Klaus, der Rote
Er war Autor der Weltbühne wie in frühen Jahren sein Vater, der Völkerrechtler Peter Alfons Steiniger (1904-1980). Auch Klaus Steiniger, geboren 1932, merkte man die juristische Schule an, wenn er seine Texte wie Plädoyers nach Stichpunkten in ein Aufnahmegerät diktierte. Fast 25 Jahre arbeitete Steiniger als Redakteur, Leiter der Sektion Kapitalistische Länder in der Abteilung Außenpolitik und Auslandskorrespondent für das SED-Zentralorgan Neues Deutschland. Bisweilen, wenn der Chefredaktion die Veröffentlichung eines seiner scharfzüngigen Artikel gerade nicht opportun erschien, weil man meinte, die Entlarvung des Imperialismus im Interesse des DDR-Außenhandels nicht zu weit treiben zu dürfen, schickte der Autor sie zur Weltbühne, wo der Beitrag notfalls unter dem Pseudonym Arndt-Peter Andrekath erschien. Auf solche Weise besserte er sogar das „Schweigegeld“ auf, als das er sein ND-Gehalt in Zeiten verordneter Zurückhaltung bezeichnete. Zum Schweigen sah Steiniger, der sich selbst zeitlebens als Kommunist bezeichnete, selten Grund. Foren, die er seinerzeit häufig bestritt, leitete er gern mit den Worten ein: „Wir fangen heute da an, wo das ND aufhört.“
Beredsamkeit und ein „klarer Standpunkt“ verschafften ihm andererseits journalistische Aufgaben, um die ihn mancher beneidete: Er war 1972 Sonderberichterstatter vom Prozess gegen die US-amerikanische Kommunistin Angela Davis in Kalifornien und berichtete mit heißem Herzen als Portugal-Korrespondent von der „Nelkenrevolution“ – vom Frühstadium 1974 über ihre Hoffnung verbreitende Hoch-Zeit bis zum Niedergang. Von diesen und anderen Erlebnissen zehrte er nach seinem Ausscheiden aus dem ND viele Jahre als Chefredakteur und Leitartikler der Monatszeitschrift RotFuchs, zu deren Gründern er 1998 gehörte. Von der „Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland“ (so der Untertitel der Zeitschrift) geißelte er nicht mehr nur den Imperialismus, sondern distanzierte sich scharf auch vom vermeintlich „bürgerlich“ gewendeten neuen deutschland (seit einigen Jahren mit kleinen Lettern geschrieben). Ehemalige Genossen und Kollegen nahmen Abstand voneinander, wollten einander nicht mehr kennen. Es gehört bekanntlich zu den Lieblingsbeschäftigungen der Linken, anderen jede linke Gesinnung abzusprechen – und das bis zur Feindschaftserklärung.
Immerhin verstand es Steiniger, sein Blatt vor neuerlicher Disziplinierung durch eine Parteiführung – diesmal der DKP – zu bewahren. Was der Verfassungsschutz 2009 als „neostalinistisch“ und „linksextremistisch“ einordnete, war nicht zuletzt der Versuch, gedemütigten „Wendeverlierern“ die Möglichkeit zur Verständigung – auch über ihr Scheitern – und darüber hinaus mitmenschlichen Halt zu geben. Klaus Steiniger war sich dessen sehr wohl bewusst. Er starb am 9. April im Alter von 83 Jahren. Ein Mensch, der des Nach-Denkens lohnt. Das fördert die Selbsterkenntnis.
Detlef D. Pries
Metternich lebt noch
Der Altliberale Varnhagen von Ense notierte: „… selbst Personen, die nicht gern den Respekt vor den Regierenden vergessen, sprachen mit Abscheu und Empörung von der Art, wie Österreich sich in der griechischen Sache benimmt; daß die Flüchtigen, die sich vor den Türken ins Österreichische retten wollen, wieder zurückgetrieben werden sollen, nennt man schändlich und barbarisch.“ Gelesen bei Johannes Irmscher: Der Philhellenismus in Preußen, Berlin 1966.
