25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Eskaliert der Ukraine-Krieg?

von Sarcasticus

Unmittelbar vor Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine, der durch den offiziellen Moskauer Sprachgebrauch („militärische Spezialoperation“) natürlich keinen anderen Charakter angenommen hat, warnte der oberste Kriegsherr Wladimir Putin: „Jeder, der versucht, sich bei uns einzumischen, […] muss mit einer sofortigen Reaktion Russlands rechnen.“ Und zwar mit Konsequenzen für die Einmischer, „wie die sie noch nie zuvor in ihrer Geschichte erlebt haben“.

Im Westen ist dies durchgängig als Drohung mit dem möglichen Einsatz von Atomwaffen interpretiert worden. Und Putins Erklärung vom 27. Februar 2022, er habe die Abschreckungskräfte seines Landes in besondere Kampfbereitschaft versetzt, sowie anschließende weitere Auftritte des Präsidenten haben diese Sichtweise nicht entkräftet. Zumal Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew Mitte April nachlegte: Im Falle eines NATO-Beitritts von Finnland und Schweden werde Russland mit einer entsprechend veränderten Allokation seiner taktischen Kernwaffeneinsatzmittel („Iskander“-Raketen, Hyperschallwaffen und atomar armierte Kriegsschiffe) antworten – für die Finnen und Schweden in Reichweite „des eigenen Hauses“.

Die aktuellen russischen Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen sind eine Ungeheuerlichkeit, wie sie sich während der 45jährigen Dauer des ersten Kalten Krieges in vergleichbaren Zusammenhängen und in vergleichbarer Weise nicht einmal die verhassten Imperialisten in Washington haben zuschulden kommen lassen, und in der Substanz gibt es zwischen diesem nuklearen Säbelrasseln und der dümmlichen Ignoranz eines Donald Trump („Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“), die evidente Selbstgefährdung durch nukleare Gegenschläge und die nicht auszuschließende globale Gefährdung durch ein Aufschaukeln zum allgemeinen Raketenkernwaffenkrieg betreffend, keinen irgendwie relevanten Unterschied.

Welches Echo hatten die russischen Drohungen hierzulande? Bevor sich Panik überhaupt hätte breitmachen können, war gottseidank schon Anton Hofreiter zur Stelle, der verhinderte Bundesminister für irgendwas von den Grünen sowie neuerdings unser strategischer Oberverkünder im Konflikt mit Russland. Der wiegelte gegenüber dem SPIEGEL ab: Er halte eine Eskalation des Krieges in der Ukraine zu einer Auseinandersetzung mit Nuklearwaffen für unwahrscheinlich, denn er gehe nicht davon aus, „dass im Kreml lauter Selbstmordattentäter sitzen“. Und über einem Bericht zu den diesbezüglichen Auffassungen seiner Schwester im Geiste, der stramm fürs Feindbild Russland agitierenden Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), lautete die Überschrift: „Strack-Zimmermann: Nicht von Gefahr eines Atomkriegs lähmen lassen“. Wem das zur persönlichen Sedierung noch nicht reichte, der konnte überdies einen Klaus Bachmann, seines Zeichens Professor für Sozialwissenschaften an der SWPS Universität Warschau, zur Kenntnis nehmen, dem die Berliner Zeitung gleich eine ganze Seite einräumte, auf dass er uns versichere: „Auch ein atomarer Schlagabtausch muss nicht das Ende der Welt bedeuten.“

So weit, so geschwätzig.

Gab es zwischenzeitlich rund um den Ukraine-Krieg noch anderes zu vermerken?

Durchaus.

Kaum hatten westliche Medien am 27. Mai 2022 die Nachricht gestreut, dass Washington nunmehr bereit sei, moderne Mehrfachraketenwerfer (MLRS) vom Typ HIMARS mit einer möglichen Reichweite von bis zu 300 Kilometern an Kiew zu liefern, wurde vom Weißen Haus gegengesteuert, und zwar von höchster Stelle: Nachdem US-Präsident Joe Biden am 30. Mai gegenüber Reportern erklärt hatte, man werde keine Raketensysteme in die Ukraine schicken, die russisches Territorium treffen könnten, legte er einen Tag später in einem Namensbeitrag in der New York Times nach: „Wir ermutigen oder ermöglichen der Ukraine nicht, jenseits ihrer Grenzen zuzuschlagen.“ Und: „Wir streben keinen Krieg zwischen der NATO und Russland an.“

Auch eine russische Reaktion erfolgte prompt, und zwar ebenfalls von ganz oben. Am 3. Juni erklärte Putin, sollten als Munition für MLRS-Systeme weitreichende Raketen an die Ukraine geliefert werden, dann „werden wir die entsprechenden Schlüsse ziehen und unsere Zerstörungswaffen einsetzen, von denen wir genug haben, um die Ziele zu treffen, die wir noch nicht angegriffen haben“. Welche das sein würden, ließ Putin in nachgerade klassisch vager Abschreckungsmanier offen.

