26. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2023

Bemerkungen

Ukraine-Krieg

Wer hat eigentlich militärisch das Sagen in Kiew? Die offizielle westliche Erzählung lautet: Wir liefern nur Waffen, den Krieg führt die Ukraine souverän.

In merklichem Kontrast dazu steht ein Bericht des britischen Guardian vom 26. August dieses Jahres: „Vor elf Tagen reisten einige der ranghöchsten Soldaten des NATO-Bündnisses an einen geheimen Ort an der polnisch-ukrainischen Grenze, um sich mit dem obersten Militärbefehlshaber der Ukraine, General Valerii Zaluzhnyi, zu einem Gespräch zu treffen, das privat als ‚Kriegsrat‘ bezeichnet wurde. Es war keine gewöhnliche Diskussion: Zaluzhnyi brachte sein gesamtes Kommandoteam mit […]. Ziel des fünfstündigen Treffens war die Neuausrichtung der ukrainischen Militärstrategie. Ganz oben auf der Tagesordnung stand die Frage, wie mit den stockenden Fortschritten der ukrainischen Gegenoffensive umgegangen werden soll, sowie die Schlachtpläne für den bevorstehenden zermürbenden Winter und die längerfristige Strategie […]. Besonders bemerkenswert war, dass nicht nur der Militärchef der Nato, der amerikanische General Christopher Cavoli, anwesend war, sondern auch Admiral Sir Tony Radakin, der ranghöchste britische Militäroffizier, der in Washington und Kiew als immer wichtigerer Akteur bei der Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen die russischen Invasoren angesehen wird. Es war auch nicht das erste derartige Gespräch.“

Selbst mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij war Radakin zuvor bereits zusammengetroffen.

Und das Ganze geht schon länger: „Normalerweise bringt Radakin eine Flasche Glenmorangie, den Lieblingswhisky von Zaluzhnyi, als Geschenk mit.“

Sarcasticus

 

Deutschland, hier: Bevölkerung

Einem Bericht der Welt vom 1. September zufolge wird vom Bundesamt für Statistik zwar exakt prognostiziert, wie viele Einwohner Deutschland 2070 haben wird (82,6 Millionen). Doch auf Welt-Nachfrage, wie viele davon Zuwanderungsgeschichte besitzen werden, passt das Amt. „Leider“ würden „keine Prognosen zur Entwicklung des Migrantenanteils an der Gesamtbevölkerung erstellt“. Als Migranten bezeichnen Behörden Einwohner Deutschlands, die entweder selbst immigriert sind oder zumindest einen eingewanderten Elternteil haben.

Daten für die jüngste Vergangenheit allerdings gibt es. Aufschlussreich ist der Migrantenanteil bei den Drei- bis Fünfjährigen: Der lag 2022 bundesweit mit 42 Prozent (1,03 Millionen von insgesamt 2,45 Millionen Kindern) deutlich höher als der in der Gesamtbevölkerung mit knapp 29 Prozent. Das weitere Wachstum des Migrantenanteils an der bundesdeutschen Bevölkerung sei, so der Beitrag, also zumindest grob abzusehen.

Und warum – seitens des Bundesamtes für Statistik – nicht exakter? Dazu Die Welt: „Dass darauf gänzlich verzichtet wird, dürfte weniger dem Unvermögen als der Sorge geschuldet sein: Das Thema erregt, es wirkt überaus heikel. In der Tat: Der vorerst Letzte in Deutschland, der solche Szenarien ausgiebig entwarf, hieß Thilo Sarrazin. […] Aber die Reaktion der Statistiker auf das heikle Potenzial eines Themas kann nicht lauten ‚Dann fassen wir es lieber gar nicht an‘. Angemessen wäre ein Motto wie ‚Dann werden wir eben noch solider und noch seriöser arbeiten!‘“

Kann man dem Springer-Blatt da – und sei es nur ausnahmsweise – mal zustimmen?