Horst Möller
Neues von der linken Volkspartei
Politiker-Haupthähne behaupten gerne, dass Personalentscheidungen natürlich keine Richtungsentscheidungen seien. Selbstverständlich seien Parteiprogramm, Parteitagsbeschlüsse und gegebenenfalls der Koalitionsvertrag das Entscheidende. Das ist ausgesprochener Dummschwatz, an den noch nicht einmal notorische BILD-Leser glauben. Dieser Tage erklärte der Berliner Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), dass er am 30. April auf dem Landesparteitag im Rennen um das Amt des Landesvorsitzenden antreten werde. Das ist gegenwärtig ein gewisser Jan Stöß. Stöß gilt als links und hatte dem Genossen Müller schon einmal eine Wahlniederlage beigebracht und gelegentlich die regierenden Strippenzieher verärgert, indem er (sic!) an Parteitagsbeschlüsse erinnerte. Müller gilt als nachtragend. Flankenschutz erhielt er vom Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh: „Wir sind uns einig, dass die SPD ihren inhaltlichen Kurs als linke Volkspartei mit sozialem Profil fortsetzt.“ Saleh liebt solche Sätze: „Mit der CDU machen wir eine hervorragende linke Politik!“ Er meint das wirklich so. Das Wegkicken von Jan Stöß ist natürlich eine Richtungsentscheidung, die über die bei LINKEN und Grünen erfolgte Flurbereinigung weit hinausgeht. Da können wir nur noch Walter Momper (SPD) zitieren: „Berlin, nun freue dich!“
Günter Hayn
Hattrick in der Burg
Mit zwei sehr reizvollen Sonderausstellungen wartet das Kunstmuseum Moritzburg zu Halle an der Saale derzeit für seine Besucher auf.
„Magie des Augenblick“: Das Ehepaar Arthur und Hedy Hahnloser-Bühler aus Winterthur bei Zürich trug zwischen 1906 bis 1936 eine einmalige Kollektion zeitgenössischer französischer Kunst zusammen. In ihrer Konzentration auf den Post-Impressionismus und Fauvismus ist diese Sammlung einzigartig. Sie schlägt den Bogen von den sogenannten Vätern der Moderne wie van Gogh und Cézanne über die Mitglieder der Künstlergruppe der „Nabis“ wie Bonnard, Denis, Vallotton bis hin zu Arbeiten von Matisse und Marquet. Mit vielen der Künstler war das Sammlerpaar befreundet und stand mit ihnen in regem Austausch, was die besondere Qualität ihrer Sammlung begründet. Jetzt ist die in der Schweizer Villa Flora Winterthur beheimatete Kollektion nach Stationen in Hamburg und Paris exklusiv in Halle zu sehen. Ein kleines Konvolut von Werken Odilo Redons mit seinen verzaubernd weichen, nachgerade klangvoll miteinander interagierenden Farben – pars pro toto das Gemälde „Die Türkisvase“ – zählt zu den besonderen Eyecatchern der Exposition. Und nicht nur deren Blickfang ist Félix Vellotons „La Blanche et la Noire“, sondern auch auf dem Halleschen Marktplatz, wo es derzeit eine ganze Hausfront einnimmt.
„Kraft des Aufbruchs“: Diese Ausstellung aus der Sammlung Hermann Gerlinger versammelt Werke der Brücke-Maler Ernst Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rotluff sowie von Max Pechstein und Otto Müller. Sie bietet ein höchst farbenprächtiges Erlebnis. Zeitlich und künstlerisch setzt sie ein, als die jungen Künstler auf ihrer Suche nach einer neuen Bildsprache erste Akzente zu setzen vermochten. Angeregt etwa durch Edvard Munch, Henri Matisse und vor allem Vincent van Gogh wurden sie Teil der Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts und trugen damit entscheidend zum Anschluss der deutschen Kunst an die europäische Entwicklung bei.
