18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Bemerkungen

Das Schweigen der Indonesier

Das hunderttausendfache Morden in Indonesien 1965/1966 (es gibt keine genauen Zahlen, zwischen 500.000 und drei Millionen liegen die Annahmen) fand in den letzten Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit; die vielen Opfer fanden nicht wie die Pol Pots in Kambodscha zumindest öffentliche Trauer und Bestürzung. Es handelte sich bei ihnen um Kommunisten, Sympathisanten, Gewerkschafter, Frauenaktivisten … Da war die Einbindung Indonesiens auf der westlichen Seite des Kalten Krieges von Anfang an wichtiger. (Über diese Zusammenhänge kann im Blättchen 22/2015 nachgelesen werden.)
Schlimmer ist aber wohl das große Schweigen in Indonesien selbst. Hier leben die Familien der Opfer neben den Tätern. Und die Täter sind die Helden der Geschichtsschreibung. Sie sind stolz auf ihre Taten, keine Spur von Reue. Auch nach dem Sturz von Suharto gehört in Indonesien viel Mut dazu, das Schicksal der Opfer zu thematisieren, gar Reue oder Entschuldigungen zu verlangen.
Der amerikanische Regisseur Joshua Oppenheimer hatte 2012 mit dem Film „The Act of Killing“ begonnen, das Schweigen zu durchbrechen. Er thematisierte die Täter und ihren Stolz auf das Morden. Sie demonstrieren für den Film, wie sie Opfer stranguliert oder erschlagen haben. Unerträglich, grauenvoll. Der Film „The Look of Silence“ zeigt die Opferperspektive und konfrontiert mit den Tätern.
Auf Arte liefen kürzlich beide Filme. Ein bedrückender Abend und die gezeigten Gespräche und Bilder, obwohl nur Nachahmungen der Taten, kaum auszuhalten. Es schmerzt zu sehen, wie sich Optiker Adi, dessen älterer Bruder Ramli 1965 ermordet worden war, unter dem Vorwand von Augenuntersuchungen mit Tätern trifft und sie befragt. Sie erzählen und zeigen mit echter Begeisterung, wie sie Ramli und seine Genossen gejagt und „erledigt“ haben. Das war das Erlebnis ihres Lebens. Ein Abenteuer, bei dem rituell das Blut der Opfer getrunken wurde, um nicht verrückt zu werden. Oppenheimer zeigt Adis Familie, ihr Leben heute, lässt die Mutter und Familienangehörige erinnern. Und er zeigt die Angst der Mutter, dass Adi sich zu erkennen gibt. Ihre Angst ist begründet; die Täter stoßen deutliche Drohungen aus, wenn Adi sagt, wer er ist. Die Familien der Täter wissen von nichts. Sagen sie. Es interessiert sie auch nicht. Adi solle die Vergangenheit endlich ruhen lassen, sonst … Sie fühlen sich gestört. Eine einzige Frau bedauert das Geschehen.
Optiker Adi hat sehr viel Mut bewiesen. Der Film zeigt nicht, wie es ihm danach ergangen ist. Nach all dem, was zu sehen war, gibt es durchaus Grund zur Sorge. Dennoch – das große Schweigen hat Risse bekommen.

Margit van Ham

SIPRI YEARBOOK 2015 – ein globales Kompendium

Bereits seit 1969 gibt das Stockholmer Internationale Friedensforschungsinstitut SIPRI seine Jahrbücher – erarbeitet von Mitarbeitern des Instituts sowie von jeweils eingeladenen externen Experten – heraus, die längst zu einem hoch geschätzten Fundus an Fakten, Analysen und Bewertungen vor allem für die Friedens- und Konfliktforschung sowie bei Journalisten und Publizisten und nicht zuletzt für die interessierte Öffentlichkeit geworden sind.
In der Einleitung zur 2015er Ausgabe stellt Ian Anthony im Hinblick auf die globale Frieden-Krieg-Bilanz fest: „Das SIPRI Yearbook 2015 scheint die im Vorjahr getroffene vorläufige Einschätzung zu bestätigen: der positive Trend der letzten zehn Jahre zu weniger Gewalt und zu einem effektiveren Konfliktmanagement scheint gebrochen.“
Das Jahrbuch stellt einmal mehr Originaldaten – gearbeitet wird ausschließlich mit öffentlich zugänglichen Quellen – aus den Bereichen globale Militärausgaben, internationale Rüstungstransfers, Rüstungsproduktion, Atomstreitkräfte, bewaffnete Konflikte und multilaterale Friedenseinsätze zusammen und liefert neueste Analysen zu zentralen Aspekten der Rüstungskontrolle, des Friedens und der internationalen Sicherheit.
Die übersichtliche Gliederung in drei Hauptteile erleichtert das Verständnis und die Arbeit mit dem Jahrbuch gleichermaßen:

