25. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2022

Bemerkungen

Ein Parteitag

Ein Neustart war angekündigt worden, der Beginn einer Zeitenwende. Ein wenig von der fröstelnden Einsicht geschüttelt, dass die Qualität der Crew auf der Brücke möglicherweise etwas mit der beinahe geschehenen Versenkung des eigenen Schiffes zu tun gehabt haben könnte – eine Steuerfrau hatte sich zeitig genug schon von selbst abgesetzt –, sollte der große Austausch stattfinden. Ein Neustart sei nur mit einer neuen Mannschaft möglich, erklärte die große Kritikerin eines jeden seit Jahren gewählten Kurses am Vorabend der großen Seeleuteberatung. Sie selbst blieb der Veranstaltung fern. Aus Gründen. Ich will die nicht bewerten. Ein Virus ist ein Virus ist ein Virus, hätte die Dichterin Gertrude Stein, die die Menschen kannte, festgestellt.

Den Schaden hatte bei der Neubesetzung der Kapitänspositionen einer ihrer Getreuen. Dem nutzte es nichts, darauf verweisen zu können, er habe das Schiff erst kürzlich vor dem Untergang gerettet. Auch eine verhaltene Distanzierung von der Kritikerin jeglichen Kurses half ihm nicht. Er fiel durch. Überhaupt fielen alle und alles durch, die – beziehungsweise deren Ideen – irgendwie den Frieden auf der Brücke zu stören drohten. Sie wurden auf die Plätze im Maschinenraum verwiesen. Die neue Brücken-Crew ähnelt der alten, auch wenn Gesichter ausgewechselt wurden. Seit Fantomas wissen wir, dass das mit den Gesichtern so eine Sache ist … Zumindest auf der Brücke scheint die große Einheit und Geschlossenheit wieder hergestellt zu sein. Der Genosse Dohlus soll auf seiner Wolke mit leicht grinsendem Gesicht gesehen worden sein.

Das Problem: Wer auch immer gerade von der Brücken-Crew das Steuer in der Hand hat, wird Kurs halten wollen. Nur scheint sich der mit jedem Blick auf die Karte zu ändern … Dann ist da noch der Maschinentelegraf. Vom Steuerruder kommt die Ansage „Volle Kraft voraus“ – im Maschinenraum kommt an „Halbe Kraft zurück“ … Da ist allerdings noch nicht sicher, was das gerade dorthin gesteckte Drittel der Mannschaft veranstalten wird, um dem Dauerstress mit Ölkanne und Putzlappen zu entgehen.

Ein Neustart war angekündigt worden, immerhin hat sich der alte, ächzende Kahn wieder von der Pier losgemacht. Was die Brücken-Crew noch nicht realisiert, ist die schwere See, die ihn draußen erwartet. Den Wetter-Menschen hatte man vorsichtshalber in seine Kajüte gesperrt. Dessen Vorhersagen fehlten gerade noch! Wir haben alles im Griff …

Günter Hayn

Jubiläum in Rudolstadt

Ein beachtenswertes Kultur-Jubiläum kann am zweiten Juliwochenende gefeiert werden. Denn zum 30. Mal findet das Rudolstadt Festival statt.

Dabei reicht die Geschichte dieses Festivals bis in die DDR-Zeit zurück. Im Jahr 1955 fand in Rudolstadt das „1. Fest des deutschen Volkstanzes“ statt. Es wurde zu einem regelmäßigen DDR-Tanz- und Folklorefest, zu dem zahlreiche Gruppen aus Osteuropa anreisten. 1991 dann wurde der musikalische Fokus sozusagen global erweitert … Nicht mehr Musik aus Osteuropa, sondern Weltmusik war und ist nun angesagt.

Ob das Rudolstadt-Festival wirklich – laut Eigenwerbung – Deutschlands größtes und renommiertestes Festival für Roots, Folk und Weltmusik ist, würde ich in Frage stellen. Denn das jährliche „Bardentreffen“ in Nürnberg, mit einer ebenfalls jahrzehntelangen Historie, dürfte (bei freiem Eintritt) noch weit mehr Zuschauer anziehen. Aber Quantitäten sind die eine Seite, Qualität die andere.

Und hier braucht sich Rudolstadt wahrlich nicht zu verstecken. Wer keine Gelegenheit hat(te), das Festival live zu genießen, kann sich zumindest einen repräsentativen Querschnitt ins heimische Wohnzimmer holen … und das auch noch zu einem wahren Schnäppchen-Preis! Denn das ambitionierte Zeitschriftenprojekt Folk Galore veröffentlichte gerade eine Doppel-CD mit 32 Künstlerinnen und Künstlern, die jeweils mit einem Song auf dieser musikalischen Anthologie vertreten sind.