Doch am 8. Juni 2022 verbreitete RT DE, das russische Staatsmedium, das im Westen als Propagandasender des Kremls blockiert wird, Details zur Moskauer Sicht: HIMARS könne mit ballistischen Gefechtsfeldraketen vom Typ ATACMS von Lockheed Martin bestückt werden, Reichweite bis zu 310 Kilometer. Würde Russland von der Ukraine damit angegriffen, würde es seinerseits „Elemente der klassischen Kriegsführung in den Sondereinsatz einbringen“, um, was bisher bewusst vermieden worden sei, mit Marschflugkörpern vom Typ Kalibr „gegnerische Entscheidungszentren auszuschalten“ – „Gebäude der ukrainischen Präsidialverwaltung, der Werchowna Rada und des Generalstabs des Militärs“. Mit Bezug auf das HIMARS-System direkt an Washington gerichtet hieß es, dass „die Russische Föderation eine Lieferung […] als Überschreitung einer roten Linie betrachtet“. Sowie: „Der potenzielle Zuwiderhandelnde muss sich die Folgen seines Verstoßes klar vorstellen können – und dazu müssen ihm die Folgen auch mal vorgeführt werden.“

Was damit gemeint gewesen sein könnte, hatte man den Medien bereits einige Tage zuvor entnehmen können; so berichtete die Plattform news.de am 28. Mai 2022: „Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums soll im Nordpolarmeer eine Hyperschallrakete […] erfolgreich ein Ziel getroffen haben. […] Der Marschflugkörper vom Typ Zirkon sei von der Fregatte Admiral Gorschkow in der Barentsee in Richtung Weißes Meer abgefeuert worden. ‚Nach objektiven Kontrolldaten hat der […] Marschflugkörper […] erfolgreich ein Seeziel in einer Entfernung von etwa 1.000 km getroffen‘, heißt es in einer Meldung des Ministeriums.“

Hyperschallwaffen gelten wegen ihrer außerordentlich hohen Endanflugsgeschwindigkeit – bei Zirkon ist in Quellen von Mach sechs (sechsfache Schallgeschwindigkeit) die Rede – als mit derzeitigen Luft- und Raketenabwehrsystemen nicht bekämpfbar. Das Handelsblatt sprach deshalb bereits von einer „Schreckenswaffe für US-Flugzeugträger“. Nicht zuletzt, weil der Marschflugkörper Zirkon auch nuklear armiert werden kann.

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Exkurs: Zwar muss, um einen Flugzeugträger amerikanischen Standards kampfunfähig zu machen, dieser nicht zwangsläufig versenkt werden. Es genügt, sein Start- und Landedeck, seinen (atomaren) Antrieb und/oder seine Schiffselektronik auszuschalten, was womöglich auch durch konventionelle Angriffsmittel gelingen kann. Aber wenn man in Bezug auf die Ausschaltung solch eines Kampfmittels, das für sich allein über mehr Vernichtungskraft verfügt, als die Gesamtstreitkräfte sehr vieler Länder dieser Erde, ganz sicher gehen will …

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Doch was soll schon passieren? Die USA haben die Botschaft ja verstanden – siehe Joe Biden.

Wenn das nur so einfach wäre. In Russland jedenfalls wird davon ausgegangen, dass Gefechtsfeldraketen vom Typ ATACMS nicht unbedingt von den USA bereitgestellt werden müssten. Darüber verfügen, so RT DE, auch weitere NATO-Staaten – in Europa Rumänien und Polen. Und sollte sich die Ukraine solche Werfermunition dort besorgen, so der Staatssender, „darf sich Washington ja nicht täuschen: In dieser Lage wird die Ausrede ‚Wir haben nichts damit zu tun!‘ die USA nicht vor einer Eskalation bewahren“.

Wird der Ukraine-Krieg also eskalieren? Gar nuklear?

Das weiß derzeit niemand. Auch nicht, wie Moskau auf weitreichende ukrainische Verteidigungsschläge gegen russisches Territorium tatsächlich reagieren würde oder Washington auf die Ausschaltung eines seiner Flugzeugträger.

Doch mit dem lapidaren Hinweis, dass im Kreml nicht „lauter Selbstmordattentäter sitzen“, ist das Eskalationsrisiko als solches jedenfalls nicht aus der Welt.