Hannes Herbst

 

Über „Cancel Culture“

Als Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder hatte Julian Nida-Rümelin sicher vielfältige Erfahrungen mit „Cancel Culture“, als Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München kennt er sich außerdem hervorragend mit der Geschichte dieses Phänomens seit der Antike aus. Insofern nimmt er uns in seinem jüngsten Buch zunächst mit in eine philosophiegeschichtliche Zeitreise zum Thema. Die Schriftstellerin Nathalie Weidenfeld weitet diese historischen Beispiele im letzten Teil des Bandes auf andere Wissenschaftsgebiete und die internationale Politik aus.

Die Praxis, unliebsame Meinungen zum Schweigen zu bringen, sei uralt und nutze immer wieder drei Methoden: 1. Meinungen verbieten; 2. Personen vom Diskurs ausschließen und schließlich 3. sozialer und/oder psychischer Tod. Insofern stelle sie stets auch einen Angriff auf die Demokratie dar, sei aber momentan nicht die Hauptgefahr in unserer modernen Gesellschaft. Diese gehe vielmehr von rechtspopulistischen Kräften aus.

Das Gegenmodell zu den Praktiken der Cancel Culture sei die „aufklärerisch gestimmte Kritik“. Deren Stärke sei zugleich ihre Schwäche: „Im Vertrauen auf die menschliche Vernunftfähigkeit nimmt sie ihre Kritiker als Gesprächspartner ernst und bekämpft sie nicht als ihre Feinde“. Sie beruhe auf Universalität und Inklusivität. Wahre Wissenschaft sei vielfältig, respektiere den Streit der Hypothesen und Theorien, befände sich in beständiger Abwägung von Argumenten und auf einer nie enden wollenden Suche nach richtigen Überzeugungen. Cancel Culture dagegen lege die Axt an den Kern der Wissenschaft – an die Rationalität des argumentativen Austausches, an „das Geben und Nehmen von Gründen und die Bereitschaft, sich von den besseren affizieren zu lassen“. Ohne ein solches Vorgehen gäbe es keine Demokratie, keine politische Gerechtigkeit.

Folgerichtig erörtert Nida-Rümelin die altbekannte Frage „cui bono?“ – wem nützt es? –  und fordert, auch für sprachliche Äußerungen zu verlangen, dass sie folgenoptimierend sind. Dem schließt sich die Forderung an, dass wir „großen Privatunternehmen, die die Infrastruktur digitaler Kommunikation prägen, nicht die Entscheidungen darüber [überlassen dürfen], welche Meinungsäußerungen sie wünschenswert finden und welche sie unterdrücken“. Eine Demokratie, die lediglich gelenkte und formatierte Informationen zulasse, verletze das Recht auf Selbstbestimmung und demokratische Praxis.

Die Überlegungen Nida-Rümelins werden Streit auslösen – und das ist gut so!

Julian Nida-Rümelin: „Cancel Culture“ – Ende der Aufklärung? Plädoyer für eigenständiges Denken. Piper Verlag, München 2023, 185 Seiten, 24,00 Euro.

Viola Schubert-Lehnhardt

 

„Lügen wie gedruckt“

Christoph Marx erzählt die deutsche Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart an Hand von 100 Zitaten. Der Autor studierte Geschichte und Literatur in Freiburg und Berlin. Für den Duden Verlag wählte er 100 Zitate aus und ordnete sie chronologisch in acht Kapitel. Die Zitate im Sinne von geflügelten Worten sind ausschließlich berühmt, zu einem großen Teil sogar sprichwörtlich geworden. Man kennt sie (fast) alle.

Nur wann konkret und in welchem Zusammenhang sind sie ursprünglich gefallen? Und von wem stammen sie? Die Spanne reicht von Tacitus in der Antike bis hin zu Jens Spahns „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ während der Corona-Pandemie.

