Ein kluger Mensch hat einmal geschrieben, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit ein freudiger Akt ist, wenn es nicht die eigene sei. Das erleben wir ungebremst, wenn es um die DDR geht. Da wird weiterhin fleißig seziert und denunziert, und die Akten, alte Kriminalfälle und „Zeugen“, die zum Teil gar nicht wissen, wie es wirklich in der DDR war, werden benutzt, um fast 30 Jahre nach dem Tod des Landes immer wieder nachzuweisen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.
Wenn es dagegen um die Geschichte der „ehemaligen“ Bundesrepublik geht (ein Begriff, der hier ja im Gegensatz zur furchtbaren Bezeichnung „ehemalige DDR“ Sinn macht), ist man bei weitem nicht so forsch in der Vergangenheitsaufarbeitung. Die finsteren Kapitel (Berufsverbote und so weiter) werden totgeschwiegen, in den Fällen der Nazi-Terrororganisation NSU (die offenbar mit behördlicher Beihilfe gemordet hat, weshalb die amtlichen Zeugen in den NSU-Untersuchungsausschüssen lügen, schweigen, vertuschen und die Tatsachen verdrehen), des NSA-Spionageskandals und des elffachen Mordes auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin-Charlottenburg (Breitscheidplatz) ist man an der Aufdeckung der Wahrheit überhaupt nicht interessiert. Denn ein schlechtes Gewissen der Beamten, Helfer und Helfershelfer führt in diesem Land gesetzmäßig zu einem noch schlechteren Wissen, zu retrograden Amnesien und anderen Gedächtnisverlusten.
Verschwiegen werden auch die vom US-Geheimdienst CIA in Westdeutschland nach dem Krieg aufgebauten Stay-Behind-Netzwerke. Eine amerikanische Schattenarmee, die im Kriegsfall als Partisanentrupps gegen die Kommunisten kämpfen sollte. Eine solche geheime Truppe hatte Listen unliebsamer westdeutscher Politiker angelegt, die sie im Kriegsfall „kaltstellen“ wollte. Geplant war die Ermordung von Politikern in Ost und West. Diese Staatsgeheimnisse wurde wohl behütet, und die Regierung Kohl log das Parlament noch Ende 1990 dreist an mit der Behauptung, man habe keine Akten aus der Gründungsphase der Schattenarmee mehr gefunden. 1990, in den Wirren des Wiedervereinigungsprozesses, verdrängten Themen wie Stasiseilschaften und Treuhandskandale die BND-Schattenarmee von der politischen Agenda.
Die massive subversive Tätigkeit vor allen Dingen amerikanischer, britischer und deutscher Nachrichtendienste gegen die DDR erklärt, warum sie unweigerlich in das Visier des Ministeriums für Staatssicherheit gerieten. Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg sofort zum Austragungsraum weitreichender Spionageaktivitäten geworden. Von Beginn an waren die Sowjetische Besatzungszone und die seit 1949 existierende DDR von massiven Ausspähungsoperationen durch westliche Geheimdienste betroffen. Dabei taten sich insbesondere die amerikanischen Dienste sowie die Organisation Gehlen, seit 1956 Bundesnachrichtendienst, unrühmlich und mit krimineller und politischer Energie hervor.
Über die Spionage im Kalten Krieg und die Angriffe westlicher Geheimdienste, ein bewusst verschwiegenes deutsch-deutsches Kapitel, hat Henry Nitschke nun zwei opulente, aussagekräftige und überaus verdienstvolle Bücher geschrieben, die diese Thematik auf insgesamt 2169 Seiten detailliert beleuchten und anhand von zahlreichen Beispielen untermauern. Die beiden Bände sind die bisher aussagekräftigste Dokumentation einer Thematik, die in der bisherigen Aufarbeitung keine Rolle spielte. Der Experte für die Geschichte von Nachrichtendiensten hat umfangreiche Aktenbestände und historisch bedeutsame Quellen jahrelang akribisch ausgewertet und hochrangige Zeitzeugen zurate gezogen, um einen tiefen Einblick in die Abwehrmaßnamen und -operationen des MfS zu geben – informativ, spannend wie ein Politthriller. Und wirklich einzigartig.
Quantitativ spionierte ein ganzes Heer von Agenten gegen das militärische, wirtschaftliche und politische Potenzial der DDR. Bis zum 13. August 1961 verzeichnete die DDR-Spionageabwehr einen geheimdienstlichen Massentourismus von und nach Westberlin. Dieser wurde mit den Grenzsicherungsmaßnahmen erheblich eingedämmt. Insgesamt waren tausende Spione gegen die DDR tätig. Der ehemalige Leiter der DDR-Spionageabwehr, Günther Kratsch, beziffert die Zahl der enttarnten Spione mit 5000. Im Dezember 1989 waren in der DDR Vertreter von über 30 Geheimdiensten aktiv.
