22. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2019

Bemerkungen

AKK besser nicht!

Den Saarländern wird im Allgemeinen eine ausgeprägte Heimatliebe nachgesagt. Die wird jedoch offenbar von ihrer Bereitschaft, ihrem Bundesland den Rücken zu kehren, noch übertroffen: Unter allen westdeutschen Bundesländern war das Saarland nämlich das einzige, dessen Bevölkerungszahl zwischen 2011 und 2017 rückläufig war.
Wir erinnern uns – von 2011 bis 2018 hieß die Landesmutter Annegret Kramp-Karrenbauer. Und die hinterließ eine Bilanz, die Wissenschaftler jetzt zu der Prognose veranlasste, dass bis 2035 weitere 8,5 Prozent der nur noch 995.000 Einwohner das Saarland verlassen werden.
Die Ursachen liegen vor allem in der düsteren wirtschaftlichen Perspektive: Kohle wird nicht mehr abgebaut, die Stahlproduktion ist rückläufig, die Autoindustrie zieht attraktivere Standorte vor. Drei der 20 Saarland-Kreise sind die mit den miesesten Wirtschaftsaussichten deutschlandweit. Überdies bedroht die Digitalisierung jeden dritten Arbeitsplatz im Saarland, dem es zugleich aber an Hochqualifizierten mangelt. Der Bundesdurchschnitt bei Hochschulabschlüssen liegt bei über 17 Prozent der Bevölkerung. Das Saarland hinkt mit 11 Prozent hinterher. Dazu passt, dass 2018 lediglich ein Prozent aller deutschen Start-ups im Saarland zu finden war.
Im CDU-internen Wettbewerb um die Merkel-Nachfolge erst an der Parteispitze und künftig im Kanzleramt hatte sich Kramp-Karrenbauer bekanntlich als erfolgreiche Landesmutter präsentiert.
„Das eben“, ätzte Gabor Steingart, der frühere Handelsblatt-Herausgeber, „zeichnet erfolgreiche Politiker aus, dass sie wissen, wie man Selbstinszenierung und Wirklichkeit entkoppelt.“

Alfons Markuske

Bilanz(ver)fälschungen

Ob Bundesinnenminister Horst Seehofer das instruktive Büchlein „So lügt man mit Statistik“ studiert hat, ist nicht bekannt. Dennoch besteht keine Veranlassung, Zweifel daran zu hegen, dass er das einschlägige Handwerkszeug beherrscht.
Anfang April äußerte der Minister anlässlich der Vorstellung der neuesten Kriminalstatistik: „Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt.“ Und: „Wir reden von der niedrigsten Zahl der Straftaten seit Jahrzehnten.“ Das untermauerte Seehofer mit Statistik: 5,55 Millionen Straftaten wurden im Jahr 2018 registriert – in der Tat der niedrigste Stand seit 1992. Im Vergleich zum Vorjahr war das ein Rückgang um 3,4 Prozent. Die gemeldete Gewaltkriminalität sank 2018 um 1,9 Prozent, die Anzahl der registrierten Diebstahlsdelikte um 7,5 Prozent.
Soweit dürften die Angaben der Wahrheit entsprechen, aber eben nicht der ganzen: Denn des Bundesministers Statistik erfasst zum Beispiel keine Verkehrsdelikte (Raser zählen nicht mit!) und auch keine Steuerdelikte, wo immer sie begangen werden, ob im Kontext des ältesten Gewerbes der Welt oder auf Steueroasen.
Insgesamt stammen die Seehofer-Zahlen überdies nur aus dem sichtbaren Bereich der Kriminalität, dem eine Welt von Dunkelziffern nicht gemeldeter, vulgo nicht registrierter und vor allem nicht verfolgter Straftaten gegenübersteht. Experten meinen, dass die Dunkelziffern in den Bereichen Drogen-, Prostitution- und Cyberkriminalität rund 90 Prozent der Straftaten betreffen!