„Révolution véritable“: Zum Museums-Hattrick wird das derzeitige Angebot der Moritzburg durch einen Griff in den Fundus. In einer kleinen, sehr intimen Schau werden Sammlungsbestände aus den Bereichen Art noveau und Art deco präsentiert, die seit fast 20 Jahren nicht mehr öffentlich gezeigt worden sind. Bereits 1898 hatte das Museum Moritzburg erste Arbeiten der französischen Avantgarde erworben. Bis heute sind Werke von Émile Gallé, Legras & Cie oder Daum & Cie essentieller Bestandteil der Sammlung Kunsthandwerk & Design. In der jetzigen Auswahl verweisen zwei Arbeiten von René Lalique und Maurice Marinot auf die Art Deco. Sie werden zusammen mit Keramiken von Eugéne Lion, Émile Decoeur, Alexandre Bigot gezeigt.
Hans-Peter Götz
„Magie des Augenblicks“ noch bis 11. September 2016. „Kraft des Aufbruchs“ noch bis 30. Oktober 2016. „Révolution véritable“ noch bis 11. September 2016. Alles im Kunstmuseum Moritzburg Halle/S., täglich außer Mittwoch 10.00 bis 18.00 Uhr.
Übervölkerung!
„Der Schamane und die Schlange“, gerade in die Kinos gekommen, spielt im Urwald am Amazonas. In seiner Besprechung des Films im Tagesspiegel vom 21. April beschreibt Jan Schulz-Ojala den Drehort: „Die Provinz Vaupés im Osten Kolumbiens, so groß wie Niedersachsen und mit der Bevölkerungsdichte einer Kleinstadt.“ Als Kleinstädte gelten seit der Internationalen Statistikkonferenz von 1887 alle Städte mit einer Einwohnerzahl zwischen 5.000 und 20.000. Neubiberberg belegt mit knapp 13.500 Einwohnern einen Mittelplatz. Die Bevölkerungsdichte je Quadratkilometer liegt bei 2.327. Niedersachsens Fläche beläuft sich auf 47.618 Quadratkilometer. In der kolumbianischen Provinz Vaupés darf man nach Schulz-Ojala also durchaus mit 110.807.086 Einwohnern rechnen. Da fragt man sich nur, wo da eigentlich noch Platz für Bäume ist…
Alfons Markuske
Karl der Große – Korrektur eines Mythos
Karl der Große zählt zu den größten Herrschern der Weltgeschichte. Viele sehen in ihm den Baumeister, ja Vater Europas. Schon 200 Jahre nach seinem Tod wurde Karl der Große zum Mythos, zum Inbegriff des guten christlichen Kaisers. So sah man ihn das ganze Mittelalter hindurch. Und noch heute preisen ihn manche Historiker als „Vollstrecker der Weltgeschichte“ oder sein Reich gar als „Keimzelle des modernen Europas“. Nun kratzt der Philosoph und Althistoriker Rolf Bergmeier an diesem Mythos, der in unzähligen Karl-Biografien gepflegt wurde und wird. Um Karls Wirken und seine Bedeutung für Europa zu bewerten, werden von ihm zunächst die antiken Vorgängerkulturen und die byzantinische sowie islam-arabische Parallelkultur beleuchtet. An diesen gesetzten Maßstäben beurteilt Bergmeier die sozialen, ökonomischen und kulturellen Leistungen der karolingischen Epoche.
Und diese vergleichende Analyse fällt vernichtend aus. So erlebte in Karls Regierungszeit das öffentliche Schulwesen einen beispiellosen Niedergang. Stattdessen wurde er zum Mäzen des klösterlichen Schulwesens – also von Religionsschulen für eine kleine Minderheit. Ähnlich verhielt es sich mit dem Bibliothekswesen. Große Klosterbibliotheken besaßen im Durchschnitt rund 100 vorwiegend biblische Bücher und liturgische Schriften. Ein verschwindend geringer Prozentsatz im Vergleich zum Bestand von antiken Bibliotheken. Von karolingischer Architektur sind ebenfalls nur Kirchen und Klöster bekannt. Neben ihnen und einigen Pfalzen gibt es keine Überlieferungen zu säkularen Bauten. Auch die wirtschaftspolitischen Aktivitäten Karls sind nach Bergmeier „das Werk eines pedantischen Kleingeistes“, dem Wirtschaftsförderung völlig fremd war. Weder wurde in den Aufbau einer Handelsflotte oder in den Unterhalt der Straßen investiert, noch in die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung. Die Folge waren zahlreiche Hungersnöte.