Nicht alle Zitate lassen sich laut Marx mit Sicherheit einem Autor zuordnen. Manche sind erst später entstanden und dennoch von gewaltiger Schlagkraft: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ Martin Luthers legendäre Worte, mit denen er seine Verteidigungsrede auf dem Reichstag in Worms 1521 beendete, sind dort vermutlich nie gefallen, sondern später ergänzt worden, vielleicht sogar von Luther selbst. Erst nach seinem Tod 1546 taucht die bekannte Formulierung in einer Druckschrift auf.

Aus dieser Zeit stammt auch die als Überschrift dieses Beitrags genutzte Redewendung. Lange waren die Menschen vornehmlich auf mündliche Überlieferungen angewiesen. Mit der Erfindung beweglicher Lettern durch Johannes Gensfleisch (Gutenberg) konnte sich der moderne Buchdruck entwickeln. Diese technische Revolution erlaubte auch, dass auf Flugblättern einerseits der Papst, andererseits Luther als Antichrist bezeichnet werden konnte. Ein Schreiber konnte also „lügen wie gedruckt“. Im noch heute vornehmlich von rechten Gruppen genutzten Begriff „Lügenpresse“ findet sich die Bedeutung wieder.

Manche Zitatgeber werden vom Marx sogar mehrfach aufgegriffen – wie Otto von Bismarck und Helmut Kohl. Oft haben die Zitate noch immer einen festen Platz in der Alltagssprache („Volk der Dichter und Denker“) oder erwerben einen solchen gerade („Wir schaffen das.“). Das Spektrum geht über alle politischen Richtungen: „Vaterlandslose Gesellen“, „Der Feind steht rechts!“. Mitunter sind die Zitate derb kräftig („Er kann mich im Arsche lecken.“) oder auch gehoben bildungssprachlich („Auferstanden aus Ruinen“), aber immer leicht verständlich.

Sicher wird der Leser das eine oder andere Zitat vermissen. Ich hätte mir zum Beispiel Willy Brandts „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ gewünscht und stattdessen etwa auf „Wie könnt ihr es wagen!“ von Greta Thunberg verzichtet, zumal das Zitat aus ihrer New Yorker UNO-Rede aus dem Englischen stammt („How dare you!“) und wenig mit der speziellen deutschen Geschichte zu tun hat. Aber darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.

Das schön gestaltete Buch kam im Februar 2023 in den Buchhandel. Ein Gewinn sind die wunderbaren Illustrationen von Dieter Wiesmüller. Ein Buch, das jedem Geschichtsinteressierten zu empfehlen ist.

Christoph Marx: Deutsche Geschichte in 100 Zitaten. Von Tacitus bis Merkel, Duden, Berlin 2022, 248 Seiten, 29,00 Euro.

Jürgen Hauschke

 

Tragische Erben

Wer kennt nicht Alexander den Großen, Julius Caesar oder Napoleon? Doch wer kennt ihre Nachkommen? Kaum jemand. Hätten die Erben großer Weltreiche nicht auch in die Geschichte eingehen müssen?

Der Deutsch- und Geschichtslehrer Jochen Oppermann, der bereits einige historische Sachbücher veröffentlicht hat, geht in seinem neuen Buch dem Schicksal tragischer Thronfolger von der Antike bis zur Neuzeit nach. Anhand bisher weitgehend unbeachteter Quellen versucht er, die zumeist jungen Protagonisten aus der Vergessenheit zu holen und ihr meist kurzes Leben zu beleuchten, das mit den Attributen „schicksalsträchtig“, „glücklich“ oder „unglücklich“ nur oberflächlich beschrieben wird.

So hatte Alexander der Große nur einen Sohn, Alexander IV. Aigos (323-309 v.u.Z.). Der Vater starb noch vor seiner Geburt. Danach stürzten Makedonien und die eroberten Gebiete in jahrelange Bürgerkriege, in denen der Knabe und Alleinerbe zum Spielball der Generäle wurde und nur nominell regierte. Nachdem er noch im Kindesalter ermordet wurde, zerfiel das alte makedonische Königshaus.