  • Teil I. Sicherheit und Konflikte, 2014
  • Teil II. Militärausgaben und Rüstung, 2014
  • Teil III. Nichtverbreitung, Rüstungskontrolle und Abrüstung, 2014

Im Teil I werden die bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien und im Irak, IS eingeschlossen, untersucht, aber auch der Ukrainekonflikt samt seiner Auswirkungen. Ein eigener Abschnitt ist dem Zusammenhang zwischen sozialem Geschlecht (Gender) und Frieden gewidmet, das seit der Verabschiedung der Resolution 1325 durch den UN-Sicherheitsrat im Jahr 2000 stärker in den internationalen Fokus gerückt ist. Darin heißt es: Es sei erwiesen, dass Bürgerkriege, Kriege mit anderen Staaten oder umfangreiche Menschenrechtsverletzungen seltener die Staaten treffen, die besonderen Wert auf Gleichberechtigung legen, als Staaten in denen Geschlechtergleichheit weniger ausgeprägt sei. Zum Thema „Friedenseinsätze und Konfliktmanagement“ heißt wird resümiert, dass 2014 insgesamt 62 Friedensmissionen stattgefunden hätten, drei mehr als im Vorjahr. Die Personalstärke sei dabei um 20 Prozent auf insgesamt 162.052 Personen zurückgegangen, einschließlich der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe […] in Afghanistan.
Im Teil II weist die Bestandsaufnahme zu den weltweiten Rüstungsausgaben aus, dass diese sich im Jahr 2014 auf schätzungsweise 1.776 Milliarden US-Dollar beliefen. Das entspricht 2,3 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts oder 245 US-Dollar pro Person. Insgesamt bedeutet das einen effektiven Rückgang um 0,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. – Der Umfang internationaler Rüstungstransfers schwerer konventioneller Waffen stieg zwischen 2005–2009 und 2010–14 um 16 Prozent. – Anfang 2015 verfügten neun Staaten über schätzungsweise 15.850 Atomwaffen, etwa 4.300 davon einsatzbereit und um die 1.800 in höchster Alarmbereitschaft. Diese Atommächte sind: die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea.)
Im Teil III trifft das Yearbook unter anderem die die Einschätzung, dass die konventionelle Rüstungskontrolle auch 2014 hinter ihren Möglichkeiten zurückblieb, zu Sicherheit und Friedensbildung beizutragen. Die Staaten wiesen Rüstungskontrolle üblicherweise nicht als wichtigen Bestandteil ihrer nationalen Sicherheitspolitik aus und stützten sich vorrangig auf ihre nationalen Streitkräfte, um ihre Sicherheit zu fördern.

Hans-Peter Götz

SIPRI Yearbook 2015. Armaments, Disarmament and Internation Security, Oxford University Press, Oxford 2015, 584 Seiten, 149,80 Euro.

Am Boden robben

Ob der Eisbär das Klima retten will? Niemand weiß, warum das Tier im Berliner Prater immer wieder über die Bühne tapert. Eigentlich gehört er nicht in Friedrich Wolfs Geschichte von der „Weihnachtsgans Auguste“, die das Theater an der Parkaue hier in einer Fassung der Oberspielleiterin Katrin Hentschel zur Premiere brachte. Die Vorlage ist kaum wiederzuerkennen, so überdreht ist sie hier inszeniert. Die Protagonisten robben zeitweilig über den Bühnenboden. Man fühlt sich daran erinnert, wie Ruth Berghaus vor 40 Jahren „Die Fledermaus“ auf die Bühne brachte. Ist sie Frau Hentschels Vorbild? Von den Kindern der Familie Löwenhaupt ist nur Peterle (Kinga Schmidt) übriggeblieben, die Mutter (Mirja Henking) wackelt aufreizend mit dem Po, als sei sie die Gans. Die brave Theres wird von einem Mann (Thomas Pasieka) gespielt und darf – immerhin eine Reverenz an den Sozialkritiker Friedrich Wolf – über Armut und finanzielle Not monologisieren. Als Clou spielt Jakob Kraze sowohl den Opernsänger Luitpold Löwenhaupt als auch – mit angedeutetem Kostümwechsel – die Weihnachtsgans. Da braucht es schon viel Phantasie, um damit zurechtzukommen. Die Ausstattung (Michaela Barth) hilft dabei ebenso ein wenig, wie die vom Hippie-Musiker Kruisko beigegebenen Jahrmarktstöne.
Einige der Dialoge und Verse der Wolf-Erzählung wurden beibehalten. Doch von Augustes Vers „Ik frier, als ob ik keen‘ Federn nich hätt‘, man trag mich gleich wieder in Peterles Bett“ ist die zweite Zeile gestrichen worden. Heute entspricht es nicht dem Zeitgeist, wenn der Junge mit einem Tier im Bett läge, das gleichzeitig sein Vater ist!

