27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Bemerkungen

Rheinmetall – heute und gestern

Der DAX-Konzern Rheinmetall stellt Hilfsmittel für die Landesverteidigung her, die zugleich weltweit höchst nachgefragte Exportprodukte sind: Das Portfolio umfasst, so listete Ossietzky jüngst auf, von „[…] Glattrohr-Panzern wie Leopard zwei, Fuchs, Panther nebst Munition; Brückenleger- und Minenräumpanzern, Panzerabwehr, Flugabwehr, Haubitzen, Maschinenkanonen bis zu Flugzeugkanonen, bemannten und unbemannten Bodenfahrzeugen und, und, und – über 600 Angebote von Ausrüstung und Ausbildung zu Land, zu Wasser und in der Luft“. Permanent-pazifistische Nörgler synonymisieren eine solche Palette allerdings gern mit dem Begriff Rüstungsschmiede. Und was die Umgehung allzu lästiger staatlicher Exporteinschränkungen anbetrifft, da galt das Unternehmen dem leider viel zu früh verstorbenen, exzellent informierten Friedensforscher Otfried Nassauer als besonders findungsreich im Hinblick auf Umgehungsstrategien – siehe zum Beispiel seinen Text „Waffen für die Welt“.

An der Börse ist die Rheinmetall-Aktien gerade der „DAX-Highflyer“ (Börse Online) schlechthin: Dank „Zeitenwende“ samt massivem Militarisierungsschub für die Bundeswehr und üppiger Waffenlieferungen an die Ukraine hat sich der Aktienkurs des Unternehmens seit Ende 2021 versechsfacht!

Und nun, so der Vorstandsvorsitzende von Rheinmetall, Armin Papperger, „möchte“ der Konzern „seine Marke auch international noch bekannter machen“ und konnte dafür das Rasenballunternehmen Borussia Dortmund als Partner gewinnen. Den sponsert man mit Beginn der nächsten Spielzeit im sechsstelligen Bereich, jährlich. Noch offen ist, ob die Ruhrpottkicker dann nur mit dem Rheinmetalllogo auf dem Trikot auflaufen werden oder auch mit Leo zwei-, Fuchs-, respektive Panthersilhouette.

Angesichts von so viel positivem Aufwind stänkern doch wirklich nur noch dauermoralinsaure Spiel- und Geschäftsverderber mit der Frage, ob es nicht vielleicht in der Vergangenheit des Unternehmens ebenfalls das eine oder andere Bemerkenswerte gibt. Etwa am Standort Unterlüß. Dort, in der lieblichen Lüneburger Heide, produziert Rheinmetall bereits seit 1899, während des Ersten Weltkrieges unter anderem Giftgas. Zum Einsatz kamen Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter. Dieses System wurde einen Weltkrieg später, ab 1941, stark ausgebaut. Dazu heißt es in der Dokumentation „Zwangsarbeit im Faschismus bei der Firma Rheinmetall-Borsig und der Rüstungsstandort Unterlüß“ der Initiative „Rheinmetall entwaffnen“ aus dem Jahre 2021: „Die Hälfte der am Standort Unterlüß eingesetzten zivilen Arbeitskräfte kam aus Polen, ein Viertel aus der Sowjetunion, der Rest aus Jugoslawien, Belgien, Frankreich und Italien. Weiter gab es sowjetische, italienische und französische Kriegsgefangene und jüdische Frauen, KZ­Häftlinge, die meisten aus Polen und Ungarn kommend. Insgesamt mehrere Tausend Sklavenarbeiter:innen, die in 21 Barackenlagern und Unterkünften im kleinen Ort Unterlüß lebten.“ Diese Praxis pflegte Rheinmetall auch an seinen Standorten in Düsseldorf und Sömmerda.

Arthur G. Pym

 

Überfällige Frage

Wäre es allein angesichts der zunehmenden Vermüllung öffentlicher Räume durch eine offenbar anwachsende Anzahl minderkonditionierter Mitbürger, aber auch wegen zahlreicher weiterer antropogener Unzulänglichkeiten nicht an der Zeit, die Internationale Konvention der Menschenrechte durch eine ebensolche der Menschenpflichten zu ergänzen und die weitere Gewährleistung der ersteren in einen konditionierenden Zusammenhang mit der Erfüllung letzterer zu stellen?

sarc

 