In seinem Abschlusskapitel „Karls Walten. Ein Entwurf für Europa?“ untersucht der Autor Karls religiösen Fundamentalismus, der sich dem katholischen Glaubensuniversum unterworfen hatte. Er folgte „ihren Dogmen ohne Abstriche“. Nach Karls Tod wurde sein Reich zum „Spielball seiner Söhne und Neffen“ und „zur Beute der katholischen Kirche“. Erst in der Renaissance wurde der ganze Reichtum der antiken Kultur wiederentdeckt. Ach ja, da ist noch der Aachener Karlspreis, der alle Jahre wieder für hervorragende Verdienste um die Einheit Europas verliehen wird. Da stellt Bergmeier die provokante und doch berechtigte Frage: „Was haben Toleranz, Barmherzigkeit und Bewahrung der Schöpfung überhaupt mit Karl zu tun, wo der Franke weder ein Friedensfürst war, noch ein Beispiel für ein Europa freier Völker?“ Bergmeiers sehr gut recherchierte Analyse ist nicht nur „die Korrektur eine Mythos“, sondern seine Demontage. Sie räumt mit den traditionell gepflegten Karlslegenden auf und mit einer Figur, die nicht als Vorbild taugt. Der kritischen Studie merkt man wohltuend an, dass der Autor früher einmal Informationstechniker und Systemanalytiker war.
Manfred Orlick
Rolf Bergmeier: Karl der Große – Die Korrektur eines Mythos, Tectum Verlag, Marburg 2016, 320 Seiten, 19,95 Euro.
Film ab
Eigentlich hat man es doch über die Jahrzehnte oft genug gesehen – „Das Dschungelbuch“. Als Film, real (erstmals 1942 von Zoltan Korda) oder animiert (die werkgetreueste Fassung war die sowjetische von 1966), und als Serie. Disneys Zeichentrickversion von 1967 war zwar ein Kinoklamauk für die ganze Familie, hatte aber außer den Gestalten wenig mit Kiplings Vorlage zu tun. Und Disneys Realadaption von 1994 machte aus Mowgli gar einen „Indiana-Jones-Klon“, wie ein Kritiker seinerzeit bissig konstatierte. Nun also schon wieder ein Disney… Doch was für einer! Kipling wird – gemessen an früheren Verfilmungen dieses Studios – vergleichsweise wenig Gewalt angetan. Und die Animation ist dermaßen atemberaubend realitätsgetreu, dass, würden die Tiere nicht sprechen, etwa die Sequenzen mit Shir Khan, dem Tiger, auch einem Dokumentarfilm entstammen könnten. Eben deswegen ist allerdings davon abzuraten, die Altersfreigabe „FSK 6“ wörtlich zu nehmen; mit „JMK 10“ liegt die Jugendmedienkommission entschieden richtiger.
Ganz ohne Hollywood-Kitsch geht dieser Film zwar auch nicht ab – Ballous Operettenhit „Versuch’s mal mit Gemütlichkeit“, eine Referenz an den Klamauk von 1967, wirkt dabei ziemlich aufgesetzt –, doch ansonsten vergehen die fast zwei Stunden wie im Fluge. Und selbst beim Abspann haben die „Animateure“ ihrem Affen und vielen weiteren Tieren noch mal so richtig Zucker gegeben.
„The Jungle Book“, Regie: Jon Favreau. Derzeit in den Kinos.
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Dass eine heruntergekommene obdachlose Stadtstreicherin ihr Domizil, einen altersschwachen Van, übergangsweise in der Einfahrt eines Privathauses in einer gut situierten Wohngegend abstellen darf, und dass daraus 15 Jahre werden, das ist wohl nur dort vorstellbar, wo beiläufige Exzentrik als Lebenseinstellung sich mit selbstverständlicher Toleranz paart und natürliche Noblesse auch unter widrigsten äußeren Umständen niemals wirklich die Contenance verliert. Diese Mischung dürfte aber selbst in Londoner Mittelklassebezirken nicht unbedingt die Regel sein. Doch dort muss es sie noch vor wenigen Jahrzehnten zumindest gegeben haben, denn der Film „The Lady in the Van“ behauptet von sich, eine „weitgehend wahre Geschichte“ zu erzählen. Die beginnt damit, dass der Erzähler und Eigentümer des in Rede stehenden Privathauses wort- und metaphernreich den Hautgout beschreibt, den die Stadtstreicherin in seinen vier Wänden hinterließ, als sie dort den Sanitärbereich frequentierte. Danach ist der Zuschauer auf manches gefasst, aber kaum auf alles, was folgt.
