25. Jahrgang | Nummer 1 | 3. Januar 2022

Miszellen

Von der Errichtung des Paradieses (Wolfgang Brauer) – Chinas Jahrhundert (Viola Schubert-Lehnhardt) – Zerreißprobe Deutschland (Henry-Martin Klemt) – Wenn aus Gezwitscher Politik wird (Reinhard Wengierek) – Zwei Frauen zwischen Basel und Moskau (Wladislaw Hedeler) – Die Schreibwelten des Günter de Bruyn (Ulrich Kaufmann) – An der unsichtbaren Front (Gerhard Jaap) – Max Liebermann Briefe (Hartmut Pätzke) – Preiswerte Weltmusik (Thomas Rüger)

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Von der Errichtung des Paradieses

Bei der Lektüre der von Michael Leetz besorgten Ausgabe von Andrej Platonows Fragment „Der makedonische Offizier“ fiel mir auf, wie oberflächlich wir heute lesen. Die auf raschen Konsum getrimmte aktuelle Literatur bedient sich kaum stärker verschlüsselter Bilder. Ihre schlichten Botschaften kommen auf oft noch schlichtere Weise daher. Der Markt erzwingt es. In vergangenen Zeiten konnte solches Schreiben lebensgefährlich sein. Und so dämlich waren Zensurbehörden und Geheimpolizei auch wieder nicht, dass sie die Flucht in „exotische“ Stoffe nicht als das begriffen, was sie wirklich war: Ein ästhetisch bedingter Kniff, die eigene missliche Wirklichkeit besser schreibend in den Griff zu bekommen …

Natürlich ist Andrej Platonows Romanfragment – geschrieben zwischen 1932 und 1936 – der Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Regime Stalins. Platonow siedelt seine Geschichte im fiktiven, von seinen Nachbarn komplett abgeschotteten Reich Kutemalia an. Kutemalias Herrscher Osni beschließt, das Paradies zu schaffen und scheut dafür keine Opfer. Für seinen „psychiatrischen“ Plan soll der Bewässerungsfachmann Firs „süßes Wasser“ aus Erdschichten herbeischaffen, in denen absolut kein Wasser vorhanden ist. Firs ist außerdem Geheimdienstmann des makedonischen Königs Alexander und soll für den die Eroberung Kutemalias vorbereiten. Osni und Alexander bedienen sich beide militärischer Gewalt zur Durchsetzung ihrer Politik. Osni schottet sein Reich zwecks Erreichung der Glückseligkeit ab – Alexander, will zu diesem Zwecke die Welt erst griechisch machen. Es sind die Ansätze Stalins und Trotzkis, die hier Pate standen. Der Roman blieb unvollendet und erschien erstmals 1995. Weshalb der Text Fragment blieb, ist unklar. Allerdings wusste die Geheimpolizei, woran der Autor da schreibt …

Michael Leetz nahm in den Band zwei ergänzende Texte auf. So eine kleine Erzählung, in der Platonow seine „Erste Begegnung mit Gorki“ im Jahre 1929 schildert. Das Problem der Gorkischen Wohnung war die Tür. Man kam durch sie hinein, aber so gut wie nicht wieder heraus. Alexej Maximowitschs Besucher empfiehlt beim Abschied, sich nicht weiter mit dem Schloss herumzuärgern, sondern einen neuen Ausgang in das Mauerwerk zu brechen … Das ist durchaus ein politisches Bild! Vor wenigen Jahrzehnten hätte es sich den Lesern in der Sowjetunion und der DDR anstandslos erschlossen. Das hat sich geändert.

Seit Platonow 1931 aufgrund seiner Erzählung „Zum Nutzen“ in Ungnade gefallen war, führte er einen Verzweiflungskampf um seine Rehabilitation. Das belegt auch das „Stenogramm des Werkstattabends mit Andrej Platonow im Gesamtrussischen Verband sowjetischer Schriftsteller“ vom 1. Februar 1932. Platonow übt Selbstkritik. Seine Arbeiten seien „ideologisch morsch und von keinerlei Interesse und Nutzen für die Revolution“. Auch in den unveröffentlichten Sachen „findet sich diese Schädlichkeit in höchstem Grade“: „Meine künstlerische Ideologie seit 1927 [dem Jahr der Stalinschen Abkehr von der NEP Lenins – W.Br.] ist die Ideologie eines parteilosen rückständigen Arbeiters […]“. Er müsse sich jetzt „umbauen“.