Frank Burkhard

Nächste Vorstellungen: 19., 20., 23., 25.-27. Dezember.

WeltTrends aktuell

Nach den jüngsten Wahlen werden in Polen die politischen Uhren umgestellt. In der Außenpolitik zeichnen sich neue Tendenzen ab, was auch das Weimarer Dreieck, ein Gesprächsforum zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, betreffen könnte. Aus Anlass seines 2016 anstehenden 25-jährigen Jubiläums diskutieren im Themenschwerpunkt Experten aus den drei Ländern Bilanz und Aussichten des Forums. Im Kommentar betont Dietmar Woidke, brandenburgischer Ministerpräsident und Koordinator für die deutsch-polnische zwischengesellschaftliche und grenznahe Zusammenarbeit, die gemeinsame Verantwortung beider Staaten für Europa.
Der Motor der europäischen Integration laufe nicht mehr, die Rückkehr zu nationaler Interessenpolitik sei im vollen Gange, kritisiert Günter Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der Europäischen Kommission. Mit diesem Gastbeitrag eröffnet WeltTrends eine Diskussion über Lage und Perspektiven der EU.
Im WeltBlick schätzt Charlotte Streck die Aussichten der Pariser Klimakonferenz nüchtern ein, erwartet bestenfalls ein Dokument, das Mindeststandards der internationalen Zusammenarbeit setzt.
In einem historischen Exkurs analysiert Ingolf Bossenz die Außenpolitik der Päpste, von den Anfängen bis zu Papst Franziskus.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 110 (Dezember) 2015 (Schwerpunktthema: „Weimarer Dreieck reloaded?“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Kurze Notiz zu Quedlinburg

Es gibt Leute im Land, die behaupten, dass ein gewisser Herr Klopstock (der übrigens längst verstorben ist und sich deshalb nicht mehr zu diesem Thema äußern kann) der wichtigste Dichter Sachsen-Anhalts sei. Und mehr noch, man sagt sich, dieser Klopstock habe den einzigen deutschen Formbeitrag zur Weltgeschichte der Lyrik geliefert: die freien Rhythmen. Was darunter zu verstehen ist, lässt sich Gymnasiasten schwer erklären. Im Grunde heißt es aber – zum Leidwesen ebenjener Gymnasiasten: Ohne Klopstock kein Lessing und ohne Klopstock auch kein Goethe. Das weiß man in Magdeburg und hat den Literaturpreis des Landes nach Klopstock benannt. Aber weiß man es auch in Quedlinburg, Klopstocks Heimatstadt? Zumindest nicht zwischen November und März, denn in dieser Zeit ist Klopstocks Geburtshaus geschlossen.
Doch wen interessiert schon Klopstock mit seinem heute kaum noch gelesenen und fast unmöglich zu übersetzenden Werk in einer Stadt wie Quedlinburg, die als hübsch im Harz gelegenes, in Fachwerk erstarrtes UNESCO-Weltkulturerbe ganz auf den internationalen Tourismus setzt? Da sind eher Boutiquen und Cafés gefragt. Und die gibt es en masse, auf Flamm-, Speck-, Käse- und sogar auf Baumkuchen spezialisiert, und sie heißen – eben nicht Klopstock, sondern Schiller und sogar Frida Kahlo.
So eine durch und durch auf Gäste getrimmte Stadt ist ziemlich anstrengend. Dieses suchende Gehen der Ortsunkundigen. Dieses allgegenwärtige Staunen über wirklich alles. Dieses Fotografieren jedes Brunnens. Diese Preise …! Und diese permanente Anbiederung in den Gassen – in Quedlinburg leben so gesehen nur Huren und Stricher: Überall wird etwas feilgeboten und nach Geld gegiert. Noch das kleinste Zimmer wird vermietet, und so kann es passieren, dass sich der so heiß umworbene Gast unverhofft in einer Pension wiederfindet, wo ihm – ungelogen – beim Pinkeln die Knie durch den Türrahmen in die gute Stube ragen.
Natürlich ist Quedlinburg schön. Mit seinen mittelalterlichen Bürgerhäusern. Mit seiner Stiftskirche Sankt Servatius (zwischen 1070 und 1129 errichtet; von 1938 bis 1945 Weihestätte der SS, wofür das Bauwerk nun allerdings wirklich nichts kann). Mit den ganzen Statuen und Denkmälern. Aber das allgegenwärtige Bemühen, sich permanent und bis ins letzte Detail der Straßennamen als Rundum-Flächendenkmal zu präsentieren, ermüdet schnell. In einer Stadt ganz aus Fachwerk haben die Einwohner allerorts ein Brett vorm Kopf. Und hier wird das auch noch kultiviert.