Die Stadtstreicherin ist Maggie Smith, die der Rezensent nicht nur wegen ihrer nie versiegenden aristokratischen Sottisen in der grandiosen Serie „Dowton Abbey“ über die Maßen schätzt. Sie gibt die sozial und menschlich Abgestürzte mit kaum zu überbietender Sackgrobheit und zugleich mit einer Grandezza, die ihresgleichen suchen, mürrisch vom Scheitel bis zur Sohle, aber ebenso verletzlich und ängstlich. Mit einem Wort: Ein dritter Oscar wäre nur angemessen.
„The Lady in the Van“, Regie: Nicholas Hytner. Derzeit in den Kinos.
Clemens Fischer
Medien-Mosaik
Als Britta Wauer ihren bewegenden Film „Im Himmel, unter der Erde“ über den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee drehte, lernte sie auch den Mecklenburger Rabbiner William Wolff kennen, einen kleinen, gut gekleideten älteren Herrn voller Lebensweisheit und sprühendem Witz. Dass er das Potential für einen ganzen Film in sich trug, spürte sie sofort. Zum Glück! Denn der neue Film „Rabbi Wolff“ erzählt nicht nur von einem Leben, das in der Weimarer Republik begann, nach Großbritannien führte und heute noch immer zwischen geografischen und geistigen Polen wechselt. Es ist ein Film über das Leben an sich, darüber, wie mit Freude und Leid umzugehen ist, wie Niederlagen zu verarbeiten sind, Veränderungen zu neuen Höhepunkten führen können. Dass der jüdische Emigrant Willi Wolff, der einen großen Teil seiner Familie in der deutschen Vernichtungsmaschinerie verlor, seit Jahren als Landesrabbiner in Schwerin und Rostock wirkt, ist nicht selbstverständlich und war ihm nicht vorgezeichnet. Er hat in London Nationalökonomie studiert und viele Jahre als konservativer Journalist für den Daily Mirror geschrieben. Erst mit über 50 änderte er sein Leben und begann eine Ausbildung zum Rabbiner. Nachdem er in Großbritannien gewirkt hatte, kam er 2002 nach Mecklenburg, ohne sein Heimatstadt London wirklich zu verlassen. Bis heute pendelt er wöchentlich zwischen Großbritannien und Deutschland. Die Regisseurin beobachtete den Endachtziger hier, aber auch im Umgang mit seinen orthodoxen Verwandten in Israel. Hier teilt sich ein Universum an Weisheit und Freude mit, das Kinozuschauer in ihren Bann zieht.
Rabbi Wolff, Regie Britta Wauer, Edition Salzgeber, seit 14.4. in ausgewählten Kinos.
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Wirklich weltberühmt war Milo Barus (1906-1977) in den dreißiger Jahren, als er in Paris, London, Kalkutta, Kairo, Buenos Aires und New York die Weltmeisterschaften der Kraftathletik gewann. Doch auch, wer in den sechziger und siebziger Jahren das DDR-Fernsehen verfolgt hat, dürfte ihm begegnet sein. Als ehemaliger stärkster Mann der Welt trat er noch immer mit Kunststücken auf und erzählte aus seinem Leben. Dem widmet sich ein neues Buch, das der 2013 verstorbene Varieté-Historiker Roland Weise gemeinsam mit dem Thüringer Publizisten Uwe Träger verfasst hat – sekundiert von Renate Holland-Moritz, die einen hübschen Text aus den siebziger Jahren beigesteuert hat. Überhaupt haben die Autoren gesucht und viel gefunden, was über Milo Barusʼ Leben erzählt, Dokumente, Fotos, Zeitzeugenaussagen, Zeitungsartikel. Eigentlich hieß der Athlet Emil Bahr, stammte aus den Sudeten. Mit seiner sozialdemokratischen Gesinnung hielt er nicht hinterm Berg, wurde 1935/36 gegen die Henlein-Faschisten aktiv und schließlich von der Gestapo verhaftet. Im Untersuchungsgefängnis Moabit begegnete er Ernst Thälmann, kam aber nicht wie der KPD-Vorsitzende ins KZ. Die deutschen Zuchthäuser waren aber auch nicht besser. Dies und viel mehr erzählt das Buch, das Barusʼ spektakuläre Stunts schildert und geschickt einen Bogen zu heutigen Kraftsportlern schlägt.