Beim Lesen stockt das Blut, man bekommt eine Ahnung, weshalb das Stalinsche „Sozialismus“-Modell eigentlich schon in den 1930er Jahren gescheitert war, scheitern musste. „Der makedonische Offizier“ allerdings ist selbst als Fragment von höchster poetischer Qualität und kann durchaus neben Platonows „Dshan“ (1931) bestehen. Michael Leetz ist für seine Platonow-Bemühungen allergrößter Respekt zu zollen!

Wolfgang Brauer

Andrej Platonow: Der makedonische Offizier. Prosa. Aus dem Russischen übersetzt, mit Kommentaren und einem Nachwort versehen von Michael Leetz, Suhrkamp, Berlin 2021, 140 Seiten, 24,00 Euro.

Chinas Jahrhundert

Die Hans-Modrow-Stiftung hatte am letzten Werktag des Monats, an dem vor 100 Jahre in Shanghai die Kommunistische Partei Chinas gegründet worden war (Juli 1921 – d. Red.), zu einem Werkstattgespräch eingeladen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren hochkarätige Expertinnen und Experten, die sich als Ingenieure, Unternehmer oder Politiker mit der Entwicklung Chinas über Jahre beschäftigt beziehungsweise in China gelebt und gearbeitet haben. Sie gingen insbesondere zwei Fragen nach:

– Wie war Chinas Aufstieg „vom Fussabtreter der westlichen Welt“ zur (gefürchteten) Weltmacht möglich?

– China hat in lediglich 12 Jahren sein Bruttosozialprodukt pro Kopf verdoppelt, Großbritannien benötigte dafür 60 Jahre, die USA 40. Warum fällt es dem Westen so schwer, die Gründe dafür zu erkennen und zu akzeptieren?

Zur Beantwortung wurden unter anderem die Vielfalt der Eigentumsformen sowie die These analysiert, dass die Reformprozesse in China im Kern „eine auf den Kopf gestellte Perestroika“ darstellen; ebenso die Frage danach, welche Bedeutung die Entwicklungen in China für die Welt haben, insbesondere welche neuartigen Herausforderungen diese für die bisherigen imperialen Mächte darstellen. Dazu erfolgte eine umfangreiche Analyse der historischen Entwicklung Chinas – inklusive der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion beziehungsweise der DDR. Im jetzt gedruckt vorliegenden Werkstattgespräch wird immer wieder von den Autoren betont, dass die chinesischen Politiker umfangreich aus den Fehlern beziehungsweise dem Scheitern bestimmter Entwicklungen in diesen wie auch den anderen ehemals sozialistischen Ländern gelernt hätten.

Trotz politischer Unstimmigkeiten kamen die Wirtschaftsbeziehungen nie ganz zum Erliegen – in diesem Zusammenhang wird die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Wirtschaftssanktionen in der internationalen Politik allgemein gestellt und dahingehend beantwortet, dass von 100 Sanktionen seit 1900 lediglich 14 Erfolg gehabt hätten. Das ganze Sanktionswesen sei „Ausdruck ungleicher und ungerechter Machtverhältnisse in der Welt […] und mit dem Anspruch der UN-Charta unvereinbar“. Ebenso spannend sind die Ausführungen dazu, warum die wissenschaftliche Revolution im 17. Jahrhundert nicht in China stattgefunden habe, sondern im Westen, „wenn doch China in Sachen Wissenschaft und Technik auf eine überlegenere Tradition zurückgreifen konnte und zu diesem Zeitpunkt dem Westen auch überlegen war“.

Auch die übliche Kritik des Westens an der Verletzung von Menschenrechten in China wird thematisiert – insbesondere das social scoring – und darauf verwiesen, dass immerhin 80 Prozent der Chinesinnen und Chinesen hinter diesem System stünden. Man müsse daher die westliche Brille absetzen, um verstehen zu können, wie die chinesische Gesellschaft funktioniere. Generell müsse man sich mit einem mindset auseinandersetzen, dass für Harmonie und faire Kooperation stehe und nie an Eroberung und Beherrschung anderer Völker interessiert gewesen sei – selbst die wichtigste militärische Erfindung der Chinesen, das Schießpulver, sei nicht dafür, sondern zur Herstellung von Feuerwerkskörpern genutzt worden. Insofern schließt das Buch folgerichtig mit einem leidenschaftlichen Appell an die LINKE, ihr Verhältnis zu China zu klären.