Thomas Zimmermann

Schildau is everywhere

Anfang Oktober – pünktlich zum Semesterbeginn – wurde an der Martin-Luther-Universität Halle das neue Bibliotheksgebäude im Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Zentrum „Steintor-Campus“ feierlich in Betrieb genommen; Das Blättchen informierte. Seitdem gab es viel Anerkennung für die moderne Architektur und die Innengestaltung mit dem großzügigen Lichthof, der sich über vier Etagen erstreckt.
Bei so viel Lob konnte man glatt vergessen, dass bei dem neuen „Bücherwürfel“ aus Kostengründen ein Stockwerk eingespart worden war. Schön und gut. Doch nun wurde die Bücherkapazität um weitere Regalmeter reduziert. Wieso? Die Gewerbeaufsicht bemängelte (mit Recht), dass die übermannshohen Bücherregale bis an den Lichthof heranreichten. Wer dort ein Buch von ganz oben entnehmen will, muss sich der bereitgestellten „Elefantenfüße“ (Rollhocker) bedienen. Bei einem Fehltritt könnte man dann allerdings in die Tiefe stürzen.
Eine grausige Vorstellung.
Was tun?
In den einzelnen Etagen Auffangnetze spannen?
Nicht weniger grauenvoll.
Also wurden kurzerhand die betreffenden oberen Regalböden für die Bücheraufnahme gesperrt.
Eine Bibliothek mit teilweise leeren Regalen?!
Was lehrt uns das?
Innenarchitekten sollten bei all ihren künstlerischen Ideen & Ambitionen mitunter auch an die praktischen Aspekte (oder den Arbeitsschutz) denken.

Manfred Orlick

Medien-Mosaik

Ein Großprojekt mit internationalem Anspruch war der 1954 uraufgeführte DEFA-Dokumentarfilm „Lied der Ströme“, den der Niederländer Joris Ivens, der in jenen Jahren in der DDR arbeitete, zusammenstellte und damit versuchte, Thesen und Forderungen des Weltgewerkschaftsbundes vom Wiener Kongress von 1953 teils poetisch, teils propagandistisch zu beleuchten. Dazu standen ihm namhafte Mitarbeiter zur Verfügung. Vladimir Pozner schrieb den Text, den der zeitweilige „Weltbühnen“-Autor Maximilian Scheer übersetzte und auch selbst sprach. Dmitri Schostakowitsch schrieb die Filmmusik und vertonte überdies das Titellied, das Bertolt Brecht geschrieben hatte. Als Sänger wirkten Paul Robeson und Ernst Busch mit. Während der Name des ersteren bildfüllend erschien, wurde Buschs Mitwirkung im Vorspann verschwiegen. Zu dieser Zeit lag der Arbeitersänger mit der Partei über Kreuz, hatte der Fama nach gar sein Parteidokument zerrissen.
Es war die Zeit nach den Unruhen vom 17. Juni, aber davon war im Film wenig zu spüren (wenn man einmal davon absieht, dass Walter Ulbricht nur verschämt am Rande zu sehen war). Ivens betrachtete die Situation von Arbeitern in allen Kontinenten ausgehend von den großen Strömen Wolga, Jangtsekiang, Nil, Mississippi, Ganges und Amazonas. Bedrückend zu sehen, wie brutal, besonders in der „Dritten Welt“, vor 60 Jahren die Ausbeutung war. (Unter anderem durch die Fotos von Sebastião Salgado wissen wir, dass sich daran im Süden vielerorts wenig geändert hat) Ivens und Pozner schlagen dabei einen pathetischen Ton an, der die Zuschauer von damals, die die Ästhetik des deutschen „Kulturfilms“ gewohnt waren, nicht gestört haben mag, der heute aber unangemessen wirkt. Bemerkenswert bleibt der Satz, den ein lateinamerikanischer Gewerkschafter sagt: „Die Arbeiter haben in mehreren Ländern der Welt bewiesen, dass sie ohne die Milliardäre leben können. Aber die Milliardäre haben noch kein Staatssystem erfunden, in dem sie ohne die Arbeiter leben können.“
„Das Lied der Ströme“, Bonusfilm: „Mein Kind“ von Joris Ivens, mit Helene Weigel (1955), DVD, absolut MEDIEN GmbH, 14,95 Euro.