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Die deutschen Militärausgaben werden im kommenden Jahr nicht, wie die Bundesregierung offiziell erklärt hat, 45,1 Milliarden Euro betragen, sondern 49,7 Milliarden Euro. Also 4,6 Milliarden oder knapp zehn Prozent mehr. Dies geht aus der Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Gesine Lötzsch (Die Linke) hervor.
Die Differenz resultiert daraus, dass mehrere Etatposten, die nach NATO-Kriterien zum Wehretat zählen, aus dem offiziellen Verteidigungshaushalt herausgerechnet wurden: etwa die Ausgaben für den Wehrbeauftragten, für „Friedenserhaltung und Konfliktbewältigung“, also Auslandseinsätze der Bundeswehr, sowie für die „Ertüchtigung von Partnerstaaten“ insbesondere mittels Militärhilfe, um nur einige Posten zu nennen.
„Man glaubt es kaum: Die NATO ist ehrlicher als die Bundesregierung“, kommentierte Gesine Lötzsch gegenüber der jungen Welt: „Der Finanzminister spielt mit gezinkten Karten, wenn es um den Rüstungsetat geht.“

Hannes Herbst

Doppelter Standard

Horst-Heinrich Brauß, seines Zeichens Generalleutnant a.D. und ehemaliger Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung, hat jüngst in einer Podiumsveranstaltung der Deutschen Atlantischen Gesellschaft zum Thema „Die Zukunft der NATO in einer unvorhersehbaren Welt“ betont, er möchte nicht, „dass wir das russische Vorgehen gegen seine Nachbarn verharmlosen. Die Russen führen über Mittelsmänner und auch direkt einen grässlichen Krieg in der Ostukraine. Sie überziehen den Westen und auch unser Land und die NATO jeden Tag mit Cyberangriffen. Sie mischen sich in demokratische Wahlen ein. Sie haben in Großbritannien ein Nervengift angesetzt, um einen unliebsamen russischen Bürger, ehemaligen Spion zu töten. Und das politisch oder sicherheitspolitisch Schlimmste ist, sie haben alle Verträge gebrochen, die nach dem Kalten Krieg gemeinsam mit Russland aufgebaut oder geschlossen wurden, um die europäische friedliche Sicherheitsarchitektur zu etablieren, einseitig gebrochen. […] das muss klar sein.“
Wäre Brauß ein Mann von Prinzipien, hätte er bei dieser Gelegenheit zumindest anklingen lassen, dass der Westen leider um keinen Deut besser ist, vielmehr noch vor den Russen durch die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens und Bosnien-Herzegowinas und die Abspaltung Kosovos in den 1990er Jahren die Charta von Paris und die darin angelegte „europäische friedliche Sicherheitsarchitektur“ in Makulatur verwandelt und später mit dem ebenfalls völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Irak eine ganze Region in Brand gesteckt hat. Zu nennen wären auch die von keinem UN-Mandat gedeckte westliche Intervention in Libyen und die kollaterale Ermordung zahlloser Zivilisten durch US-Killerdrohnen in Pakistan, Jemen und anderen Ländern. Und was Cyberangriffe und die Einmischung in demokratische Wahlen anbetrifft …
Aber natürlich hätte Brauß es nie zum Führungskader der Bundeswehr und der NATO gebracht, wäre er auf dem Auge nicht blind wie ein Maulwurf.