Auch Ptolemaios XV. Kaisar (47-30 v.Chr.), der Sohn Caesars und Cleopatras, hatte nie eine Chance, in die Geschichtsbücher einzugehen. Octavian ließ ihn umbringen, denn solange ein leiblicher Sohn Caesars lebte, konnte er sich als Adoptivsohn des Alleinherrschers nicht sicher fühlen. Einer mörderischen Verwandtschaft fiel auch Sigibert II. (602-613), ältester Sohn des Frankenkönigs Theuderich II., zum Opfer, während mit der Hinrichtung des jungen Konradin (1252-1268) mitten auf der Piazza del Mercato in Neapel das Geschlecht der Staufer endete –nur 18 Jahre nach dem Tod von Kaiser Friedrich II., dem vielleicht größten Herrscher des Mittelalters.

„Geben sie Gedankenfreiheit, Sire“ – dieses Zitat aus Friedrich Schillers Drama „Don Karlos“ hat den spanischen Thronfolger (1545-1568) zum Helden stilisiert. Tatsächlich war der Prinz zeit seines Lebens sehr kränklich und körperlich behindert. Als er später mit den Aufständischen in Flandern sympathisierte, ließ Philipp II. seinen wohl regierungsunfähigen Sohn festnehmen. Über dessen letzte Lebensmonate in den Mauern des Madrider Schlosses ist kaum etwas bekannt.

Louis Charles de Bourbon (1785-1795), Sohn des französischen Königs Ludwig XVI., sollte niemals die Königskrone tragen und Napoleon Franz Bonaparte (1811-1832), legitimer Nachkomme des französischen Eroberers und der Habsburgerin Marie-Louise, erlag mit 21 Jahren den Folgen einer Lungentuberkulose.

Am Schluss widmet sich der Autor Karl I. von Österreich-Ungarn (1887-1922), der von 1916 bis zu seinem Verzicht auf „jeden Anteil an den Staatsgeschäften“ 1918 letzter Kaiser von Österreich war.

Dreizehn „Thronfolger-Schicksale“ beleuchtet Oppermann, dazu in zwei Exkursen „Doppelgänger und falsche Prinzen“ sowie „Wa(h)re Thronfolgerinnen“. Bis ins 20. Jahrhundert spielten Frauen in Fragen der Herrschaft eine untergeordnete Rolle, oft waren sie nicht mehr als politische Handelsware.

Oppermann legt die Gründe für das Scheitern der „tragischen Thronfolger“ dar: Sie lagen vor allem an den Zeitumständen, an der historischen Entwicklung, aber auch an Erwartungen, denen sie nicht gerecht werden konnten, und schließlich auch an ihren Motiven selbst.

Jochen Oppermann: Unglückliche Thronfolger. Nünnerich-Asmus Verlag & Media, Oppenheim am Rhein 2023, 176 Seiten, 22,00 Euro.

Manfred Orlick

 

Mit linker Hand gezeichnet

Leider gibt es im Metier Karikatur immer noch weniger Frauen als Männer. So freut man sich wie Bolle, wenn einem aus Satirezeitungen oder vom Karikaturpostkartenständer dann doch Werke von Zeichnerinnen entgegen purzeln. So kann man seit vielen Jahren im Eulenspiegel politische Karikaturen und Cartoons von Barbara Henniger bewundern. Die am 9. November 1938 in Dresden geborene Künstlerin ist schon sechs Jahrzehnte lang zeichnend unterwegs und bekommt nun im Sommerpalais Greiz eine eigene Ausstellung, die mit 100 ausgewählten Bildern ausgestattet ist. Während im Gartensaal weiterhin Henry Büttners Zeichnungen zu sehen sind, erlebt man im Obergeschoss die großartige Dame der ostdeutschen Cartoon-Kunst.