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„Werd‘ von mir aus Bombenentschärfer! Oder Drogenschmuggler! Oder Kamikaze-Flieger! Oder Selbstmordattentäter! Aber niemals Satiriker!“, ermahnt ein zeitungslesender Vater seinen Sohn. Satiriker leben zu gefährlich! Ob Klaus Stuttmann in seinem Alltag nach der „Charlie Hebdo“-Katastrophe neue Sicherheitsmaßnahmen ergriffen hat, weiß man nicht. Aber die Karikaturen, die er in seinem druckfrisch vorliegenden Jahresrückblick auf 2015 versammelt hat, geben schon Hinweise darauf. Er geht keineswegs nett mit Islamisten um, verspottet sowohl die gedopte „Tour de France“ als auch raffgierige Fußballfunktionäre, zweifelt das Demokratieverständnis von Erdogan & Co. an, und auch der Papst bekommt sein Fett weg. Merkel fragt ihn: „Was soll ich machen mit Tsipras und Putin?“ und bekommt zur Antwort: „Verprügeln ja! Aber immer würdevoll!!!“
Beim nunmehr siebenten Jahresband mit Stuttmanns besten Karikaturen aus dem Schaltzeit-Verlag war es nicht schwer, bei der Satirikerin Merkel einen Titel zu finden: „Wir schaffen das!“
Klaus Stuttmann: „Wir schaffen das!“, Schaltzeit-Verlag, Berlin 2015, 224 Seiten, 19,19 Euro.

Bebe

Blätter aktuell

Seit der epochalen Kyoto-Konferenz vor knapp 20 Jahren sind alle Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen kläglich gescheitert. Umso mehr blickt die Welt nun auf den UN-Klimagipfel in Paris. Der US-amerikanische Friedensforscher Michael T. Klare plädiert entschieden dafür, das vereinbarte Zwei-Grad-Ziel doch noch zu erreichen – allen Prognosen zum Trotz. Denn schon heute sind Ressourcenkriege im Nahen Osten und in Afrika bittere Realität. Daher ist die Tagung in Paris nicht nur ein Klimagipfel, sondern die wahrscheinlich wichtigste Friedenskonferenz der Geschichte.
Der Neoliberalismus ist das zentrale ökonomische Paradigma der letzten Jahrzehnte. Doch sein Grundprinzip der Behauptung freier Märkte führte nicht zu mehr gesellschaftlichem Wohlstand, sondern zu massiver Ungleichheit und zur schleichenden Abschaffung des Staates. Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown geht noch darüber hinaus und analysiert die totale Ökonomisierung des menschlichen Lebens: Was geschieht mit der Demokratie, wenn der Neoliberalismus den Staat, aber auch die Seele, restlos durchdringt?
Am Beginn der westlichen Moderne stand das individuelle Glücksversprechen durch wachsenden Wohlstand. Heute allerdings geht das scheinbar grenzenlose Wachstum der materiellen Güter längst nicht mehr mit steigender Lebensqualität einher. Der französische Ökonom Serge Latouche fordert dazu auf, der Religion ewigen Wachstums endlich abzuschwören. Es komme darauf an, das eigene Denken vom ‚BIP pro Kopf‘ zu befreien, um Platz zu machen für das wahre ‚gute Leben‘.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Charter Cities. Honduras als Experimentierfeld neoliberaler Utopien“, „Sexarbeit: Der verfehlte Schutz“ und „Glyphosat: Unser täglich Gift“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Dezember 2015, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Akustische Wohltaten in der Vorweihnachtszeit