Viola Schubert-Lehnhardt

Michael Geiger (Hg.): Chinas Jahrhundert. Ein Werkstattgespräch, Verlag am Park, Berlin 2021, 224 Seiten, 15,00 Euro.

Zerreißprobe Deutschland

Büro-Tippse im Osten oder Reformpädagogin im Westen? Bürgerliche Freizügigkeit im Kapitalismus oder Unterordnung in einem Sowjetsozialismus, der andere Anschauungen nur aus Kalkül gelten lässt, aber nicht aus Prinzip? Bleiben, wo Leben und Sterben des eigenen Mannes ein ewig haftender Makel ist oder hingehen, wo mit seinen schöngeistigen Versen auch der Ungeist aufersteht, der Millionen Menschen das Leben kostete? Für Hanna Sewald sind die ersten Nachkriegsjahre eine Zerreißprobe, während die Siegermächte das Land teilen und ihre Besatzungszonen zu Vasallenstaaten machen, ungeschminkt im Osten, aufgehübscht im Westen, aber unübersehbar und offenbar für eine lange Frist. Die noch nicht vierzigjährige Witwe des Dichters, Lehrers und Erziehers einer Nazi-Eliteschule muss drei Söhne durchbringen, während die Geschichte sie überrollt. Weder hat sie den Tod ihres Mannes verwunden, noch kann sie ihren Glauben an die Volksgemeinschaft einfach aufgeben. Sie trägt keine Schuld an dem, was ohnehin kaum zu glauben ist. Sie hat ihren Mann bewundert, ihm zur Seite gestanden und ihn ermutigt, wenn der Zweifel an ihm fraß. Weil er ein guter Mensch war, und was hatte das mit seiner Uniform zu tun oder damit, dass er als Leutnant ein Häuflein halbwüchsiger Volkssturmleute befehligte, bis er aus einem amerikanischen MG-Nest durchlöchert wurde. Oder sollte es wahr sein, dass er selber Hand an sich legte?

Hanna Sewald ist am Ende ihrer Kraft, als sie zu ihrem Vater heimkehrt, mit dem sie sich überworfen hatte um der heiligen Ideen willen, diesen „Qualm und Rausch“, wie der alte Liberale das nannte, der nun im thüringischen Ministerium sitzt und allmählich selber zwischen die Stühle und zwischen die Fronten gerät, ihr aber beistehen wird in all seiner Unzugänglichkeit. Seine Tochter weiß, dass ihr neue Kräfte zufließen könnten, wenn sie ihren Unterhalt selber verdiente. Sie ist Lehrerin und will Lehrerin sein. Doch den neuen Herrschenden im Osten ist sie verdächtig und im Westen wird sie hingehalten, auch noch, als sie schon zwei ihrer Kinder über die grüne Grenze geschmuggelt hat, in gute Hände, wie sie hofft, gegeben. Die Geschichte lässt nicht locker und nur einen Weg wird Hanna Sewald letztlich gehen können…

Manche Bücher brauchen lange, bis sie selber atmen können. Diese Zeit muss ein Autor sich nehmen. Vielleicht umso mehr, je vertrauter die Spuren sind, denen er folgt. Till Sailer ist das gelungen. Spannungsvoll und detailreich beschreibt er die Geschichte seiner Mutter und ihrer Familie. Mit großer psychologischer Einfühlung leuchtet Till Sailer Herkünfte und Motive seiner Protagonisten aus. Jedes der eindrucksvoll szenisch gestalteten Kapitel strebt konsequent einem völlig offenen Ausgang zu. Immer gibt es eine Alternative zum nächsten Schritt – und es gibt den Zufall, der jederzeit in Wohl und Wehe münden kann.