Barbara Henniger nahm 1957 ein Architekturstudium auf und bot gleichzeitig dem Sächsischen Tageblatt politische Karikaturen an. Die Redaktion gab ihr sogar eine regelmäßige Rubrik. So schrieb die frischgebackene Redakteurin mit der rechten Hand vor allem Beiträge für den Kulturteil und zeichnete mit der linken Hand – ihrer Zeichenhand – einfallsreiche Karikaturen. Auch die einzige Satirezeitung der DDR wurde bald auf Henniger aufmerksam und orderte einige Zeichnungen. Mit der Zeit wurde sie feste Mitarbeiterin und schuf sogar zahlreiche Titelblätter. Der Name der Künstlerin, die mittlerweile mit der Familie nach Berlin umgezogen war, wurde zum Qualitätsbegriff für originelle, populäre und treffende Aussagen zum gesellschaftlichen Geschehen in der DDR und anderswo.

Verlage erbaten Buchillustrationen von ihr, auch an Zeichentrickfilmen arbeitete sie mit. Es folgten Buchveröffentlichungen mit gesammelten Werken („Barbaras praktische Linke“, „Im Paradies und anderswo“) und erste eigene Ausstellungen. Inzwischen gibt es Hennigers Bilder auch auf T-Shirts, als Poster und Postkarten.

Da Barbara Henniger nun doch etwas kürzer tritt, wurde es für das Greizer Satiricum Zeit, einen Rückblick auf die rund 60 Jahre ihres Schaffens zu bieten. Die Ausstellung, die bis zum 10. März 2024 zu besuchen ist, wird am 16. September im Festsaal des Sommerpalais eröffnet.

Barbara Henniger. Werke aus sechs Jahrzehnten. Satiricum des Sommerpalais Greiz, 16. September 2023 bis 10. März 2024.

Thomas Behlert

 

Erst kommt das Können, dann das Lachen

Seinen Kritikern gilt er als verkappter Deutschlehrer der Nation. Immerhin hat Heinz Rudolf Kunze in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das erste und zweite Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien absolviert. Und im Laufe seiner musikalischen Karriere, die 1981 mit dem Album „Reine Nervensache“ begann, hat er sich immer wieder in Debatten eingemischt, sei es zur „gendergerechten“ Sprache oder mit einem Plädoyer für eine „Deutsch-Quote“ in Radiosendungen. Ein progressiver Liedermacher mit teils konservativen Positionen …

In beinahe jedem Jahr hat er ein neues Album veröffentlicht. Deren Titel (etwa „Der schwere Mut“, „Stein vom Herzen“ oder „Wasser bis zum Hals steht mir“) lassen seinen Sinn für Sprachspielereien erkennen. Da reiht sich sein neues Werk „Können vor Lachen“ nahtlos ein.

Wer genauer hinhört, wird allerdings merken, dass es hier nicht nur um artistische Sprachübungen geht. Es sind in dem knapp einstündigen Album persönliche Lebensrückblicke wie auch Liebesbekenntnisse an seine aktuelle Partnerin zu finden. Kunzes Statement zur Jetztzeit dürfte von vielen geteilt werden: „Mehr als sonst brauchen wir in dieser Zeit einen Rückzugsort, einen Menschen, der einen umarmt und an den man sich anlehnen kann.“

Auch der Ukraine-Krieg findet seinen Niederschlag. Im Lied „Igor“ wird ein junger, russischer Soldat porträtiert, keine plumpe Polemik, sondern ein Plädoyer für die Menschlichkeit.