Modigliani im Barberini

Mandelförmige, oft wie bei Skulpturen blicklose Augen haben Amedeo Modiglianis Stil unverkennbar gemacht. Dieser prägt auch die in zurück­haltender Distanz gemalten und oft androgyn wirkenden Portraits von Freundinnen, Galeristen und Künstlerkollegen. Seine Portraits und Akte, zwischen 1907 und 1919 in Paris gemalt, begleiteten und formten die Entwicklung des Menschen­bilds einer jungen Künstler­generation. Erstmals weitet eine Ausstellung zu Modigliani – in diesem Fall eine Kooperation des Potsdamer Museums Barberini mit Staatsgalerie Stuttgart, unter Schirmherrschaft der Botschaft Italiens in Deutschland – den Blick über Paris hinaus und zeigt Verbindungen zu euro­päischen Künstlerinnen und Künstlern wie Paula Modersohn-Becker, Gustav Klimt und August Macke auf, die in Wien, Berlin oder Dresden an der Figuration arbeiteten. Einige Schriftsteller­innen, Modeschöpferinnen und Malerinnen waren mit Kurzhaar­frisur und maskuliner Kleidung auch modisch ihrer Zeit voraus und lebten die Emanzipation vor. Modigliani portraitierte sie ebenso wie die Männer der Pariser Avantgarde als kosmo­politische Künstlerfreunde. Die Traumata des Ersten Weltkriegs brachten in der europäischen Malerei der 1920er Jahre einen Kult der Kühle hervor. Modiglianis Portraits und Akte bereiten ihn mit ihrer stoischen Noblesse vor. Modigliani zeigt das neue Menschenbild jedoch ohne expressive Tendenzen, aber auch ohne die kalte Distanz der Neuen Sachlichkeit.

„Modigliani – Moderne Blicke“, Museum Barberini, Humboldtstraße 5-6, 14467 Potsdam, Mittwoch bis Montag 10:00 bis 19:00 Uhr, dienstags geschlossen; noch bis 18.08.204.

 

Zielpunkt Wiesbaden?

Die NATO bereitet sich auf einen weiteren Ernstfall vor: Falls Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnen sollte, rechnet man im Brüsseler Hauptquartier des Paktes nicht nur mit einer weitgehenden Einstellung der amerikanischen Unterstützung für die Ukraine, sondern auch mit der Beendigung der bisherigen Koordinierung der gesamten NATO-Waffenlieferungen und -Ausbildungshilfen für Kiew durch Washington. Das betreibt diesen Job seit Ende 2022 vom Europa-Hauptquartier der US-Streitkräfte im hessischen Wiesbaden aus. Mittels einer rund 300 Mann starken Einheit mit dem Namen Security Assistance Group-Ukraine (SAG-U) und geführt von einem Drei-Sterne-General. Diese Funktion, so wurde in Brüssel beschlossen, geht an die NATO über. Und der Einfachheit halber wird der Standort Wiesbaden beibehalten. Konkret die Clay-Kaserne, das Hauptquartier der US-Army für Europa und Afrika. Auch NATO-seitig wird ein Drei-Sterne-General das Kommando übernehmen.

Wie wird Russland darauf reagieren? Russische Politiker wie etwa Dimitri Medwedew haben bereits mehrfach geäußert, dass Staaten, die den Einsatz ihrer Waffen zum Abschuss gegen Russland freigeben, von Moskau als Kriegsziele angesehen werden.

Ungarn beteiligt sich übrigens nicht. Ministerpräsident Viktor Orbán betonte vielmehr: „Wir ziehen nicht in diesen Krieg und werden nicht auf fremder Erde für andere Interessen sterben. Ich sage es langsam, damit sie es auch in Brüssel verstehen: Ein drittes Mal wenden wir Ungarn uns nicht gen Osten. Wir haben an der russischen Front nichts verloren. Wir verheizen nicht unsere Jugend, während sich Kriegsspekulanten dumm und dämlich verdienen.“

gm

 

Lustige Cartoons

Alle drei Jahre gibt es in der ansonsten nicht gerade mit Aktionen glänzenden Stadt Greiz etwas zu lachen. Da findet nämlich im dortigen Sommerpalais eine Triennale der Karikatur statt. Bereits zu DDR Zeiten pendelten viele Liebhaber ins Thüringische Vogtland, um Karikaturen, Cartoons und satirische „Bastelarbeiten“ zu genießen.

Diesmal steht alles unter dem Motto „Ich denke, also spinn’ ich“, das ironisch an den Ausspruch des Philosophen Renè Descartes erinnert: „Ich denke, also bin ich“.