Am weimarschen Mikrokosmos werden die weltpolitischen Veränderungen deutlich, das Auflodern des Kalten Krieges, die Restauration auf der einen, die Entbürgerlichung auf der anderen Seite. Sailer lässt ahnen, dass es dabei nicht nur um eine historische Zäsur ging, die den Rest des zwanzigsten Jahrhunderts prägte. In den unter existentiellem Druck gefassten Entschlüssen schlummern die Aufgaben der kommenden Generationen. Wenn der Autor schließlich Thomas Mann auf die Bühne ruft, kurz vor der Gründung der beiden deutschen Republiken, wird erahnbar, dass dies, in stets neuen Kulissen, immer wieder geschieht. Aus der Frage nach der eigenen Zukunft wird jene nach der Zukunft der Nation, aus der Frage nach dem eigenen Glauben wird jene nach den universellen Werten, auf denen Menschlichkeit fußt. Aus der Frage nach dem Systemwechsel wird jene nach der Selbstverantwortung und den Kontinuen, die sich fortschreiben über alle Brüche einer Biografie hinweg.

Till Sailer entwickelt die literarische Nüchternheit, Geschichte brauchbar zu machen für die Kommenden. Seine Leser empfänglich zu machen für die leicht zu verdrängenden Alltagssignale, wenn es um Glauben und Irrtum geht, Wissen und Schuld und dabei immer um die Würde des Menschen.

Henry-Martin Klemt

Till Sailer: Haus mit der Madonna. Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle/S. 2021, 332 Seiten, 25,00 Euro.

Wenn aus Gezwitscher Politik wird

Lisa, Ressortchefin einer Tageszeitung, hat das alles gründlich satt: Den Medienlärm, den Terror um Verkaufszahlen und Netzklicks, die gezielte Schaffung öffentlicher Erregungszustände. Oder die Ignoranz von Fakten zugunsten politischer Vorteile, ideologische Rechthaberdebatten, Manipulationen, Denunzierungskampagnen einschließlich massenhaft auftauchender Moralpolizisten und Moralpolizistinnen – und noch dazu die sprachverhunzende Genderei. Alles das macht die leidenschaftliche, doch nüchtern am Berufsethos festhaltende Journalistin wütend und traurig.

Sie wechselt, wie es im Jargon heißt, die Seite. Wird Sprecherin verschiedener Landesregierungen, schlägt sich durch den Dschungel der Bürokratie, wehrt medial angezettelte Intrigen gegen ihre hohen Chefs ab und kämpft gegen Wortverdreherei, mit denen lauthals kritischer Journalismus der „anderen Seite“ versucht, Regierungskrisen herbeizuschreiben oder Politiker zu stürzen. Lisa entgeht sogar knapp einem Mordanschlag… – Was für ein abenteuerliches, nervenaufreibendes und nicht ungefährliches Berufsleben hat da die Autorin Monika Zimmermann, Jahrgang 1949, selbst jahrzehntelang leitend aktiv in den höheren Etagen des Medienbetriebs, drastisch und mit, sagen wir, prononciert liberalkonservativem Enthusiasmus aufgeblättert.

Natürlich, „Viel Lärm und nichts“ ist stark autobiografisch gefärbt, wirft also einen aufschlussreichen Blick zurück auf ihren Job mit seinen tollen, aber auch weniger tollen Seiten; insbesondere seine durchs Digitale, durchs Dauergezwitscher vorangetriebenen unheilvollen Verwerfungen. Es ist nicht übertrieben: Im 200-Seiten-Schmöker stecken Bedrohungs-Szenarien für die Demokratie, Warnbilder vom schleichenden Verfall der dritten Gewalt. Eben das handfeste Kompendium Zimmermannscher Berufserfahrung. Umkleidet mit dem flott geschnittenen Mantel eines Unterhaltungsromans.

Reinhard Wengierek

Monika Zimmermann: Viel Lärm und nichts, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021, 211 Seiten, 16,00 Euro.

Zwei Frauen zwischen Basel und Moskau

„An Weihnachten 2015 habe ich Briefe, Fotos und Dokumente meiner Großmutter Marie (1906–1985) und meiner Großtante Paula (1902–1973) auf dem Dachboden meiner Eltern in Basel gefunden und sie in diesem Koffer mit nach Lausanne genommen.“ Über vier Jahre lang folgte die 1973 in Basel geborene Gymnasiallehrerin für Deutsch und Geschichte deren Spuren. Die Überlieferungen, darunter zahlreiche, im Band abgedruckte Briefe, reichen von 1836 bis 1973. Im Ergebnis der aufwendigen Recherchen in Schweizer Archiven und Bibliotheken, Konsultationen mit Historikern sowie Reisen nach Jugoslawien und Russland „haben die beiden Frauen mich geformt, genauso wie ich sie kreiert habe“, notiert die Autorin im Prolog.