Uwe Träger / Roland Weise: Milo Barus – Der stärkste Mann der Welt, Verlag Erhard Lemm, Gera 2015, 96 Seiten, 12,95 Euro.
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Warum Adam, gespielt von Hanno Koffler, zum Zocker wurde, erzählt der sozial genau beobachtende Film „Treppe aufwärts“, das Debüt der Regisseurin Mia M. Meyer. Drei Generationen leben miteinander, zu Adam kommt sein getrennt lebender halbwüchsiger Sohn Ben (Matti Schmidt-Schaller) – dabei hat Adam mit seinem in die Demenz gleitenden Vater schon genug zu tun. Christian Wolff, der einst ewige Student des bundesdeutschen Films, der dann viel zu lange im „Forsthaus Falkenau“ tätig war, ist hier glaubwürdig in einer ungewöhnlichen Rolle zu sehen. Doch das Drehbuch, das die Regisseurin selbst schrieb, zeigt unversöhnliche Szenen zwischen den Vätern und Söhnen, aber keine Lichtblicke. Selbst eine sich anbahnende Liebesgeschichte hat keine Chance. Die Szenenfolge einer Abwärtsspirale ästhetisch in bescheidener Fernsehmanier erzählt, kann dem unbefangenen Zuschauer die Stimmung deutlich vermiesen.
Treppe aufwärts, Regie Mia M. Meyer, Verleih missingFILMS, ab 21.4. in ausgewählten Kinos.
bebe
Markante Rhythmen und jede Menge Bläser
Einer der wichtigsten Komponisten und ein genialer Jazzer vor dem Herrn, nämlich Klaus Doldinger, feiert am 12. Mai seinen 80. Geburtstag. Alles begann mit Doldinger in den 1950er Jahren, als er mit Gleichgesinnten in den Jazzclubs von Düsseldorf erste Jazzplatten hörte. Da hatte noch nicht jeder ein Grammophon zu Hause, da saß man halt bei Limonade oder einem heimlichen Bier und hörte „Birth Of The Cool“ von Miles Davis und verschiedene Aufnahmen von Oscar Peterson und Charlie Parker. Doldinger hörte aber nicht nur, er griff selbst zum Instrument, der Klarinette, und gewann denn auch mit seiner ersten Band „Oscarʼs Trio“ einen Amateur-Jazzpreis.
Doch der Jazz sollte es nicht alleine sein, denn Doldinger wurde Musical Director beim Philips-Produzenten Siegfried E. Loch, der heute Eigentümer von ACT Music ist. Man verwirklichte einige Projekte und Klaus Doldinger selbst veröffentlichte unter dem Pseudonym Paul Nero so richtig „schöne“ Fahrstuhlmusik, die aber zu jener Zeit in den Wirtschaftwunder-Haushalten gut ankam. Hauptsache kein RockʼnʼRoll, dachte sich wohl damals so manch Elternpaar. Allerdings konnte KD nicht vom Jazz lassen und brachte so unter seinem Namen 1962 das Werk „Jazz Made in Germany“ auf den Markt. Da jazzte und rumpelte es schon mächtig gewaltig, es war der Anfang vom Jazzrock, der mit „Doldingers Motherhood“ den Höhepunkt erreichte. Rockrhythmen, Electrosound und gesangliche Einlagen, unter anderem vom Schlagzeuger Udo Lindenberg, ließen das Experiment wohl gelingen. Bereits 1971 ließ er mit der Gründung von Passport die rockige Seite hinter sich und konzentrierte sich wieder mehr auf den Jazz, mit jeder Menge Bläsern, groovigem Sound und instrumentalen Perlen. Zu hören ist auf mittlerweile 34 Passport-Alben immer wieder sein herausragendes Saxofonspiel, der elektronisch nachbearbeitete Sound und die markanten Rhythmen, die sich in Richtung Rock, Latin, Soul und Funk bewegen. Der Jazz alleine macht einen Klaus Doldinger nicht aus, sondern vor allem die vielen Filmmusiken, von denen mittlerweile einige zu musikalischen Legenden geworden sind. Er schrieb die Tatort-Titelmelodie, unzählige Soundtracks für Tatort-Folgen, Musik zu den Serien „Vera Wesskamp“, „Hecht & Haie“, „Wolffs Revier“, „Ein Fall für zwei“, „Liebling Kreuzberg“ und die unvergesslichen Rhythmen zu den Spielfilmen „Das Boot“ und „Die unendliche Geschichte“.