Zu dieser 11. Triennale haben wieder viele Künstler, insgesamt 126, aus Ost und West ihre Arbeiten eingereicht haben und davon 300 Kunstwerke voller Humor und Satire ausgestellt werden. Natürlich sind erneut bekannte Namen dabei: Barbara Henniger, der in diesem Haus bereits eine ganze Ausstellung gewidmet war, Harald Kretzschmar, Beck, Klaus Stuttmann, Hauck und Bauer, Til Mette, Tetsche und Cleo-Petra Kurze.

Unter anderem gibt es eine Zeichnung von Gösta vom Felde, auf der ein Abt zum anderen spricht: „Stören Sie ihn jetzt nicht. Der Herr Kardinal denkt über seine Sünden nach.“ Dabei sitzt dieser Kardinal vorne im Bild, lächelt ziemlich unverschämt, guckt irgendwie lüstern und ist mit sich vollkommen im Reinen. Kurz und trocken hat vom Felde die Aufklärung der Missbrauchsskandale der katholischen Kirche dargestellt. Aber auch Uwe Krumbiegel spinnt ganz vorzüglich, denn auf seinem Bild hält eine Frau eine Karikatur in die Höhe spricht zum Künstler: „Da dieser Cartoon lustig ist, verletzt er die Gefühle von Menschen, die keinen Humor verstehen!“

Leider gibt es den Tod zweier hervorragender Karikaturisten zu beklagen, die schon zu vielen Ausstellungen ihre Bilder zur Verfügung stellten. Rainer Hachfeld aus Berlin und Werner David aus Leipzig, der für die Triennale bereits ein Päckchen fertig hatte und noch an einem Werk arbeitete, als er verstarb. Seine Tochter übergab der Ausstellungsleitung trotzdem die Cartoons.

Die Ausstellung im Greizer Sommerpalais, die diesmal einen Monat länger geöffnet hat (bis 3. November), kann bereits besichtigt werden. „Spinner“, die nach Greiz zum lustige Bilder schauen gehen oder fahren, können danach einen ganz hervorragenden Ausstellungskatalog mit nach Hause nehmen und damit andere Kunstbegeisterte nach Greiz locken.

Thomas Behlert

 

Krimistunde

Wollen muss man müssen.

Tabor Süden

 

Friedrich Ani, Alt- und Großmeister im Aufspüren und Abschildern maximaler Tristesse im singulären wie im paarweise menschlichen Leben, schickt seinen Münchner Fahnder Tabor Süden bereits seit längerem in die Spur. (Der erste Titel, „Die Erfindung des Abschieds“ war bereits im Jahre 2001 erschienen.) Zunächst lange und zuletzt im Range eines Hauptkommissars im Dezernat K11, das mit Vermissungen befasst ist, also mit dem plötzlichen Verschwinden von Menschen aus ihrem angestammten Lebensraum. Nach desillusioniertem Aussteigen Südens aus der Beamtenlaufbahn nun jedoch bereits seit etlichen Jahren als „Latschenhatscher“ (89), wie der Fahnder Privatdetektive abzuwatschen pflegte.

Im nunmehr jüngsten der inzwischen über 20 Bände umfassenden Reihe, „Lichtjahre im Dunkel“, handelt von Leo Horn. Der hatte, noch deutlich minderjährig, das elterliche Erbe – eine florierende Papeterie – antreten müssen. Durch gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel verlor er seine Stammkundschaft an Supermärkte und das Internet. Die Metamorphose des Geschäftes hin zu Postdienstleistungen bescherte finanziell mehr Siechtum denn Prosperität. Und Geld für Horns nächste Geschäftsidee – ein Café – will ihm niemand leihen. So fristet dieser Leo ein dumpfes Leben, „das auf der Stelle tritt, in dem es keine Klänge mehr gibt, keine Echos, keinen Überschwang, kein Tänzeln, kein unvermutetes Lachen“ (188), ein Leben folglich, dass „sich zu einer einzigen Agonie entwickelt hatte“ (296). Wozu eine niederschmetternd totgelaufene Ehe das Ihrige beitrug.

Und dann ist Leo Horn plötzlich weg …

Für Leser, die eine schlüssig sich entfaltende Geschichte und eine psychologisierende Erzählweise nachgerade Balzacschen Formates ebenso zu schätzen wissen wie Dialoge von selten trockener Lakonie, lässt sich die Frage, ob man dieses Buch lesen sollte, mit Südens knapper Standardbejahung beantworten: „Unbedingt!“

Alfons Markuske

Friedrich Ani: Lichtjahre im Dunkel, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 437 Seiten, 25,00 Euro.