Paula reiste 1921 mit ihrem Freund Waldemar Brubacher, dessen Spur sich alsbald verliert, nach Moskau und von dort aus in die Republik der Wolgadeutschen. Ihr aus Ungarn stammender Ehemann wird 1937 erschossen, sie muss als Angehörige eines „Verräters“ in den Gulag. Sie überlebt die Haft in Workuta und wird nach Stalins Tod rehabilitiert. Anders als Marie, die in der Schweiz bleibt, bricht sie nicht mit der Kommunistischen Partei. Der eigentliche Grund für Marie, die Partei zu verlassen war die halbherzige Kritik, Verlogenheit und Vertuschung der Stalinschen Repressalien durch die Parteiführung.

Die recherchierten Geschichten veranlassen die Autorin immer wieder, ihre Wahrnehmungen sozialer Ungerechtigkeiten und Erschütterungen mit denen der beiden Frauen zu vergleichen. Ihre im „Jahr der Flüchtlinge“ aufgenommene Suche nach Antworten und Erklärungsmustern macht die Spannung des Buches aus. Da sie mit den meisten Dokumenten kaum etwas oder nur sehr wenig anfangen kann, sucht sie Hilfe bei Historikern, Bekannten und Leidensgefährten beider Frauen. Peter Huber, Brigitte Studer, Ulla Plener und Horst Hennig seien stellvertretend genannt.

Paula verurteilte Maries Abkehr von der Partei, ein Schritt, der für sie, die die Hoffnung auf Rehabilitierung durch die Partei am Leben hielt nicht in Frage kam. Dafür, dass es nicht bei Briefen zwischen beiden Schwestern blieb, die sich nun in Raum und Zeit gefunden hatten, sorgte Marie, die Ende 1971 nach Moskau reiste, um ihre Schwester zu besuchen.

Mit ihrem berührenden Buch hat Beatrice Schmid die Literatur über das Exilland Sowjetunion um eine ergreifende Familiengeschichte bereichert.

Wladislaw Hedeler

Beatrice Schmid: „Du weißt mich jetzt in Raum und Zeit zu finden.“ Zwei Frauen zwischen Basel und Moskau, Rotpunktverlag, Zürich 2020, 376 Seiten, 34,00 Euro.

Die Schreibwelten des Günter de Bruyn

„Kein Luxus reizte mich mehr als der, in Ruhe gelassen zu werden.“

(Günter de Bruyn, 1996)

Pünktlich zum 1.Todestag des großen märkischen Erzählers erschien im kleinen, aber feinen Berliner Quintus Verlag ein beachtlicher Band zu Günter de Bruyn. In seinem Nekrolog hat Tilman Krause den Autor einen „Eigenbrötler“ und zugleich den „sympathischsten Schriftsteller der DDR“ genannt. Das Adjektiv „sympathisch“ kann man gelten lassen, aber lediglich als „DDR-Schriftsteller“ hat sich de Bruyn weder vor, und schon gar nicht nach dem Umbruch 1989 verstanden. Nach Fontane kann man den Erzähler de Bruyn wohl den wichtigsten Autor der Mark Brandenburg nennen.

Das neue Buch – Untertitel „Zwischen märkischer Kulturgeschichte und deutscher Gegenwart“ – ist vieles in einem: Werkstattbericht, Ausstellungskatalog und Konferenzband, der nicht trocken-akademisch daherkommt. Die Publikation erzählt auch, wie nach 1967 aus der versteckten „Blabber-Schäferei“ bei Görsdorf im märkischen Wald ein Dichter-Haus entstand, das man sich ruhiger kaum denken kann. Ohne einen Lotsen ist die Suche (fast) vergeblich.

Das de Bruyn-Lesebuch, gestaltet von Oda Ruthe, lebt durchgängig von den farbigen Kunstfotografien von Tobias Tanzyna. Als zweiter Fotograf ist Günter de Bruyn selbst zu erleben. Seine „Arbeitsbilder“ ergänzen die Notate, die der Erzähler auf seinen vielen Erkundungsfahrten durch die Mark auf den Spuren seiner poetischen Vorfahren niederschrieb. Dass der Autor, vor allem in seinen letzten Schaffensjahrzehnten, zugleich ein großer Geschichten- und Geschichtsschreiber über Preußen war, ist hinlänglich bekannt und gewürdigt worden.