Seinem großen Vorbild Bob Dylan und dessen Song „Desolation Row“ spürt Kunze in der „Trostlosigkeitsallee“ nach, einem wilden Ritt durch die europäische Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte – von Thomas Mann bis Karl Marx, von Cervantes bis Camus. Und auch „Liebes Lied“ darf als eine Hommage an den musikalischen Genius und Literaturnobelpreisträger Dylan verstanden werden:

„Ich lieb dich wie die Sonne, wenn sie durch den Nebel bricht
Und unter keinem Umstand liebe ich dich nicht
Ich hab mit dir so unverschämtes Riesenglück gehabt
Ich liebe dich, so gut ich kann, ich hoff, ich bin begabt…“

 

Ja, begabt ist er, zumindest sehr sprachbegabt. Und dabei muss es nicht immer nur bierernst zugehen. Deshalb sei abschließend der Refrain aus dem Titelsong zitiert:

„Wenn wir die Regeln nicht wollten,
dann mussten wir uns eigene machen.
Für uns hat immer gegolten:
Erst kommt das Können und dann kommt das Lachen.
Können vor Lachen.“

Heinz Rudolf Kunze: Können vor Lachen. CD 2023, Label: Meadow-Lake-Music, 17 Euro.

Thomas Rüger

 

Simon & Jan

Sie haben in Kneipen begonnen. Sie sind von Barhockern gefallen und auf den großen Bühnen der Republik gelandet. Sie wurden mit nahezu allen Kabarettpreisen ausgezeichnet, die der deutschsprachige Raum zu bieten hat.

Am Anfang waren da zwei Gitarren und zwei Stimmen. Dann kam die Loopstation. Der Beat. Das Orchester. Halleluja! 16 Jahre wie im Rausch: Rund 1600 Auftritte; 8.000.000 zurückgelegte Kilometer; vier abendfüllende Programme. Zahlreiche Auftritte für Funk und Fernsehen. Sie haben sich die Bühne mit Stoppok, Wader, Wecker und Mey geteilt, ihr eigenes Label gegründet und ein kleines Festival ins Leben gerufen, auf dem sich die Größen der Szene die Klinke in die Hand geben.

Zeit für einen Rückblick. Simon & Jan präsentieren in ihrem neuen Programm das Beste aus ihren Liedermacherjahren. By the way – ein Blättchen-Autor hört den beiden Barden schon seit 2014 immer wieder gern zu.

Nächste Termine: 16.9. – Kiel, 17.9. – Brunsbüttel, 18.9. – Hamburg; Fortgang der Tournee – siehe Internet.

Hans Peter Götz

Blätter aktuell

In der September-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik beschreibt Christian Jakob, dass wir in Sachen Klimaschutz mehr Fortschritte gemacht haben, als es den Anschein hat. Auch weil Fridays for Future einiges in Bewegung gebracht habe. Er plädiert dafür, sich nicht von apokalyptischen Visionen entmutigen zu lassen. Bettina Röder erinnert an eine Sternstunde der DDR-Friedensbewegung: Am 25. September 1983 wurde auf dem Lutherhof in Wittenberg unter Verantwortung des späteren „Blätter“-Mitherausgebers Friedrich Schorlemmer als Symbol gegen die Aufrüstung während des Kalten Krieges ein Schwert zu einer Pflugschar geschmiedet. Röder beschreibt die konflikthafte Vorgeschichte und die historischen Nachwirkungen dieses Ereignisses. Albrecht von Lucke fragt mit Blick auf den Niedergang der Ampel-Regierung und den Aufstieg der AfD, ob angesichts der parallel stattfindenden Selbstauflösung der Linkspartei auf Bundesebene in einer kommenden Wagenknecht-Partei „die letzte Chance“ bestehe. Nur sie könnte den Rechtspopulisten speziell im Osten der Republik das Wasser abgraben und AfD-affine Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen, glauben manche Kommentatoren. Tatsächlich sammele Wagenknecht ihre Truppen innerhalb der Linkspartei, um die Zerstörung des linken Konkurrenzprojekts von innen heraus zu betreiben. Der Autor zitiert den „stets gut informierten Pascal Beucker“, der berichtet, zur Vorbereitung der neuen Partei solle wohl zunächst ein eingetragener Verein gegründet werden, „um auf diese Weise die Mitgliedschaft auf stramme Gefolgsleute zu beschränken und nicht gleich alle Sektierer einzusammeln, während der eigentliche Parteigründungsakt auch aus finanziellen und parteirechtlichen Gründen erst 2024 erfolgen könnte“.