 

Ein kleines Lied

von Marie von Ebner-Eschenbach

Ein kleines Lied! Wie geht’s nur an,

daß man so lieb es haben kann?

Was liegt darin? Erzähle!

Es liegt darin ein wenig Klang,

ein wenig Wohllaut und Gesang

und eine ganze Seele.

 

Heinrich Lund / Wilhelm Suhr (Hrsg.): Deutsches Dichterbuch,

Verlag Herrosé & Ziemsen, Wittenberg o.J.

 

Brasilianische Glücksmomente

Weit mehr als ein Vierteljahrhundert sind die musikalischen Welterkunder von Quadro Nuevo bereits aktiv.

Sie okkupieren aus dem Süden Deutschlands nicht einfach fremde Musikstile, sondern sie bereisen bewusst fremde Gestade, um die Musik und die Kultur vor Ort zu erkunden und zu erleben. Und mit diesen höchst unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen im Reisegepäck – sei es aus Argentinien, vom Balkan oder sei es aus Island – entstanden dann vielfältige Alben.

Ausgangspunkt für das neue Album „Happy Deluxe“ war ein längerer Aufenthalt in Brasilien. Hier konnten sie sich nicht nur am Caipirinha, sondern an den Musikstilen Samba, Bossa Nova und Chorinho laben.

Und die dort erlebte Lebensfreude wurde zum zentralen Moment des Albums. Sie betonen selbst: „Die Fröhlichkeit und Freundlichkeit vieler Menschen in Brasilien faszinierte uns. Sie färbte unsere neuen Lieder. So entstand auch der Titel des Albums. Uns ist durchaus bewusst, dass die alltägliche Lebenswelt vieler Menschen alles andere als unbeschwert ist. Trotzdem – oder gerade deshalb – darf auch in Zeiten von Krisen und Kriegen die Musik eine positiv Gegenwelt anbieten.“

Die musikalischen Glücksforscher haben auch zwei global bekannte Freudenschätze in „Happy Deluxe“ aufgenommen: „Happy“ (von Pharrell Williams) und „Don’t worry, be happy“ (von Bobby McFerrin).

Für die brasilianisch gefärbten Glücksmomente hat sich die Stammbesetzung von Quadro Nuevo (Mulo Francel/Saxofon, Klarinette, Mandoline; Andreas Hinterseher/Akkordeon, Trompete; D.D. Lowka/Bass) sehr passend verstärkt durch Chris Gall/Piano; Tim Collins/Vibraphon; Paulo Morello/Gitarre; Philipp Schiepek/Gitarre; Marco Lobo/Percussion.

Bleibt zu hoffe, dass diese Lebensfreude auf das zuhörende Publikum kräftig abfärbt …

Thomas Rüger

 Quadro Nuevo: Happy Deluxe, Label: GLM Music, CD ab 14,99 Euro.

 

Film ab

Vor nun immerhin schon neun Jahren ist in diesem Magazin der Film „Inside Out“ (deutscher Titel: „Alles steht Kopf“) geradezu euphorisch besprochen worden (Blättchen 21/2015). Auf höchst intelligente und amüsante Weise wurde illustriert, was sich im Kopf der elfjährigen Riley abspielt, auf welche komplexe Art und Weise die Kern-Emotionen Freude, Kummer, Furcht, Wut und Ekel interagieren und was passiert, wenn die eine oder andere davon ihrem Affen ab und an mal so richtig Zucker gibt. Der Streifen wurde 2016 hochverdient mit dem Oscar als bester Animationsfilm geehrt.

Am Ende der damaligen Besprechung hieß es: „Es könnte demnächst einen zweiten, eher noch dramatischeren Teil geben, denn am Schluss des Films taucht auf dem Schaltpult in Rileys Kopf, an dem die Emotionen ihren Dienst versehen, ein neuer, tiefroter Button auf – mit dem Begriff „Pubertät“. Fragt eine der Emotionen: ‚Was ist denn das?‘ Antwortet eine andere: ‚Ach, irgend so was Unwichtiges‘ …“