De Bruyn – Ehrenbürger seines Heimatkreises und Ehrendoktor der Berliner Humboldt-Universität – war zudem ein Herausgeber von Rang. Über Jahre hat er an der Seite Gerhard Wolfs den „Märkischen Dichtergarten“ gehegt und gepflegt.

Der zweite Teil des Buches stellt die Ergebnisse der de Bruyn- Konferenz „Jubelschreie und Todesgesänge – Ein deutsches Schriftstellerleben“ vor. Namhafte Literaturwissenschaftler des In- und Auslandes kommen zu Wort. Immer wieder richtet sich der Blick auf die Mark als die Literaturlandschaft des Autors. Wiederholt werden die Einflüsse Fontanes auf de Bruyn herausgestellt. De Bruyns Berlin-Bild – etwa in dem Roman „Buridans Esel“ (1967) – ist eine Studie gewidmet. Peter Walther, dessen Fallada-Biografie Furore machte, untersucht den letzten Roman des Autors „Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll“. Mit dem Bibliothekar, der den sprechenden Namen Leydenfrost trägt, gelingt dem Autor augenzwinkernd eine Figur, die de Bruyn nicht unähnlich ist. Das Buch wird abgerundet durch einen Blick in die Zukunft. Die Arbeiten und Pläne der Günter- de Bruyn-Stiftung und ihres Freundeskreis werden vorgestellt.

Schon in der siebziger Jahren hat der Autor Gottfried von Straßburgs „Tristan und Isolde“ nacherzählt. Eine junge Germanistin, die noch heute auf den Namen Sigrid Damm hört, hat seinerzeit den Nacherzähler interviewt und ausgiebig rezensiert. Der neue Band lässt uns wissen, dass zum 95. Geburtstag des Schriftstellers 2022 postum sein letztes Buch bei S. Fischer erscheinen wird: Eine Adaption des Kunstmärchens „Die neue Undine“ von Friedrich de la Motte Fouqué.

Ulrich Kaufmann

Christiane Barz / Wolfgang de Bruyn / Hannah Lotte Lund (Hg.): Günter de Bruyn – Schreibwelten. Zwischen märkischer Kulturgeschichte und deutscher Gegenwart, Quintus, Berlin 2021, 232 Seiten, 28,00 Euro.

An der unsichtbaren Front

Mit 765 Seiten schweren Inhalts hat Henry Nitschke erneut ein opulentes und aufschlussreiches Werk vorgelegt, das den Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Auslandsaufklärung des MfS gewidmet ist. Der Autor, Diplomkriminalist, Jahrgang 1961, publiziert unter Pseudonym und ist ein Experte für die Geschichte von Nachrichtendiensten, der unter anderem Firmen in Fragen der Sicherheit und des Geheimnisschutzes berät. In dieser Zeitschrift sind bereits zwei Sachbücher von ihm über die Spionageabwehr der DDR rezensiert worden.

Der Insider Hansjörg Geiger sagte vor einigen Jahren sehr sachkundig, dass die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des MfS „eindeutig einer der Top-Auslandsgeheimdienste der Welt“ war. Und Geiger musste es wissen, denn er war schließlich Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundesnachrichtendienstes – der nachrichtendienstlichen Gegenspieler der HV A.

Die massive subversive Tätigkeit vor allen Dingen amerikanischer, britischer und deutscher Nachrichtendienste gegen die DDR erklärt, warum sie unweigerlich in das Visier des MfS gerieten – immer in den Ländern, in denen die weitreichenden Spionageaktivitäten und die feindlich-aggressive Tätigkeit gegen die DDR ihren Ursprung hatten.

Wie der Titel schon ausweist, die Gewinnung und Führung der IM in der DDR und im Westen in ihren jeweiligen Funktionen ist der Gegenstand des jetzt vorliegenden Buches. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf den sogenannten Übersiedlungs-IM, also IM aus der DDR, die ihre Wohnsitze in das Operationsgebiet verlegten, um dort nachrichtendienstlich tätig zu werden. Der Autor beschreibt detailliert, wie diese IM gewonnen, ausgebildet, übergesiedelt und im Operationsgebiet legalisiert wurden. Aufgezeigt wird dabei auch, dass diese Prozesse nicht immer glatt verliefen.