Weltmusik mag eine Schublade sein, doch die Auswahl auf den beiden CDs offenbart es: Sie ist eine sehr, sehr große Schublade. Und so finden sich hier klassische Liedermacher, jiddische Musik, harte Beatrhythmen, wilde Tanzmusik … teilweise bereits in der Vor-Corona-Zeit entstanden.

Meine persönlichen Anspieltipps sind das Wild Strings Trio („Beherovka“), eine slowenisch-französisch-slowakische Musik-Combo, die mit ihrer Kombination aus Balkanmusik, Klassik und Jazz eine unbändige Lebensfreude hörbar versprüht, sowie die Neuaufnahme des Liedes „Ein schönes Lied“ durch den Kabarettisten Andreas Rebers, ursprünglich geschrieben von der westdeutschen Liedermacherlegende Franz Josef Degenhardt.

Various Artists: „Rudolstadt Festival 2022“. Doppel-CD, 2022, Label Folk Galore, etwa 12,00 Euro.

Thomas Rüger

Rosemarie Poschmann (1933–2022) – Eine profunde Editorin

Genau eine Woche nach ihrem Ehemann Henri Poschmann starb am 17. Juni 2022 in Weimar die Herausgeberin Rosemarie Poschmann. Bei jahrzehntelanger Arbeit im Louis-Fürnberg-Archiv erwarb sie sich bleibende Verdienste.

An der Seite der Dichterwitwe Lotte Fürnberg wirkte Rosemarie Poschmann von Fürnbergs Tod 1957 bis zu Lottes Ableben 2004 in der Weimarer Rilke-Straße. Mit ihr und zeitweise gemeinsam mit Gerhard Wolf arbeitete Poschmann seit den sechziger Jahren an der sechsbändigen Werkausgabe (bis 1973) und an einer Publikation des Briefwechsels zwischen Fürnberg und Arnold Zweig – „Dokumente einer Freundschaft“ (1978). Hinzu kommen zwei akribisch kommentierte, opulente Bände ausgewählter Briefe Fürnbergs (1986). Wer dessen Leben kennt (Verhaftung 1939, Exil, Slansky-Prozesse 1952), kann ahnen, wie viele poetische Texte und Briefe verloren gegangen sind. Mit Geduld und Scharfsinn förderten die Herausgeberinnen manches Dokument wieder zu Tage. Poschmanns Kommentare zu den Bänden sind gründlich, strukturiert und kenntnisreich. Das ist insofern der Erwähnung wert, als sich die Editorin dieses immense literarische und historische Wissen autodidaktisch angeeignet hatte.

Bis zum Ende ihres Lebens arbeitete sie mit dem Weimarer Literaturwissenschaftler Henri Poschmann in einer einzigartigen Symbiose zusammen. Nachdem lange Jahre vor allem Fürnberg im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses beider gestanden hatte, kam 1989 eine neue Aufgabe auf das Forscherpaar zu: Sie edierten eine große Georg-Büchner-Ausgabe. Henri hatte da schon einen glänzenden Ruf als Büchner-Experte. Nunmehr arbeiteten beide bis 2006 an einer 2300 Seiten umfassenden Ausgabe, die alle Werke, Briefe, Übersetzungen und ungezählte Dokumente präsentiert. Bereits am Ende dieser intensiven Arbeitsphase ereilte die Herausgeberin eine langwierige, tückische Krankheit.

Doch ergab sich für Rosemarie Poschmann ein neues Projekt, das sie erstmals in einem warmherzigen Text zum 100. Geburtstag ihrer ehemaligen „Chefin“ (2011) erwähnt hatte. Es hätte die Krönung ihres Lebenswerks werden können. Ein druckfertiges Manuskript, ergänzt um ein gründliches Exposé hat sie hinterlassen: „Ich wollte nie fort aus Trautenau“. Erinnerungen von Lotte Fürnberg mit letzten Briefen ihres Großvaters Josef Pfefferkorn aus Prag. Zum einen enthält das (künftige) Buch eine Folge von Briefen, in denen Lotte der Tochter Alena ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen erzählt. Zum anderen werden unveröffentlichte Briefe dokumentiert, die der jüdische Großvater, ein wohlhabender Industrieller, seiner Familie in den Jahren 1939 bis 1942 schickte. Pfefferkorn war es, der 1939 Geld gab, um Alouis, wie er seinen Dichterenkel nannte, den Klauen der Nationalsozialisten zu entreißen. Niemals ist Lotte Fürnberg damit fertig geworden, dass der geliebte Großvater ihren Mann rettete, während sie diesem großzügigen und tapferen Manne nicht helfen konnte. Poschmann spricht von der „Ohnmacht, eine notwendige Hilfe nicht geleistet zu haben“, und dies „als eigene Schuld“ wahrzunehmen.