Doch erst jetzt ist es soweit, aber wer da meint, was lange währt, wird endlich gut, könnte herb enttäuscht werden. Zwar hat Rileys Pubertät nunmehr eingesetzt und zu den alten Emotionen kommen neue ins Spiel – Zweifel, Neid, Ennui (blasierter Überdruss, lethargisches Gelangweiltsein) und (ein schnell übersteigertes) Peinlichkeitsempfinden. Die übernehmen weitgehend die Regie in Rileys Kopf. Allerdings findet die pubertäre Achterbahn im neuen Film nahezu überhaupt nicht zwischen Riley und ihren Eltern und schon gar nicht im Hinblick auf erste Liebesempfindungen zum anderen oder auch zum eigenen Geschlecht statt. In Zeiten allgemeiner Betroffenheitsbesoffenheit in so Rubriken wie Political Correctness, MeToo oder Wokeness waren das den amerikanischen Filmemachern der Pixar Studios wahrscheinlich einfach zu verfängliche Bereiche. Daher darf sich Rileys Pubertät ausschließlich in einem Eishockeycamp für ausschließlich 13-jährige Mädchen mainifestieren, bei denen sich überdies außer bei Riley offenbar noch bei keiner anderen das knarzende Höllentor zum Erwachsenwerden schon irgendwie aufgetan hat … Damit haben sich die Macher des Films leider so ziemlich jeder Chance begeben, das Niveau des Erstlings inhaltlich auch nur zu touchieren.

Vielleicht hätte Pete Doctor, Mit-Autor des Drehbuches und Regisseur des ersten Filmes, die Sache besser wieder selbst in die Hand genommen. Doch Docter, in der Pexar-Hierarchie inzwischen aufgestiegen, beauftragte stattdessen Kelsey Mann, einen Regiedebütanten. Dieses Experiment ist trotz 175-Millionen-US-Dollar-Budget allenfalls zum Teil (unter anderem 3-D-Animation) gelungen.

Die Frage, ob man ihn seitens des Studios bereits um Ideen für „Alles steht Kopf 3“ angegangen habe, hat Kelsey Mann in einem Interview zwar verneint, doch da Disney-Chef Bob Iger – auch der Herr über Pixar – verkündet hat, „dass das Studio fortan noch stärker auf seine erfolgreichen Franchises setzen will“, steht dennoch zu befürchten, dass wir Riley nun schlimmstenfalls bis zu Berentung begleiten werden. Die längst unsäglichen „Piraten der Karibik“, ebenfalls aus dem Hause Disney, – mit bisher fünf Spielfilmen, zahllosen Videospielen und diversen Themenstrecken in Disney-Vergnügungsparks – lassen grüßen.

„Alles steht Kopf 2“, Regie: Kelsey Mann; derzeit in den Kinos.

*

„Gell, du bist die Freundin vom Rainer“, sagt in einer Szene in einer Galerie jemand zu Maria Lassnig. Als wäre sie vor allem Beiwerk ihres Geliebten und Malerkollegen Arnulf Rainer. Denn als eigenständige Malerin der zeitgenössischen Moderne, gar als eine der wichtigsten Künstlerinnen Österreichs, ist sie die meiste Zeit ihres Lebens von der männlich dominierten Künstlerszene ebenso wenig wahrgenommen worden wie vom nicht minder maskulinen Kunstbetrieb. Ein Leben lang musste die 1919 als uneheliches Bauernkind in Kärnten geborene und vor zehn Jahren im Alter von 94 verstorbene Malerin um die ihr immer wieder verwehrte Anerkennung kämpfen. Sie nahm es mit einem Sarkasmus, der ihre zeitweise Verzweiflung nur mäßig kaschierte, und malte sich zur Vernissage schon mal einen Schnurrbart ins Gesicht. Im Übrigen wollte sie für ihre Kunst geachtet werden, nicht als Frau.

Der Film ist nicht linear, nicht als klassisches Biopic inszeniert, sondern in einer hybriden Mischung aus dokumentarischem Material und Spielszenen, die überdies zwischen Zeiten und Orten, realen und mentalen Zuständen ziemlich abrupt hin- und herspringt. Gespielt wird Maria Lassnig von der enorm wandlungsfähigen Birgit Minichmayr – sie bringt etwa den zunehmenden körperlichen Verfall der Künstlerin gegen Ende von deren Leben so realistisch auf die Leinwand, dass es zwar ein wenig befremdet, jedoch nicht stört, dass der Schauspielerin dabei nicht auch die über 90 Jahre der Maria Lassnig von der Maske ins Gesicht modelliert sind. Bert Rebhandl von der FAZ meinte: „Der Kinofilm ‚Mit einem Tiger schlafen‘ […] hat großes Glück mit seiner Hauptdarstellerin Birgit Minichmayr.“ Da soll dem Kollegen nicht widersprochen werden. Im Gegenteil.