Dieser weitreichenden und aggressiven Spionage sahen die Abwehrorgane der DDR natürlich nicht tatenlos zu. Sie entwickelten nach und nach Strategien zur Bekämpfung der Spionage und agierten dabei überaus erfolgreich. Neben Abwehrmaßnahmen in der DDR, beispielsweise der systematischen Sicherung ausgewählter militärischer Objekte (insbesondere Panzer- und Raketenobjekte beziehungsweise Flugplätze), gelang es, wirksam an und in den Ausgangsbasen der Dienste in der BRD und in Westberlin zu agieren. Die Masse der gegen die DDR tätigen Agenturen waren Militärspione. Vielen von ihnen wurde das nachrichtendienstliche Verbindungssystem zum Verhängnis. Zur Übermittlung ihrer Aufklärungsergebnisse mussten sie meist per Post oder mittels Funk aktiv werden. Hier setzte das MfS mit effektiven Fahndungsmaßnahmen an.
Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR zu Beginn der 1970er Jahre führte zur Einrichtung zahlreicher diplomatischer Vertretungen in Ostberlin. Im Jahr 1974 unterhielten 97 Staaten (davon 14 NATO-Staaten) diplomatische Vertretungen in der DDR. Zwölf Jahre später, 1986, hatte die DDR zu 132 Staaten diplomatische Verbindungen aufgenommen. In der DDR waren 1986 diplomatische Vertreter aus 107 dieser Staaten akkreditiert. Zum 1. Juni 1986 befanden sich insgesamt 6953 Mitarbeiter diplomatischer Vertretungen und deren Familienangehörige in der DDR.
Selbstverständlich nutzten die Geheimdienste dieses Potenzial und agierten aus sogenannten legal abgedeckten Residenturen. Der Spionageabwehr oblag die Aufklärung, Bekämpfung und Verhinderung solcher gegen die DDR gerichteter Aktivitäten sowie die Beseitigung begünstigender Bedingungen für kriminelle Handlungen. Auch auf diesem sensiblen und schwierigen Terrain agierte das MfS mit großem Erfolg. Von 1974 bis 1988 wurden wegen Spionage und anderer gegen die DDR gerichteter Tätigkeit 33 bevorrechtete Personen (darunter acht Diplomaten, einschließlich eines Geheimdienstmitarbeiters) auf Empfehlung beziehungsweise Protest des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten gegenüber dem Außenministerium des jeweiligen Entsendestaates oder dem Botschafter abberufen.
Umfangreiche Aktivitäten entwickelten die Geheimdienste auch gegen die Volkswirtschaft und das Verkehrswesen der DDR. Die Angriffe des BND und der CIA konzentrierten sich auf die systematische Erkundung und Störung der Volkswirtschaft, aufgetretene Probleme in der Planerfüllung, der Versorgung mit Rohstoffen sowie auf bedeutende Investvorhaben und deren Realisierung. Im Verkehrswesen richtete sich die Spionage insbesondere auf den Militärverkehr der Deutschen Reichsbahn. Von Beginn bis Mitte der 1980er Jahre registrierte die Spionageabwehr umfangreiche Aktivitäten des BND gegen DDR-Kraftfahrer im grenzüberschreitenden Verkehr. Die Kraftfahrer wurden auf dem Territorium der Bundesrepublik angeworben und zur Militärspionage in der DDR eingesetzt. Da sie durch ihre Tätigkeit viele militärische Objekte passierten, konnten sie Beobachtungen realisieren und bei der nächsten Fahrt in die BRD die Beobachtungsergebnisse dem BND übergeben. Der Spionageabwehr des MfS gelang es, dieses Netz des BND komplett zu zerschlagen. Eine gewaltige Schlappe, die bei den heutigen linientreuen „Aufarbeitern“, die bekanntlich nur eine Richtung ihrer „Forschungen“ kennen, wohl keine Erwähnung finden wird.
Henry Nitschke: Die Spionageabwehr der DDR. Mittel und Methoden gegen Angriffe westlicher Geheimdienste, edition berolina, Berlin 2018, 1017 Seiten, 19,99 Euro.
Henry Nitschke: Die Spionageabwehr der DDR II. Von der Armee bis in die zentralen Staatsorgane, edition berolina, Berlin 2019, 1152 Seiten, 19,99 Euro.
Schlagwörter: Gerhard Jaap, Henry Nitschke, kalter Krieg, MfS, Spionageabwehr