für Fußballfans waren die Färöer kurzzeitig Gesprächsstoff, denn die deutsche Fußballnationalmannschaft hatte im Vorfeld der diesjährigen Fußball-WM zwei Qualifikationsspiele gegen die Färöer zu bestreiten. Der großdeutsche Fußballchauvinismus stürzte sich despektierlich auf die Bedeutung dieses Wortes, denn Färöer heißt übersetzt Schafsinseln. Und es war für viele nicht vorstellbar, dass in einem Land von knapp 50.000 Einwohnern annähernd doppelt so viele Schafe leben. Neben Schafszüchtern und leidenschaftlichen Fußballamateuren gibt es auf den Färöern auch eine entdeckenswerte Kulturszene.
Die 1980 geborene Guðrið Hansdóttir hatte im Vorjahr – neben weiteren Konzerten in Deutschland, Österreich und der Schweiz – einen beachtlichen Auftritt beim Nürnberger Bardentreffen. Mit ihrem selbstgewählten Nachnamen (Hansdóttir steht für „Hans’ Tochter“) zeigt sie die Verbundenheit zu ihrem Vater, dem Gitarristen Hans Carl Hansen. Dessen musikalisches Faible lebt in ihr fort.
Nach drei Soloalben seit 2007 hatte sie sich im Vorjahr auf das Electro-Projekt BYRTA konzentriert. Mit der Mini-CD „Taking Ship“ hat sie nun Gedichte von Heinrich Heine vertont. Es sind nicht die politischen Gedichte, sondern einige sehr gefühlvolle Liebesgedichte, zwischen Liebesglück und Liebesschmerz, die Guðrið Hansdóttir ausgewählt und übersetzt hat:
Etwa:
Du hast Diamanten und Perlen,
Hast alles, was Menschenbegehr,
Und hast die schönsten Augen –
Mein Liebchen, was willst du mehr?

oder :
Du bist wie eine Blume,
So hold und schön und rein;
Ich schau dich an, und Wehmut
Schleicht mir ins Herz hinein.

Guðrið Hansdóttir kleidet die Worte von Heine in verträumte Folkmusik, sehr sparsam, aber auch sehr gefühlvoll instrumentiert. Besonders intim wirken die Stücke, wenn sie nur vom Piano begleitet sind.

Thomas Rüger 

Guðrið Hansdóttir: Taking Ship, Mini-CD, Label: „Beste! Unterhaltung“, circa 10 Euro.

Spargel zum Kochen und Lesen

Nun ist die Zeit ran, fast zu früh, in der wieder der Spargel in all seinen Varianten geerntet wird. Ob nun Arpars, Gotteskraut, Hosendall, Korallenkraut, Teufelsstengel oder einfach Weiß- bzw. Grünspargel, jedes Teil bedarf der besonderen Pflege im Vorfeld und bei der Ernte. Der Weißspargel wird, bevor er rein und unschuldig in den Körben landet, noch 25 Zentimeter tief gestochen, was beim Grünspargel nicht notwendig ist, da die essbaren Stangen sich der Sonne entgegen recken. Zu DDR-Zeiten wurde gerade diese Art in den Vordergrund gerückt, da der Anbau (keine Häufelung) wie auch die Ernte leichter gelangen und man ihn in untypischen Spargelgebieten anbauen konnte. Die Verarbeitung entspricht dem aristokratischen Spargel, der noch heute eine Art Bückware ist. Zunächst wird der Spargel mit einem scharfen Messer vom Kopfende aus nach unten geschält. Holzige Enden sollte man entfernen. Wer es ganz genau wissen will, der kann die dicken, ausgewachsenen Stangen vorsichtig am unteren Ende kosten, um eventuelle bittere Teile zu entdecken. Alle Abfälle – bis auf die bitteren Enden – gründlich waschen und unter Zugabe von einer kleinen Prise Salz auskochen und später in einer feinen Schale als fertige Spargelsuppe präsentieren.
Die geschälten Spargel (circa 250 Gramm je Person) kurz waschen, zu Portionen zusammenfassen und in leicht gesalzenem Wasser zugedeckt etwa 30 Minuten kochen lassen. In dieser Wartezeit verstärkt man noch das Gefühl auf ein wundervolles und gesundes Essen, indem man zum Sammelband „Alles Spargel oder was?“ (Lappan Verlag) greift und sich an den „heißesten Spargelwitzen“ ergötzt. Es sind aber keine „Kommt ein Spargel zum Arzt“-Witze, sondern herzerfrischende und ziemlich lustige Cartoons der allseits bekannten deutschen Zeichner. Da züchtet eine Frau auf dem Grab ihres Mannes Spargel und meint zur Freundin: „So ist Kurt endlich zu etwas nütze“. Und immer wieder wird verschmitzt und manchmal sehr direkt auf die aphrodisierende Wirkung des Gemüses hingewiesen. Mit dabei sind die „Spaßspargel“ Rudi Hurzlmeier, Kriki, Rattelschneck und Tex Rubinowitz.
Nicht zu lange lachen, denn es gilt die Spargelstangen aus dem Wasser zu nehmen und abtropfen zu lassen und auf vorgewärmte Teller zu legen. Dann wird es polnisch: Alles mit einer Mischung von in Butter gerösteten Semmelbröseln, gehacktem, gekochtem Ei und Petersilie überziehen. Wer unbedingt Fleisch essen muss, der gibt rohen Schinken oder kleine Steaks hinzu.

Thomas Behlert