Was übrigens die Sache mit dem Tiger angeht, so ist das Sujet zwar direkt dem Œuvre Maria Lassnigs entnommen, ob es sich dabei jedoch um eine Metapher für einen Missbrauch, eine unerfüllte Sehnsucht oder für ganz etwas anderes handelt, darüber waren sich die Kinogänger, die Begleiterin des Besprechers und dieser selbst, nicht einig.

„Mit einem Tiger schlafen“, Drehbuch und Regie: Anja Salomonowitz; derzeit in den Kinos.

Clemens Fischer

 

Längst vergessen?!

Fundstücke aus DDR-Jahrgängen der Weltbühne, die dank einer Spende aus Leserhand nunmehr im Blättchen-Archiv stehen.

Die Redaktion

Borzens Bücher-Bord

Unter dem hochgestochenen Titel „Was zählt, ist die Wahr­heit“ hat Werner Liersch im Mit­teldeutschen Verlag Halle eine Anthologie herausgegeben, die enthält, was der Untertitel verspricht: „Briefe von Schrift­stellern der DDR“. Liersch wollte erkunden, wie es hier und heute um die „Briefstellerei“ be­stellt ist. Er gliedert zwar in Sparten wie „Anfänge“, „Kolle­genbriefe“, „Dialoge mit dem Leser“, „Autor und Lektor“, weiß aber natürlich selbst am besten, welchen vielen Zufällen gerade das Briefe-Sammeln aus­gesetzt ist.

Interessant sind weniger ein­zelne Briefe – Ausnahmen von Strittmatter, de Bruyn, Kunert bestätigen die Regel – oder kurze Dialoge als Sammlungen und Korrespondenzen. Über Christa Wolf erfährt man viel aus ihren Briefen an Gerti Tetzner (1965, 1968). Eigenschaften von Karl-Heinz Jakobs treten in seinen tagebuchähnlichen Mitteilungen aus Mali (1967) genau zutage. Selbst wer das Ehepaar Fred und Maxie Wander kennt, liest diesen Briefwechsel, 1973 und 1974 zwischen Wien und Klein­machnow geführt, nicht ohne Überraschung. Die Korrespondenz von Brigitte Reimann und Annemarie Auer, aus der über einen längeren Zeitraum (1963 bis 1972) mitgeteilt wird, belich­tet beide Autorinnen und die Entstehung des Romans „Fran­ziska Linkerhand“. Den Vogel schießt Heinz Knobloch mit sei­nem „Blumenschwejk“ ab: Das kann ein Dokument sein, aber auch haargenau eins von Knos Feuilletons.

Das Buch hat interessante Druckfehler. Liersch schließt sein Nachwort mit der Ortsangabe „Pelzow“. Gemeint ist sicher Petzow: in Schriftstellerkreisen Synonym für das dort gelegene Heim. Die spitzzüngige Brigitte Reimann nennt es „Zauberberg Petzow“ oder „unseren VEB El­fenbeinturm“. Spitzzüngiges gibt es in diesen Briefen merkwürdig wenig. Das wundert

Kaspar Borz

Weltbühne, 16/1976

 

Kaspar Borz war das Pseudonym von Günter Caspar, Lektor und Cheflektor im Aufbau-Verlag sowie Fallada-Herausgeber, verstorben 1999. Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, Inhaber der Rechte an den Wb-Publikationen von Günter Caspar ausfindig zu machen. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.

 

Kraus’sche Boshaftigkeiten – Made in Austria

Der Österreicher läßt sich aus jeder Verfassung bringen,

nur nicht aus der Gemütsverfassung.

 

Das österreichische Leben hat eine Entschädigung: Die schöne Leich.

 

Österreich hat durch seine politischen Blamagen erreicht,

daß man in der großen Welt auf Österreich aufmerksam wurde

und es endlich einmal nicht mehr mit Australien verwechselt.

 

Made in Austria – aha, von altem Käse ist die Rede.

Österreich ist „gut durch“.

Aber bald werden die Kellner bedauern, nicht mehr dienen zu können.

 

Ich kenne eine Bureaukratie, die auf Eingebungen weniger hält als auf Eingaben.

 

Preußen: Freizügigkeit mit Maulkorb.

Österreich: Isolierzelle, in der man schreien darf.

 

In Berlin gehen so viele Leute, daß man keinen trifft.

In Wien trifft man so viele Leute, daß keiner geht.

 

Jeder Wiener ist eine Sehenswürdigkeit, jeder Berliner ein Verkehrsmittel.