Jahresendzeitstimmung ist angesagt. Doch bevor das neue Jahr mit neuen Vorsätzen und auch neuen Illusionen gestartet wird, richtet sich der Fokus auf Weihnachten.
Vom deutschen Einzelhandel wird die Vorweihnachtszeit als umsatzstärkster Monat herbeigesehnt. Und die Gehörgänge der Kundschaft werden in den Tagen und Wochen vor dem Fest mit den immer gleichen Weihnachtsklassikern regelrecht weichgespült.
Ein Entrinnen ist hier nur schwerlich möglich.
Doch es gibt auch einige, zugegebenermaßen wenige akustische Wohltaten.
So spielte mitten im Hochsommer die Münchener Jazzmusikerin Barbara Dennerlein das Album „Christmas Soul“ im italienischen Bari ein.
Die Künstlerin, seit 2013 Mitglied der ehrwürdigen „Hammond Hall of Fame“, spielte für diese Aufnahmen nicht auf „irgendeiner“ Hammondorgel, nein, es musste schon eine „Hammond B3“ sein.
Diese „B3“ mag schwerfällig wirken – und im engeren Wortsinne ist sie es mit knapp 200 Kilogramm Gewicht durchaus.
Doch Barbara Dennerlein produziert keinen schwerfälligen Klangbrei, sondern entlockt diesem Instrument (das übrigens seit 1973 nicht mehr gebaut wird!) mit filigranen Spiel höchst vielfältige Töne in unterschiedlichen Tempi. Mit den diversen Tastaturen und Reglern lassen sich an dieser Hammondorgel annähernd 250 Millionen Soundkombinationen kreieren – da schweigt jeder Synthesizer in Ehrfurcht.
Unterstützt wird Barbara Dennerlein unter anderem vom schwedischen Saxofonisten Markus Lindgren und der englischen Jazzsängerin Zara McFarlane.
Durchaus bekanntes Liedgut wird hier nicht gegen den Strich gebürstet, sondern bekommt einen wohltuenden Aufguss aus Jazz und Soul verpasst.
Es gibt also auch an Weihnachten Bescherungen, die hörenswert sind …

Thomas Rüger

Barbara Dennerlein: Christmas Soul, CD 2015, Label: Edel/MPS, 16,00 Euro.

Wirsing

Ein geschätzter Kollege hat – offensichtlich mit Gewinn – in Ossietzky gelesen und im Bericht von der Jahrestagung der Tucholsky-Gesellschaft folgenden Satz gefunden:Wie nicht anders zu erwarten, hatte die gut besuchte Tagung ein anstrengendes und bis zur Neige gefülltes Programm (Hervorhebung – F.Ä.)im Gepäck, abgerundet durch Tucholsky-Texte und Chansons und gekrönt durch die Übergabe des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 2015.“ Der Kollege konnte nicht dabei sein, meint aber, dass im „bis zur Neige gefüllten Programm“ viel Leerlauf geherrscht haben muss!
Auch wer fernsieht, kann was erleben. Für die Abendschau berichtete der unvermeidliche Reporter Uli Zelle von den Zuständen am sogenannten LaGeSo, dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, wo Flüchtlingen geholfen werden sollte, die aber nicht selten von Wachschützern bedrängt, beschimpft oder um Bestechungsgelder angegangen werden. „Die betroffene Security-Firma“, so Herr Zelle über einen zurückliegenden Fall, „habe damals die Mitarbeiter vom Dienst subventioniert.“ Ja, ja, so mancher kann im Flüchtlingswesen sein Süppchen kochen, von dessen Verzehr Flüchtlinge gern suspendiert werden!