Zum Geburtstag gibt es nun das Album „Doldinger“, das viele Klassiker von früheren Alben enthält. Die Lieder wurden mit einer illustren Gästeschar neu eingespielt und entwickeln sich so zu frischen Stücken voller Harmonie, Melodie und Power. Nils Landgren spielt die Posaune, der Sting-Mitstreiter Dominic Miller zupft ganz hervorragend die Gitarre, Helge Schneider sitzt an der Hammond-Orgel und Max Mutzke verarbeitete Marvin Gayes „Inner City Blues“ zu einem eigenen Gesangstück voller Charisma und Eigenleben. Sasha, der schon öfters als „Special Guest“ bei Passport-Konzerten auftrat, ist ebenfalls dabei und natürlich Udo Lindenberg, der im typischen Nuschelsound „Der Greis ist Heiß“ als einen persönlichen Geburtstaggruß vorträgt. Der geniale Meister Klaus Doldinger hat in Sachen Musik alles richtig gemacht, er schenkte uns viele schöne Momente, immer nach dem Motto: „Ich bin meinen Eingebungen gefolgt und dem, was mir Spaß macht.“
Thomas Behlert
Klaus Doldingerʼs Passport, „Doldinger“, Warner Music.
Aus anderen Quellen
Zum Abschneiden der AfD bei den jüngsten Landtagswahlen erklärte der in Sachsen-Anhalt lebende Schriftsteller Christoph Hein: „Es gibt ein heftiges Erschrecken im Land, aber es gibt etwas an diesem Wahlergebnis, das ich nicht als schrecklich, sondern sogar als positiv bewerte: Wir wissen etwas genauer, in welchem Land wir leben. […] Wir können mit Verboten einiges regeln, aber es geht unter der Decke weiter. Wir haben jetzt ein bisschen genauer erfahren, wo wir sind.“
„Die Leute werden das, was sie glauben, jetzt offener sagen“. Interview mit Christoph Hein, Berliner Zeitung online, 22.03.2016. Zum Volltext hier klicken.
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In einer Erklärung vom 11.04.2016 äußerten die Staaten der G-7-Gruppe, die ihren jüngsten Gipfel in Hiroshima abhielt, sie wollten „Bedingungen für eine Welt ohne Atomwaffen schaffen“. Die Realität ist jedoch unverändert eine andere. Zwar hielten die USA und Russland das zwischen ihnen abgeschlossenen New Start-Abkommen ein, das Limits für die strategischen Kernwaffen beider Seiten beinhaltet, doch „zugleich erneuern beider Militärs mit Macht ihre Sprengköpfe und ihre Trägerwaffen“, wie Theo Sommer vermerkt. „Unter dem Deckmantel der Abrüstung vollzieht sich ein gehöriges Stück Aufrüstung.“ Das betreffe auch die mutmaßlich 20 US-Atombomben, die auf dem Fliegerhorst Büchel der Bundesluftwaffe in der Eifel gelagert seien. Diese würden durch das neue Modell B61-12 ersetzt, das von deutschen Tornado-Kampfbombern aus eingesetzt werden soll. Von diesen Systemen habe bereits Verteidigungsminister Helmut Schmidt gewusst: „Würden sie je benutzt, von Deutschland und den Deutschen bliebe nicht viel übrig.“
Theo Sommer: Ein neues Wettrüsten, Die Zeit online, 12.04.2016. Zum Volltext hier klicken.