 

Wahrlich, ich sage euch, eher wird sich Berlin an die Tradition gewöhnen

als Wien an die Maschine.

 

Vorschläge, um mich dieser Stadt wieder zu gewinnen:

Änderung des Dialekts und Verbot der Fortpflanzung.

 

Eine Stadt, in der die Männer von der Jungfrau,

die es nicht mehr ist, den Ausdruck gebrauchen, sie habe „es hergegeben“,

verdient dem Erdboden gleichgemacht zu werden.

 

„Geh’ns, seins net fad!“ sagt der Wiener zu jedem,

der sich in seiner Gesellschaft langweilt.

 

Aus-Leser: Jürgen Hauschke

Die Orthographie des Originals wurde beibehalten,

Wird fortgesetzt.

 

Aus anderen Quellen

Gleich nach dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine gab es Friedensverhandlungen zwischen beiden Staaten. Deren Substanz ist unter anderem drei jetzt von der New York Times in englischer Übersetzung veröffentlichten Verhandlungsdokumenten (vom 17.03.2022, vom 29.03.2022 und vom 15.04.2022) zu entnehmen. In einer Analyse dieser Dokumente von Anton Troianovski, Adam Entous und Michael Schwirtz heißt es unter anderem: „Die Ukraine machte ein bedeutendes Zugeständnis: Sie war bereit, ein ‚dauerhaft neutraler Staat‘ zu werden, der niemals der NATO beitreten oder zulassen würde, dass ausländische Streitkräfte auf seinem Boden stationiert werden. Das Angebot schien Putins Hauptkritikpunkt anzusprechen – dass der Westen nach Ansicht des Kremls versucht, die Ukraine zu benutzen, um Russland zu zerstören.“
Petra Erler hat den Beitrag der US-Journalisten unter die Lupe genommen: „Obwohl sich die NYT viel Mühe gab, nicht das ganze westliche Märchenporzellan zu zerschlagen – jede Menge davon ging zu Bruch. Es beginnt damit, dass Putin nicht verhandeln wolle. Die NYT lieferte nun den Gegenbeweis. Behauptungen, wie Russland wolle die Ukraine vernichten, es könne keine Demokratie in der Nachbarschaft ertragen, die Nato-Mitgliedschaftsoption für die Ukraine habe nichts mit dem Krieg zu tun, wurden ebenfalls entlarvt. Es war kein unprovozierter Krieg. Mit dem Verhandlungsscheitern wurde er zum verlängerten Krieg, entblößte seinen Stellvertretercharakter vollends. Denn die NYT bestätigte bisherige Verlautbarungen ukrainischer Verhandlungsteilnehmer: Der Dreh- und Angelpunkt des russischen Interesses war es, die Neutralität der Ukraine zu erreichen. Von der Ukraine sollte keine militärische Gefahr für Russland ausgehen.“

Anton Troianovski / Adam Entous / Michael Schwirtz: Ukraine-Russia Peace Is as Elusive as Ever. But in 2022 They Were Talking, nytimes.com, 15.06.2024. Zum Volltext hier klicken.

Petra Erler: Westliche Kriegserzählungen – Die Fassade bröckelt, petraerler.substack.com, 21.06.2024. Zum Volltext hier klicken.

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Die nukleare Abschreckung, schreibt Dmitri Trenin, sei kein Mythos. Sie habe vielmehr „uns und der ganzen Welt während des Kalten Krieges Sicherheit gegeben. Abschreckung ist eine psychologische Kategorie. Man muss einen nuklear bewaffneten Gegner davon überzeugen, dass er seine Ziele nicht erreichen wird, wenn er uns angreift, und dass er im Falle eines Krieges sicher sein kann, selber vernichtet zu werden. Die gegenseitige nukleare Abschreckung der UdSSR und der USA während ihrer Konfrontation im Kalten Krieg wurde durch die Realität der gegenseitig zugesicherten Vernichtung im Falle eines massiven Austauschs von Atomschlägen verstärkt. Im Englischen sieht die Abkürzung für Mutual Assured Destruction übrigens aus wie MAD (‚Wahnsinn‘).“

Dmitri Trenin: Die gegenseitige nukleare Abschreckung funktioniert nur noch beschränkt, globalbridge.ch, 21. Juni 2024. Zum Volltext hier klicken.