Fabian Ärmel

Aus anderen Quellen

Warum Frankreichs Präsident Hollande gleich nach den Anschlägen von Paris befand, sein Land befinde sich im Krieg, liegt für Reinhard Merkel auf der Hand: „Wer Schwerverbrecher bekämpft, und seien es international agierende Terroristen, muss sich an das Polizeirecht und an Verfahrensregeln halten, die dem Ziel der Ermöglichung eines Strafprozesses dienen und dem verfolgenden Rechtsstaat zahlreiche Grenzen ziehen. Wer Kriegsfeinde bekämpft, darf sie töten – jederzeit, an jedem Ort und in jedem erlaubten Modus militärischer Gewalt.“ Eine Einstufung des terroristischen IS als Kriegspartei räumte diesen nach Kriegsvölkerrecht allerdings seinerseits ebenfalls Rechte ein – „mit unabsehbar grotesken Folgen“, wie es im Vorspann zu Merkels Beitrag heißt. Zum Beispiel: „Die gezielte Tötung französischer Soldaten auf dem Boden ihres eigenen Landes, ja die des Staatspräsidenten selbst als des Oberbefehlshabers der Armee, wären, erfolgten sie mit offenen militärischen Mitteln, rechtmäßig.“
Reinhard Merkel: Wen sollen wir denn da bekriegen?, FAZ.NET, 19.11.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Nun also die Bundeswehr auch noch nach Syrien. Das weckt schon mal ungute Erinnerungen an die historische Bilanz des deutschen Militärs im Orient. Berthold Seewald schlägt den Bogen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Am Anfang und am Ende standen jeweils Niederlagen, und von zwischendurch sind auch keine wirklichen Erfolgsgeschichten zu vermelden. 1188 wollte Kaiser Barbarossa im dritten Kreuzzug Jerusalem zurückerobern; er nahm den Landweg nach Palästina, ertrank aber unterwegs beim Baden, bevor er noch die Tauros-Pässe nach Syrien erreicht hatte. Ende Mai 1943 mussten die Reste des deutsch-italienischen Afrikacorps kapitulieren. „Nein, der Orient hat deutschen Soldaten wirklich kein Glück gebracht“, fasst Seewald zusammen. Dass allerdings, wie der Autor meint, „die Aussichten heute besser sein [dürften]“, kann angesichts der westlichen Interventionsbilanz der vergangenen 25 Jahre (Balkan, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien) nur stark bezweifelt werden.
Apropos Barbarossa und Jerusalem: 40 Jahre später hat der Enkel Barbarossas, Kaiser Friedrich II., den Zugang zu Jerusalem auf dem Verhandlungswege erlangt. Es ging also schon damals auch anders …
Berthold Seewald: Deutsche Soldaten hatten im Orient noch nie Glück, Die Welt (online), 04.12.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Boris Kagarlitzki, Direktor des „Instituts für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen“ in Moskau, sieht die „Lage der Linken in Russland […] als widersprüchlich“ an: „Einerseits ist die Popularität linker Ideen augenfällig – sie sind sogar zur Mode geworden. In dieser Hinsicht ist die Situation überhaupt nicht die, wie sie beispielsweise noch Mitte der 1990er war. Nur spiegelt sich das auf keine Weise im politischen Prozess wider. Und das liegt nicht an den linken Organisationen selbst, sondern am Zustand der Gesellschaft. Ernsthafte linke Politik ist nur gestützt auf eine Massenbewegung möglich. Zudem muss es eine Graswurzelbewegung sein, eine Bewegung der Werktätigen. Wenn es so etwas nicht gibt, können sich allenfalls Sekten oder Intellektuellenclubs entwickeln. Genau das ist die heutige Situation. Die Soziologin Anna Otschkina spricht von einer „schlafenden Gesellschaft“ in Russland. Die Gesellschaft schläft und träumt – davon, Großmacht zu sein, von Putin, von liberalen Werten, vom freien Markt, von der Größe der ehemaligen UdSSR und so weiter.“
Alex Belaew: Die russische Gesellschaft wird plötzlich aus ihrem Schlaf erwachen, TELEPOLIS, 20.11.2015. Zum Volltext hier klicken.