am

Zurück an die Stehpulte

„Bei 1,0 Promille fällt man nicht vom Stuhl“, meinten, entspannt lächelnd, die herbeigeeilten Polizisten. Ich hatte sie mit einem – im ersten Moment – sicher etwas skurril anmutenden Anruf herbeigebeten: „Ich liege im Blut. Könnten Sie mir helfen?“
„Wo sind Sie denn?“
„Möglicherweise in Bad Godesberg. Falls das richtig ist, dann im Hotel XYZ im Zimmer soundso.“
Kurz darauf hatten die hilfswilligen Polizisten meine Alkoholprobe genommen und mich einem wartenden Sankra (für die Nachgeborenen: Sanitätskraftwagen) überantwortet.
Warum ich zusammengebrochen war, konnten mir die Ärzte der auf einer Höhe gelegenen Klinik zwar nicht erklären – aber sie hatten nachts um zwölf noch die Röntgenabteilung und die Computertomographie besetzt; Bad Godesberg ist halt Teil einer ehemaligen Bundeshauptstadt. In Kyritz an der Knatter oder in einem ähnlich heimeligen Ort mehr in Richtung österreichische Grenze wäre es mir deutlich weniger kommod ergangen.
Mein linkes Knie war zuerst aufgeschlagen und hatte am Kopf Schlimmeres als eine große Platzwunde verhindert. Trotzdem schwamm mein Badezimmer, wo ich nach anderthalb Stunden Bewusstlosigkeit versucht hatte, mich zu duschen, noch am nächsten Tag im Blut. Im Zimmer die Blutflecken auf Scheuerleiste, Gardine und Teppich sahen aus wie der Tatort in jedem dritten „Tatort“.
Mein etwas rauer Physiotherapeut – er ist in einer Einrichtung ausgebildet, der meine Zuneigung nicht gilt, in der Bundeswehr – erklärte mir Tage später das Geschehene. Während Auslandseinsätzen hatte dieser Physiotherapeut „Bürger in Uniform“ schnellstens wieder uniformfähig zu machen. Das unterscheidet ihn von vielen anderen Physiotherapeuten, deren Ziel vor allem eine bei einer Krankenkasse abrechenbare Patientenunterschrift zu sein scheint.
„Das, was Ihnen widerfahren ist, wird demnächst zu einer Epidemie werden, und zwar bei viel Jüngeren als Sie – dank der Smartphones, in die immer mehr Leute ganze Tage mit nach vorn abgeknicktem Kopf starren.“ Ich verstand kein Wort.
Der Mensch sei körperlich zum Jagen und Sammeln ausgelegt, daran hätten auch die paar Jahrtausende patriarchalischer Zivilisation nichts geändert. Vor einigen hundert Jahren sei die Menschheit jedoch schon einmal weiter gewesen: Da die absonderliche Minderheit der ständig Schreibenden und Lesenden ab einem gewissen Alter dazu neigt, vom Stuhl zu fallen, stellte man die Sonderlinge einfach an Stehpulte – noch bis tief hinein ins 19. Jahrhundert. In dieser Haltung verhärten die in mehreren Lagen angeordneten Halsmuskeln nicht so stark; der Druck auf die Halsschlagader ist entsprechend geringer. Ich hatte den ganzen Tag Handschriften entziffert und abends im Hotelzimmer, gebeugt über meine Manuskripte, den nächsten Archivtag vorbereitet. Der Rest war Blut…
Gestern nun habe ich eine Anzeige aufgegeben: Suche antikes Stehpult.
Das iPhone als Tauschobjekt anzubieten, konnte ich mich doch nicht entschließen…

Paul Lerner

Plink plonk mit blondiertem Haar

Fiat Wer? Schon ewig lange ist der Name der Synthiepop-Band Fiat Lux aus dem nordenglischen Wakefield nicht mehr in aller Munde. 37 Jahre nach ihrem Erscheinen in der Szene sind die nach einer Sekte („Es werde Licht“) benannten Musiker wieder aktiv und haben vor kurzem sogar ein Album mit neuen Songs vorgelegt. Die erste Single-Auskopplung daraus, „Everyday in Heaven“, ist eine recht melodiöse und verträumte Synthiepop-Ballade und ein guter, aber sehr gesitteter Appetitanreger. Zeitgleich präsentiert das britische Label Cherry Red auf zwei CDs das 80er-Jahre-Output der Truppe, die einst aus David Wright, Ian Nelson und David P. Crickmore bestand, inzwischen aber zum Duo geschrumpft ist, weil Ian Nelson an seinem 50. Geburtstag verstarb.
Nach so langer Zeit noch einmal zu überzeugen, das schafft nicht jeder, der heutzutage auf einem der unzähligen 80er-Jahre-Festivals auf englischen Äckern oder in bespaßten Ferienparks hüftsteif auf die Bühne torkelt. Grell pinkfarbener Neonspot an – und da ist er wieder, der lang vermisste 80er-Jahre-Hit „Blue Emotion“, zwar kommerziell, aber durchaus raffiniert und spannend arrangiert, manchmal verträumt, dann mit Power und hymnenhaftem Refrain, an den man sich nach all den Jahren noch gerne erinnert. Ob man Fiat Lux als „Pioniere des Synthiepop“ bezeichnen kann, wie es das Label tut, sei dahingestellt, weil schon Bands wie Japan oder Ultravox lange vor Fiat Lux’ aktiver Zeit 1982 bis 1985 in dieser Richtung stilprägend waren. Zugestehen darf man der Band aber durchaus einen Status einer der interessanteren Combos ihres Genres, weil sie nicht nur auf eingängige Hits aus war, die sich schnell abnutzten, sondern auch experimentelle Ausflüge unternahm. Dabei ließ sie schon mal das Saxophon Amok laufen, etwa in „Sleepless nightmare“, was viele vermutlich als sperrig empfanden. Bisweilen gingen den Musikern auch die mit Free-Jazz-ähnlichem Futter gemästeten hypernervösen Pferde durch. Dann wurde es nichts mit dem großen Erfolg und die Band packte erst einmal desillusioniert die Instrumente wieder ein. Manche Lyrics klingen heute altbacken: „She left me for another“, plink plonk. Hoffentlich schämen sich die „Boys“ von Fiat Lux heute wenigstens für textliche Ausfälle aus der Teenie-Hölle. Da hat der Sänger sein Tagebuch herumliegen lassen und beschwert sich mit Grabesstimme, dass seine Freundin es gefunden hat und nun seine Geheimnisse kennt: „You’ve been reading my diary, you have taken my heart away, you know my secrets.“ Selber schuld, der Depp, hätte es ja einschließen können. Trotzdem ist „Secrets“ heute ein immer noch sehr schöner Track mit reichlich 80er-Jahre-Ingredienzien: kontemplatives plink plonk, dramatischer Chorgesang, fake Geige – und Abspann. Manchmal darf man schon noch in der Vergangenheit schwelgen, wenn vergessene und experimentierfreudige Helden des Synthiepops den Soundtrack dazu liefern. Und der Keyboarder ist immer noch blondiert.