Das Verbindungswesen (der Lebensnerv) von der Ostberliner Zentrale zu den IM und umgekehrt wird detailliert geschildert. Es werden entsprechende Mittel und Methoden wie Tote Briefkästen, Container, Funk und Geheimschreibmittel erläutert, wobei der Akzent auf der Arbeit mit Operativen Grenzschleusen (OGS) liegt. OGS waren bestimmte Punkte an der Grenze zur BRD und nach Westberlin, an denen die IM ohne Kenntnis der DDR-Grenztruppen sowie bundesdeutscher Grenzüberwachungsorgane mit Hilfe von Sonderoffizieren des MfS die Sperranlagen überwinden konnten. Meist waren dazu die Sperranlagen entsprechend präpariert, oder sie wurden mit speziellen Hilfsmitteln überwunden. Es wurde zwischen Personen- und Materialschleusen unterschieden. OGS nutzten IM, denen aus verschiedenen Gründen die Passage an einer Grenzübergangsstelle nicht möglich war oder die dabei bestimmte Gegenstände transportieren mussten.

Der Abwehrarbeit des westdeutschen Verfassungsschutzes ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem geschildert wird, wie auf die Maßnahmen der HV A reagierte wurde und welche Abwehroperationen man versuchte.

Der langjährige Leiter der HV A (von 1953 bis 1986), Generaloberst Markus Wolf, äußerte sich 2006 so zu diesem Thema: „Militärapparate zerstören, aber Aufklärer machen transparent – um Zerstörungen vorzubeugen. Wir haben ja nicht gegen Feindbilder operiert, wir hatten wirkliche Feinde, und wir lebten in einem sehr realen, heftigen Kampf ums Kräfteverhältnis in einer Welt, die auch jetzt noch nicht in der Lage ist, friedlich zusammenzukommen.“

Das Buch enthüllt keine neuen Top-Quellen und keine „Super-Geheimnisse der HV A“, ist aber insgesamt die hochbrisante Analyse einer essentiellen Seite des Auslandesgeheimdienstes – mit namentlicher Nennung des gesamten Führungspersonals. Ein Muss für alle Interessenten, zumal mit einem hervorragenden Preis.

Gerhard Jaap

Henry Nitschke: An der unsichtbaren Front. Inoffizielle Mitarbeiter der MfS-Auslandsaufklärung. edition berolina, Berlin 2021, 765 Seiten, 29,99 Euro.

Max Liebermanns Briefe – Band 9 Nachträge

Die nachgetragenen 684 Briefe der inzwischen neunbändigen Ausgabe reichen von 1880 bis 1934. Recht informativ ist der Briefwechsel Liebermanns mit Léon und Marie Maître zwischen 1881 und 1888, der wunderbares Zeugnis für einen Maler ablegt, dem der Verbleib seiner Schöpfungen äußerst wichtig ist. Es geht da vor allem um den „Garten der Invaliden“ und um die „Strümpfe stopfende Alte“. Zusätzlich aufgenommen werden konnten Briefe von Julius Elias und Richard Graul, die Liebermann ihr Leben lang die Treue hielten und deren Korrespondenz schon in den vorangehenden Bänden zu lesen war.

Die Anhänge im Band 9/I erweitern beträchtlich das Bild Liebermanns, das er von sich selbst hatte. Ein außerordentliches Zeugnis dafür sind Auszüge aus Tagebucheintragungen von Ida Dehmel aus dem Jahr 1903, worin er seinem „Töchterchen“ den höchsten Kunstverstand zubilligt. Ida Dehmel nahm sich am 29. September 1942 das Leben mit einer Überdosis Schlaftabletten. So endete das Leben der Jüdin, ähnlich dem Schicksal Martha Liebermanns.

Zu den Bänden 1-8 sind dem Band 9/I zahlreiche Korrekturen beigegeben, die alle Benutzer der Briefe Liebermanns gerne entgegennehmen werden. Zu den Personendaten wären zusätzliche Anmerkungen nützlich: Paul Cassirer war der Ehemann von Tilla Durieux. Otto Grautoff war ein Klassenkamerad von Thomas Mann, Adolf von Harnack war Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, David und Lola Leder sind die Eltern von Stephan Hermlin. Nolde nannte sich erst ab 1918 so, bis dahin trug er den Namen Hansen. Walter Stengel war Direktor des Märkischen Museums, wie vor ihm Otto Pniower. Emil Rudolf Weiß war der Ehemann von Renée Sintenis.