Ferdinand Muggenthaler analysiert die Gefahren von Künstlicher Intelligenz für die Demokratie. Die KI werde zwar nicht die Herrschaft übernehmen, sei aber strukturell autoritär und ein ungeheures Machtinstrument in der Hand von Staaten und Unternehmen. Olaf Bernau sieht eine Zeitenwende im Sahel. Ulrich Menzel beschreibt die Auswirkungen von Putins Krieg auf die neue Welt(un)ordnung. Faride Zéran beleuchtet die umkämpfte Erinnerung an den Putsch gegen Salvador Allende in Chile.

Weitere Themen: Das Drama unserer Städte, der Ausverkauf des Bodens, der Kampf ums Elterngeld, der Putsch von oben und das Recht zum Widerstand in Israel, Europas Flüchtlingspolitik . . .

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, September 2023, Einzelpreis: 11 Euro. Weitere Informationen im Internet.

ddp

 

Aus anderen Quellen

„Ich möchte betonen“, sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow, „dass unser Land voll und ganz dem Grundsatz der Unzulässigkeit eines Atomkrieges verpflichtet ist und dass es in so einem Krieg keine Sieger geben kann. Dementsprechend sollte er niemals entfesselt werden. Dieses Postulat wurde von den Staats- und Regierungschefs der fünf Atommächte in der gemeinsamen Erklärung vom 3. Januar 2022 bekräftigt. Unter den gegenwärtigen Umständen hat das Dokument zusätzliche Bedeutung erlangt, denn seine Logik impliziert, dass jede militärische Konfrontation zwischen Atommächten verhindert werden muss, da sie mit der Möglichkeit einer Eskalation auf die nukleare Ebene behaftet ist. In dieser Hinsicht besteht die wichtigste Aufgabe zum jetzigen Zeitpunkt darin, dass sich jeder der Atomwaffenstaaten weiterhin an diese Vereinbarungen hält und ein Höchstmaß an Zurückhaltung übt.“

Интервью Министра иностранных дел Российской Федерации С.В.Лаврова журналу Международная жизнь, mid.ru, 19.08.2023. Zum Volltext hier klicken. Zur deutschen Übersetzung hier klicken.

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Im historischen Rückblick erinnert Günter Verheugen daran: „Wenn Willy Brandts Position gewesen wäre, dass man mit Breschnew nicht reden kann, wäre der Kalte Krieg bis heute nicht beendet.“ Zur aktuellen Lage meint Verheugen: „Ich habe absolut nichts dagegen, dass wir der Ukraine helfen, ihre Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen. Die Fragen sind nur: Wie soll der Krieg beendet werden und was kommt danach? Bleibt es bei der Idee eines geeinten Europas? Welche Rolle soll Russland darin künftig spielen? Wenn das politische Ziel des Westens ein sogenannter Siegfrieden ist, bei dem der Westen Russland die Friedensbedingungen diktieren kann, dann sage ich: Dieses Ziel ist nicht erreichbar. Wenn das Ziel Regime Change heißt, einschließlich Putin loszuwerden, dann kann ich nur vor Träumereien warnen. Wenn das Ziel ist, Russland zu ruinieren, wie Annalena Baerbock es formulierte: Auch dieses Ziel ist nicht erreichbar. Wenn das Ziel ist, Russland zu isolieren: Auch das ist nicht geschehen.“

Silke Hellwig: „Das Gemetzel muss beendet werden“, e-pages.dk/weserkurier, 28.08.2023. Zum Volltext hier klicken.