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„Der Rüstungskonzern Rheinmetall“, darüber inforiert Jonas Jansen, „hat von der Bundeswehr einen der größten Einzelaufträge in der Unternehmensgeschichte bekommen. Der Rahmenvertrag umfasst die Lieferung von 155 mm-Artilleriemunition im Gesamtwert von bis zu 8,5 Milliarden Euro, wie der Dax-Konzern aus Düsseldorf am Donnerstag mitteilte. […] Mit der Bestellung sollen die Lagerbestände der Bundeswehr und ihrer Verbündeten aufgestockt werden und außerdem die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland unterstützt werden. […] außerdem gehören die Niederlande, Estland und Dänemark zu den Abnehmern.

Jonas Jansen: Bundeswehr bestellt Munition für bis zu 8,5 Milliarden Euro, faz.net, 20.06.2024. Zum Volltext hier klicken.

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Bevor sich Ralph Bosshard der Neutralität der Schweiz zuwendet, wirft er einige Blicke zurück, unter anderem diesen: „Grundsätzlich war die Partnership for Peace der NATO (PfP) als Programm gedacht für Länder, die sich um eine Annäherung an die NATO bemühten, denen die NATO aber keine Mitgliedschaft anbieten wollte […]. Die Skepsis gegen eine Osterweiterung kam auf, weil man vermutete, dass manche Länder glauben könnten, mit einer Mitgliedschaft in der NATO im Rücken alte Konflikte mit Russland wieder anheizen zu können. Die Osterweiterung der NATO hätte mit einem Ausbau der Rüstungskontrolle, der vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen und der Stärkung von Mechanismen zur Beilegung alter, zu Sowjetzeiten unter dem Deckel gehaltener Konflikte einhergehen sollen. Das Gegenteil ist passiert. Wenn man heute die Scharfmacher aus dem Baltikum hört, wird klar, dass diese Skepsis damals sehr berechtigt war.“

Ralph Bosshard: Die Schweiz heute: neutral faute de mieux, globalbridge.ch, 21.06.2024. Zum Volltext hier klicken.

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„Terror, so heißt es oft, ist die Waffe der Ohnmächtigen“, schreibt Bernhard Schindlbeck und fährt fort: „Keine technologisch noch so hoch gerüstete Militärmaschine, kein Geheimdienst, keine Regierung kommt gegen ihn an; schon deshalb nicht, weil sie alle blind sind für die Ohnmacht – die ja in aller Regel von ihnen selber erzeugt ist. Armut, Verzweiflung und Ohnmacht fallen ja nicht vom Himmel einfach so. Schon im Vietnamkrieg mussten die USA einsehen, dass sie einen asymmetrischen Krieg trotz aller militärtechnologischen Überlegenheit nicht gewinnen können. Und Terror ist noch asymmetrischer als Guerilla, er ist die maximale Asymmetrie zwischen dem größten faktischen militärischen Potential hier und subjektiv gefühlter absoluter Ohnmacht dort. Deshalb hält sich Terror […] an keinerlei Regeln im Konflikt; jedes Mittel ist ihm recht. Abscheulichkeit, Brutalität, Grausamkeit, Barbarei sind für ihn keine abzulehnenden Kategorien, denn er selber sieht sich als deren Ergebnis.“

Bernhard Schindlbeck: Dummheit und Terrorismus, Ossietzky 12/2024. Zum Volltext hier klicken.

Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.

Letzte Meldungen

Die Anzahl der einsatzbereiten Atomwaffen ist im vergangenen Jahr abermals gestiegen, wie das Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI in seinem gerade veröffentlichten Jahresbericht schreibt. Das Institut bezog sich dabei auf Daten vom Januar 2024 im Vergleich zum Januar 2023. Der Trend werde in den kommenden Jahren vermutlich anhalten, erklärte das Institut weiter und sprach von einer äußerst besorgniserregenden Entwicklung.

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Deutschland hat der NATO für das laufende Jahr geschätzte Verteidigungsausgaben in Höhe von 90,6 Milliarden Euro gemeldet und erreicht damit klar das Zwei-Prozent-Ziel des Bündnisses. Wie aus einer Übersicht der NATO hervorgeht, entspricht die Rekordsumme einem Anteil am prognostizierten deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,12 Prozent. Die Quote würde damit höher liegen als noch zu Jahresbeginn erwartet.

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Deutschland ist wieder die weltweite Nummer eins beim Hopfenanbau. Zum ersten Mal seit neun Jahren haben die Anbauflächen in Deutschland diejenigen in den USA überflügelt. Hierzulande wird demnach auf 20.300 Hektar Hopfen angebaut. Hingegen nur 17.850 Hektar sind es in den USA.

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