Die 111 Briefe Pfefferkorns an verstreut lebende Familienangehörige, auch an Lotte und Louis Fürnberg, sind tief erschütternde Dokumente. Sie sprechen davon, wie die Nazis seinen Lebensraum schrittweise und gezielt zerstörten. Pfefferkorn verhungerte 1942 in einem KZ. Gleichermaßen erschüttert, wie klaglos er sein schreckliches Schicksal hinnahm. In diesen finsteren Zeiten wollte er seine Angehörigen noch schonen …

Zu hoffen ist, dass dieses Buchprojekt in angemessener Weise zu den Lesern kommt.

Ulrich Kaufmann

Blätter aktuell

Der russische Überfall auf die Ukraine hat den Hunger auf der Welt deutlich verschärft. Doch bereits zuvor ließen Corona-Pandemie und Klimawandel die Lebensmittelpreise steigen. Diese Entwicklung ist womöglich erst der Anfang eines globalen Trends, warnt der Historiker David Wallace-Wells. Es handelt sich nicht um ein Versagen der landwirtschaftlichen Produktion, sondern um eines der globalen Lebensmittelmärkte. Dirk Messner fragt, wie eine Zeitenwende auch in der globalen Klimapolitik gelingen kann – und wie Europa dafür umdenken muss. Claus Leggewie und Herfried Münkler diskutieren, ob der Westen gegenüber Putin auf einen Regime Change setzen sollte. Hans-Jürgen Urban sieht die deutsche Debatte über den Ukraine-Krieg in einer moralischen Empörungsspirale. Klaus Naumann fordert angesichts der russischen Aggression, Abwehrbereitschaft neu zu definieren. Und Kristin Helberg plädiert im festgefahrenen Syrienkonflikt für eine humanitäre Hilfe, die die Not der Menschen lindert, ohne das Assad-Regime zu stärken.

Weitere Beiträge befassen sich unter anderem mit der Schwäche des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem Ringen zwischen den USA und China um den Indopazifik, der linksgrünen Zeitenwende in Kolumbien und den FDP-Bremsern der Energiewende.

Blätter für deutsche und internationale Politik. Berlin, Juli 2022, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

zusammengestellt von Hannes Herbst

Aus anderen Quellen

„Natürlich“, schreibt Nina Chruschtschowa, „ist der Verzicht auf einen Atomkrieg nicht dasselbe wie Pazifismus. Wie Sacharow, der an der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe beteiligt war, nur allzu gut wusste, vermeidet er lediglich die totale Vernichtung. Im Jahr 1968 schrieb er: ‚Ein Atomkrieg kann nicht mehr (in den Worten von Clausewitz) als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln bezeichnet werden. Er wäre ein Mittel des universellen Selbstmords.‘“

Nina L. Chruschtschowa: Alle reden vom Atomkrieg. Reden sie ihn herbei? Rat an alle: Sacharow lesen!, karenina.de, 06.06.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Auf dem Forum Globsec 2022 in der Slowakei“, berichtet Sourav Roy Barman, „antwortete Jaishankar (Indiens Außenminister – die Redaktion) auf eine Frage nach Indiens offizieller Position zum Ukraine-Konflikt: ‚Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas“.

Sourav Roy Barman: Europe has to grow out of mindset that its problems are world’s problems: Jaishankar, indianexpress.com, 04.06.2022. Zum Volltext hier klicken.

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Wenn man ihr eine Steilvorlage serviert, dann bleibt Sarah Wagenknecht am Ball: „‚Wir werden ärmer werden‘, verkündete der grüne Wirtschaftsminister Habeck kürzlich mit einer Miene, die uns die Unabänderbarkeit dieser Tatsache nachdrücklich vermitteln sollte. Die Aussage dürfte mit der Lebenswelt vieler Menschen übereinstimmen, aber: Wer ist eigentlich ‚wir‘? Immerhin bedeuten steigende Preise auch steigende Erlöse, die bei irgendjemandem am Ende hängen bleiben. Wer immer der Glückliche ist, er wird zumindest nicht ärmer, sondern reicher.“

Sarah Wagenknecht: „Wir werden ärmer werden“, sagt Habeck – und verschweigt, wer den großen Reibach macht, focus.de, 04.05.2022. Zum Volltext hier klicken.

Zusammenstellung: Hannes Herbst

Richtigstellung

In meinem Beitrag „Eskaliert der Ukraine-Krieg?“ (Blättchen 13/2022) hatte ich die Maßeinheit für die Schallgeschwindigkeit mit „G“ angegeben. Blättchen-Autor Bernhard Mankwald hat den Fehler bemerkt und im Forum richtiggestellt: Natürlich hätte es „Mach“ heißen müssen.

Dank an den aufmerksamen „Lektor“ und Bitte um Pardon ob meines Lapsus!

Sarcasticus

Und da wir einmal dabei sind: Alexander Osang interviewte Angela Merkel nicht, wie im Beitrag „Dialog oder Duell mit Russland?“ behauptet, in der Berliner Volksbühne, sondern im Berliner Ensemble.

die Redaktion