Wolfgang Leicher aus dem ostfriesischen Großefehn hat seit Band 2 der Liebermann-Briefe die Arbeit von Volker Braun (nicht zu verwechseln mit dem Dichter!), speziell auch für die Anmerkungen, wesentlich unterstützt. Das Verzeichnis der Ausstellungen der Werke Max Liebermanns von 1870 bis 1945 hatte Leicher ohne Wissen Brauns angelegt. Als dieser davon erfuhr, setzte er sich dafür ein, dass diese nicht hoch genug zu schätzende akribische Arbeit nicht verloren geht. In der Hermann Reemtsma-Stiftung in Hamburg, die ja von Anfang an die Herausgabe der Liebermann-Briefe fördert, fand er Entgegenkommen für die Publikation. Es ist ein Band von über 650 Seiten geworden. Wolfgang Leicher hat sich der Mühe unterzogen, nicht allein den Ort und die Dauer der Ausstellungen zu notieren, zugleich erfasste er die vielen Notizen und Besprechungen in der Fachpresse und in der Tagespresse. Ergänzend dazu sind auch Ausstellungsräume, Eintrittskarten und andere Dokumente abgebildet. Gesucht wird ein Enthusiast, der sich der Mühe unterzieht, die Ausstellungen der Jahre seit 1946 zu erfassen. Das ist ein größerer Zeitraum als die bisher protokollierten 75 Jahre.

Archive in Deutschland und Frankreich waren nicht immer hilfreich.

Hartmut Pätzke

Max Liebermann: Briefe. Nachträge Band 9/I, zusammengetragen, kommentiert und herausgegeben von Ernst Braun. Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2021, 741 Seiten; Max Liebermann: Briefe. Nachträge. Band 9/II. Die Ausstellungen der Werke Max Liebermanns zwischen 1870 und 1945 von Wolfgang Leicher, Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), Baden-Baden 2021, 684 Seiten, Gesamtpreis für Band 9/I und Band 9/II 139,00 Euro.

Preiswerte Weltmusik

Die World Music Charts Europe (WMCE) sind leider nicht annähernd so bekannt wie der jährliche European Song Contest. Dabei hätte diese Institution, die im Jahr 2021 immerhin ihr dreißigjähriges Bestehen feiern konnte, durchaus mehr Popularität verdient. Als Quelle für die monatlich erstellten WMCE-Liste dienen die Chartlisten von Radiojournalisten aus 25 europäischen Ländern. Zu diesem Jubiläum ist nun ein Doppelalbum erschienen, auf dem sich die besten Songs aus den beiden vergangenen Jahren finden. Und das Etikett „World Music“ ist wahrlich berechtigt, denn es finden sich musikalische Beiträge aus Afrika, Lateinamerika, der Karibik, aus Skandinavien, aus Ost- und Südosteuropa

Der RBB-Moderator Johannes Theurer, musikalischen Insidern bekannt durch die Weltmusiksendung „Dschungelfieber“, war der Spiritus Rektor von WMCE bis Ende 2020. Mittlerweile ist Milan Tesar von Radio Proglas der führende Kopf. Und weil die Hör- und Abspielgewohnheiten sich in den letzten Jahren rapide geändert haben, gibt es die WMCE-Charts auch auf Facebook und als Playlist bei Spotify.

Und so freut sich Johannes Theurer im Booklet: „Die Geschichte geht weiter. Und wird es tun, solange es Radiosendungen gibt, die sich der Weltmusik widmen, und solange es Menschen im Hintergrund gibt, die zuverlässig ihre Arbeit machen.“ Wer seinen Ohren eine Auszeit von den sattsam bekannten Pop- und Rocktönen aus Westeuropa oder den USA gönnen will, kann sich mit diesem im wahrsten Sinne des Wortes preiswerten Sampler neue musikalische Impulse zu Gemüte führen.

Die Bandbreite ist wirklich enorm: vom finnischen Choral-Gesang von Emmi Kujanpää über die westafrikanische Tuareg-Gruppe Tamikrest bis zum Malinké-Pop mit Afrobeat- und Blues-Noten von Nakany Kanté aus Guinea.

Thomas Rüger

Various Artists: „Great Tunes from the World Music Charts Europe“, DoCD, CPL-Music 2021, ca. 12,00 Euro.