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1983 lag die Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik bei 20.000. Was dann geschah, beschreibt Sven Felix Kellerhoff so: „1984: Die Zahl der Asylsuchenden stieg […] auf mehr als 35.000, verdoppelte sich dann im folgenden Jahr und erreichte 1986 einen Wert von 10.000 Antragstellern pro Monat. Die allermeisten dieser Menschen kamen auf einem Weg, den die westdeutsche Politik bis dahin nicht im Blick gehabt hatte: über die DDR. Maschinen der ostdeutschen Gesellschaft Interflug und der sowjetischen Aeroflot brachten ohne Rücksicht auf die Visapflicht Menschen vor allem aus dem damaligen Bürgerkriegsgebiet Sri Lanka sowie aus verschiedenen schwarzafrikanischen Staaten zum DDR-Flughafen Schönefeld im Südosten Berlins. Hier wurden die Ankömmlinge in Busse geladen und zum Bahnhof Friedrichstraße gebracht, wo sie ohne die üblichen, zeitraubenden und oft schikanösen Kontrollen von DDR-Grenzern durchgelassen wurden. Vom S-Bahnsteig konnten die Menschen dann weiterfahren. Der West-Berliner Senat lehnte aus grundsätzlichen Erwägungen Kontrollen an der innerstädtischen Grenze ab, denn das hätte bedeutet, die Teilung der Stadt völkerrechtlich anzuerkennen.“ Einmal abgesehen davon, dass die Ursache also offenbar in West-Berlin lag, war es kein humanitäres Ruhmesblatt, am Transit der Flüchtlinge Devisen zu verdienen und mittels Massenmigration Druck auf die Bundesregierung auszuüben. Ein „klaren Hinweis“ auf die „Instrumentalisierung der Flüchtlingsströme“ brachte, so Kellerhoff, deren Ende: „Am 19. September 1986 kündigte der SPD-Kanzlerkandidat Johannes Rau an, die DDR werde den ungehinderten Zustrom ab dem 1. Oktober 1986 unterbinden, indem Interflug und Aeroflot auf westdeutsche Visa bei Passagieren bestehen werden. Das war ein klares Manöver, um im laufenden Bundestagswahlkampf die SPD zu stützen.“
Sven Felix Kellerhoff: Schon die DDR nutzte Flüchtlinge als Druckmittel, Die Welt (online), 30.11.2015. Zum Volltext hier klicken.

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Unter den bisherigen US-Präsidenten hat es ja wahrlich mehr als nur einen politischen oder/und menschlichen Missgriff gegeben. Ein lupenreiner Faschist war aber noch nicht dabei. Das könnte sich mit der nächsten Wahl ändern, sollte der Krawall-Schwachmat Donald Trump das Rennen machen. Dieser Kandidat, wie Jamelle Bouie gerade im US-Debattenmagazin Slate analysiert hat, ist nämlich einer. Bouie legte seiner Untersuchung den Faschismus-Aufsatz von Umberto Eco in der New York Review of Books vom 22. Juni 1995 zugrunde, in dem Eco unter anderem folgende Kriterien herausgearbeitet hatte: Einen Kult des Handelns um des Handelns willen, die Bewertung von Nachdenklichkeit als Form der Entmännlichung, Intoleranz gegenüber analytischer Kritik, Furcht vor Unterschieden, den Aufbau einer nationalen Identität gegen innere und äußere Feinde, offene Verachtung von Schwachen und das Zelebrieren einer aggressiven und gewalttätigen Maskulinität. Bouie über Trump: „Für sich genommen und alleinstehend ist die Rhetorik Trumps nicht notwendigerweise faschistisch. Doch zusammen genommen und in der Person des Donald Trumps ist klar: Die Rhetorik des Faschismus ist da und zunehmend auch die dazugehörige Politik. Das einzige was fehlt, ist die Gewalt.“
Jamelle Bouie: Donald Trump Is a Fascist, Slate, 25.11.2015. Zum Volltext hier klicken.

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„Um einen Schriftsteller kennenzulernen“, beginnt Kai Köhler sein höchst differenziertes biographisch-literarisch-weltanschauliches Porträt des vor zehn Jahren verstorbenen sehr populären DDR-Schriftstellers Harry Thürk, „hilft manchmal der Blick auf seine Feinde. Über Harry Thürk schrieben sie zum Beispiel folgendes: Ein ‚deutscher demokratischer Denunziant‘ sei er, so Die Zeit 1979 in einer Aburteilung des Romans ‚Der Gaukler‘. Was Thürk produziere, sei ‚rote Kolportage‘ eines ‚fleißigen Genossen‘, die ‚sehr oft an die entsprechenden Bücher und Filme aus dem Dritten Reich‘ erinnere. Und weil der Schriftsteller nach dem Anschluss der DDR immer noch seine Leser hatte, prägte Der Spiegel 1995, anlässlich einer Neuauflage des Kriegsbuchs ‚Die Stunde der toten Augen‘, das Schlagwort vom ‚Konsalik des Ostens‘, dessen ‚politpornographische Romane‘ immer noch Spitzenauflagen erzielten.“
Kai Köhler: Prosa mit Haltung. Vor zehn Jahren starb Harry Thürk. Er war einer der meistgelesenen Autoren der DDR, junge Welt, 24.11.2015. Zum Volltext hier klicken.