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Zur von Kiew geforderten Lieferung von Marschflugkörpern des Typs Taurus (Reichweite bis 500 Kilometer) prognostiziert der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat: „Da die Bereitschaft der deutschen Politik, für die außen- und sicherheitspolitischen Interessen unseres Landes standhaft einzutreten, offensichtlich unterentwickelt ist, und ‚Druck‘ von außen verstärkt ‚Druck‘ im Innern generiert, wird diese Forderung schließlich wie zuvor gegen jede Vernunft und ungeachtet unserer nationalen Interessen durchgesetzt. […] ein weiterer Schritt in Richtung Europäisierung des Krieges. Denn die USA weigern sich bisher, weitreichende Waffen zu liefern, die russisches Territorium angreifen können, weil sie darin eine große Eskalationsgefahr sehen […].“ Und Kujat mit Nachdruck: „Es darf nicht sein, dass die Bundesregierung weiterhin das Friedensgebot der Verfassung ignoriert, das Risiko der Eskalation und Ausweitung des Krieges durch immer weitere Waffenlieferungen bis zum ‚Point of no Return‘ fördert und keine Anstrengungen zu einem Waffenstillstand und einem Verhandlungsfrieden unternimmt.“

Thomas Kaiser: „Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es, einen gerechten Verhandlungsfrieden zu erreichen“ (Interview), zeitgeschehen-im-fokus.ch, 22.08.2023. Zum Volltext hier klicken.

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Der ehemalige Bundeswehrgeneral Helmut Ganser verweist auf folgendes: „Die Forderung, die Ukraine müsse bekommen, was sie zur Verteidigung einschließlich der militärischen Rückeroberung der besetzten Gebiete braucht, ist […] berechtigt und nachvollziehbar. […] Sie bleibt aber blanke Theorie und ist in der Praxis nicht einlösbar. Vielmehr ist erkennbar, dass die weiteren menschlichen und materiellen Kosten einer kompletten militärischen Rückeroberung für die Ukraine ins Unermessliche gehen würden und vermutlich nicht tragbar sind.“ Und erinnert an eine Feststellung, die der oberste US-Militär General Mark Milley bereits im November 2022 getroffen hatte, dass nämlich „beide Seiten […] einsehen [müssten], dass sie ihre Kriegsziele nicht mit militärischen Mitteln erreichen können und in Verhandlungen eintreten sollten“.

Helmut W. Ganser: Bittere Pattsituation, ipg-journal.de, 14.08.2023. Zum Volltext hier klicken.

Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.

 

Letzte Meldung

Nach der Kabinettsklausur in Meseberg Ende August sahen einheimische Medien keinen Anlass zu Entwarnung oder gar Optimismus:

„Alles in allem ist die Klausurtagung mehr Schein als Sein“, resümierte die Oldenburgische Volkszeitung am 31. August. Fraglich sei überdies, „ob es das von Bundeskanzler Scholz oft bemühte Deutschland-Tempo überhaupt gibt. Denn auch nach der Sommerpause bremst sich die Ampel gegenseitig aus. Wieder einmal gab es Absichtserklärungen für eine bessere Kommunikation und Zusammenarbeit. Fakt ist aber auch, dass gerade die Grünen und die FDP in vielen Fragen inhaltlich so weit auseinanderliegen, dass regelmäßig Ärger programmiert ist. Zwei Jahre muss diese Zweck-Ehe noch halten, dann ist der Wähler wieder am Zug.“ Der allerdings hatte die jetzige Ampel beim letzten Mal auch nicht verhindert …

„Was ist bloß los mit der einstigen Strebernation Deutschland?“, fragte die Leipziger Volkszeitung am gleichen Tag. Zu besichtigen sei „ein multiples Versagen. Es betrifft nicht nur Fußball und Leichtathletik, kaputte Brücken, das marode Schienennetz oder blamable Defekte am Flugzeug der Außenministerin. Polemisch könnte man sagen: Für die Bundeswehr finden sich in Rekordzeit 100 Milliarden Euro, aber in den Kitas tropft es durch die Decke.“

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