Fiat Lux: Hired History Plus, 2 CD Expanded Edition, Cherry Red Records

Bettina Müller

Aus anderen Quellen

Das vom renommierten MIT (Massachusetts Institute of Technology) herausgegebene Quarterly International Security befasst sich in seiner aktuellen Ausgabe mit der Nuklearstrategie Indiens. Die Autoren Christopher Clary und Vipin Narang schreiben unter anderem: „Nach allgemeiner Auffassung besteht Indiens Haltung zu Kernwaffen aus drei Säulen: Indien ist bestrebt, ‚eine glaubwürdige Minimalabschreckung [aufzubauen und aufrechtzuerhalten]‘. Indien unterhält seine Nuklearstreitkräfte in einem nicht einsatzbereiten Zustand, um Sicherheit und zivile Kontrolle zu maximieren, und Indien verfolgt eine einseitige Nicht-Ersteinsatz-Politik“; es hat erklärt, dass „Atomwaffen nur zur Vergeltung gegen einen Atomangriff auf indisches Territorium oder auf indische Streitkräfte […] eingesetzt werden“, und „‚schließt bewusst‘ jeden ‚präventiven Einsatz‘ von Atomwaffen aus“. Jüngste Zuführungen neuer Waffensysteme allerdings „und Verbesserungen der Einsatzbereitschaft des nuklearen Arsenals deuten darauf hin, dass die Kluft zwischen Indiens Fähigkeiten und seinen erklärten nuklearen Abschreckungszielen immer größer wird. Darüber hinaus haben in den letzten Jahren […] indische Beamte begonnen, für mehr Flexibilität in der bestehenden indischen Nukleardoktrin zu argumentieren – oder zu behaupten, dass ihre bestehende Doktrin bereits flexibler ist, als gemeinhin angenommen wird.“
Christopher Clary / Vipin Narang: India’s Counterforce Temptations: Strategic Dilemmas, Doctrine, and Capabilities,
International Security, Volume 43, Issue 3, Winter 2018/19. Zum Volltext hier klicken.