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US-Präsident Barack Obama hat den Friedensnobelpreis bekanntlich nicht zuletzt für seine 2009 in Prag erklärte Vision einer kernwaffenfreien Welt erhalten. Tatsächlich jedoch habe Obamas Administration in fast acht Jahren „nur wenige kleine Schritte“ zur Reduzierung der nuklearen Gefahren unternommen, konstatiert Barry M. Blechman, stattdessen aber „ein Programm zur Modernisierung der Atomwaffen von beispiellosem Umfang und Kostenaufwand gestartet“. Würde dieses Programm vollständig realisiert, „wird es Präsident Reagans Verstärkung des Nuklearpotenzials in den Schatten stellen“. Blechmans Fazit: „Nein, Herr Präsident! Ihre Verdienste im Bereich der nuklearen Abrüstung sind nicht beeindruckend. Der Anstand erfordert, dass Sie ihren Friedensnobelpreis zurückgeben müssen.“
Barry M. Blechman: Obama Should Return His Nobel Peace Prize, The National Interest online, 06.04.2016. Zum Volltext hier klicken.
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Die Deutsche Bank lässt wissen, dass sie „ein strenges Regelwerk und Richtlinien für Geschäftsbeziehungen mit Rüstung produzierenden Unternehmen“ habe. Und die Commerzbank teilt mit, dass bei Geschäften mit Rüstungsbezug grundsätzlich eine intensive Einzelfallprüfung stattfinde, „die zur Ablehnung des Geschäfts oder einer Geschäftsverbindung führen kann“. Soweit die Theorie. Die Praxis haben Hauke Friederichs und die Organisationen Facing Finance und urgewald – letztere in ihrer jüngst veröffentlichten Studie Die Waffen meiner Bank – untersucht und kamen zu gegenteiligen Befunden. „Zu Rheinmetall, dem Panzergeschäft mit Katar und dem Deal mit Algerien (Bau einer Fabrik zur Produktion von 1.200 Radpanzern Fuchs – die Redaktion) nahm die Commerzbank gegenüber der ZEIT nicht Stellung. […] Rheinmetall allerdings teilte im vergangenen Jahr mit, dass die Commerzbank beim Abschluss eines Konsortialkredits über 500 Millionen Euro geholfen habe […].“ Und zur Deutschen Bank heißt es in der erwähnten Studie: „Die Deutsche Bank kennt kaum Skrupel und unterhält zu fast allen großen Rüstungskonzernen […] Geschäftsbeziehungen: Dazu zählen auch 8 der 10 weltweit größten Waffenhersteller, die allesamt in die Herstellung von Atomwaffensystemen verstrickt sind und Rüstungsgüter in Krisengebiete exportieren […] oder an Staaten liefern, die Menschenrechte missachten.“
Hauke Friederichs: Geld für Bombengeschäfte, Die Zeit online, 08.04.2016. Zum Volltext hier klicken.
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„Das niederländische ‚Nein‘ zum Assoziierungsvertrag zwischen der EU und der Ukraine ist möglicherweise das letzte große Warnsignal, dass es dringend einer Politikänderung in der EU bedarf, wenn die Selbstzerrüttung gestoppt werden soll“, beginnt Petra Erler ihre Analyse. Und fragt: „Warum sollten die Holländer an die Ukraine als verlässlichen EU-Partner glauben, wenn die Mehrheit der Ukrainer selbst nicht glaubt, ihr Land sei auf dem richtigen Kurs? Das ist nicht nur ein Image-Problem. Korruption, Versagen des Rechtsstaates, soziale Implosion, die immerwährende Pleitegefahr, der Krieg, das sind doch keine Erfindungen derer, die die Ukraine-Assoziierung nicht wollen.“
Petra Erler: Assoziierungsvertrag mit der Ukraine: „Das holländische Nein ist kein Sieg Moskaus“, EurActiv.de, 11.04.2016. Zum Volltext hier klicken.
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