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Zum Kosovokrieg von 1999 befragte die junge Welt Jochen Scholz, Oberstleutnant a. D. und 1999 Referent im Stab des Generalinspekteurs der Bundeswehr im Bundesverteidigungsministerium.
jW: „Was war völkerrechtlich für Sie das Problematischste neben dem Einsatz von Uranmunition, der Zerstörung ziviler Strukturen und der Chemiebetriebe?“
Scholz: „Nicht zu vergessen die Bombardierung des Fernsehzentrums in Belgrad. Das waren Kriegsverbrechen. Wenn man bewusst chemische Anlagen bombardiert, dann weiß man, dass Schadstoffe freigesetzt werden, die die Zivilbevölkerung treffen. Vor allem aber: Bereits der Ausgangspunkt war ein klarer Völkerrechtsbruch. Das, was die NATO unter Beteiligung der Bundesregierung und des deutschen Militärs gemacht hat, hätte nach den Grundsätzen des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals von 1945 dazu führen müssen, dass die Verantwortlichen hinter Schloss und Riegel kommen.“
„Die gehören hinter Schloss und Riegel“. Ein Gespräch mit Jochen Scholz, jungewelt.de, 06.04.2019. Zum Volltext hier klicken.

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Die USA-Streitkräfte intensivieren ihre Vorbereitungen für Kriege hoher Intensität gegen China und Russland. Dazu sollen Mittel im Militärhaushalt umgewidmet werden. Marcus Weisgerber schreibt unter Berufung auf Heeresminister Mark Esper, dass „Geld für leichte Fahrzeuge und Frachthubschrauber“ reduziert werden soll, die für Konflikttypen der Vergangenheit angeschafft wurden. Stattdessen gehe es um „neue Waffen […], die speziell für einen ‚Konflikt hoher Intensität‘ mit China und Russland gebaut werden, um sicherzustellen, dass […] lebenswichtige Feuerkraft für diese potenziellen Schlachtfelder der Zukunft“ zur Verfügung stände.
Marcus Weisgerber: Army Secretary Reveals Weapons Wishlist for War with China & Russia, defenseone.com, 16.04.2019. Zum Volltext hier klicken.

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Günter Gaus’ über 250 zwischen 1963 und 2003 – überwiegend unter dem Titel „Zur Person“ – geführte Fernsehinterviews mit Prominenten aus Politik, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft sowie Religion sind zeitgeschichtliche Dokumente von bleibender Relevanz. In der Ausstrahlung vom 28.10.1964 war seine Gesprächspartnerin Hannah Arendt; zugleich die erste Frau, die in dieser Reihe vorgestellt wurde.
Gaus: […] ich würde […] gerne – ich bin sehr froh, daß wir auf diesen Punkt gekommen sind – von Ihnen genauer wissen, wo Sie den Unterschied zwischen der politischen Philosophie und Ihrer Arbeit als Professor für politische Theorie sehen. Wenn ich an einige Ihrer Werke denke, etwa an die ‚Vita activa‘, dann möchte ich Sie doch unter die Philosophen einreihen dürfen, solange Sie mir nicht den Unterschied genauer definieren.
Arendt: Sehen Sie, der Unterschied liegt eigentlich in der Sache selbst. Der Ausdruck ‚Politische Philosophie‘, den ich vermeide, dieser Ausdruck ist außerordentlich vorbelastet durch die Tradition. Wenn ich über diese Dinge spreche, akademisch oder nicht akademisch, so erwähne ich immer, daß zwischen Philosophie und Politik eine Spannung lebt. Nämlich zwischen dem Menschen, insofern er ein philosophierendes, und dem Menschen, insofern er ein handelndes Wesen ist, eine Spannung, die es in der Naturphilosophie nicht gibt. Der Philosoph steht der Natur gegenüber wie alle anderen Menschen auch. Wenn er darüber denkt, spricht er im Namen der ganzen Menschheit. Aber er steht nicht neutral der Politik gegenüber. Seit Plato nicht!
Gaus: Ich verstehe, was Sie meinen.
Arendt: Und so gibt es eine Art von Feindseligkeit gegen alle Politik bei den meisten Philosophen, ganz wenige ausgenommen. Kant ist ausgenommen. Eine Feindseligkeit, die für diesen ganzen Komplex außerordentlich wichtig ist, weil es keine Personalfrage ist. Es liegt im Wesen der Sache selber.
Gaus: Sie wollen an dieser Feindseligkeit gegenüber der Politik keinen Teil haben, weil Sie glauben, daß es Ihre Arbeit belasten würde?
Arendt: Ich will an der Feindseligkeit keinen Teil haben, das heißt, ich will Politik sehen mit, gewissermaßen, von der Philosophie ungetrübten Augen.“
„Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache.“ Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt, ZDF, 28.10.1964. Zum Volltext hier klicken.