17. Jahrgang | Nummer 18 | 1. September 2014

Bemerkungen

Braune Tradition

Von einem Staat wie der jungen Bundesrepublik Deutschland, der nicht nur auf den Trümmern des Nazismus sondern maßgeblich auch auf den Schultern von dessen Amtswaltern errichtet worden ist, konnte man nicht erwarten, dass er sich ernsthafte Mühe gibt, etwa die braunen Richter, Anwälte, Lehrer, Militärs etc. pp. zur Verantwortung zu ziehen. Hätte man damals nur halb so konsequent die alten Nazis verfolgt wie man seit 1989 gegen „rote“ Würdenträger (etwaige Berufsgruppen siehe oben) vorging, hätte die BRD infolge der Unfähigkeit, eigenes unbelastetes Personal zu finden, noch sehr lange unter alliierter Treuhandschaft stehen müssen. Jüngste Erinnerung an diesen perfiden Zynismus der braunen „Vergangenheitsbewältigung“ ist die Einstellung eines Verfahrens gegen 30 ehemalige SS-Angehörige, die im Verdacht stehen, in Auschwitz Beihilfe zum Holocaust geleistet zu haben. Nachdem es fast 70 Jahre gedauert hat, bis man gegen diese Leute anklagebereit war, sind sie nun fast alle verhandlungsunfähig. Aber nicht nur das: Von den 6.500 Überlebenden der SS-Mannschaft in Auschwitz waren auch zuvor lediglich 29 verurteilt worden. Wie der Spiegel berichtete, hat zwar allein die Frankfurter Staatsanwaltschaft 1.060 einschlägige Ermittlungsverfahren geführt, fast alle aber eingestellt. Der Spiegel dazu: „Eine der zynischen Begründungen: Die ankommenden Opfer hätten nicht gewusst, was ihnen bevorstehe, und folglich nicht fliehen wollen. Der beschuldigte SS-Wachmann habe sie daher an einer Flucht gar nicht hindern können – und sei deshalb nicht wegen Beihilfe zu belangen.“ Wer eine solche Justiz hat, braucht eigentlich keine Nazis mehr, die „Aufklärung“ der NSU belegt dies gerade wieder aufs feinste.

Helge Jürgs

Grundsatzweisheit

Die Hasen sowie Vierbeiner ähnlicher körperlicher Ausstattung in Feld und Wald gerieten einst in schwerste Bedrängnis. Die ins Revier eingewanderten Wölfe, bis an die Zähne mit reißenden Zähnen bewaffnet, sorgen mit ihrer Gier für eine rapide Dezimierung des Bestandes. Nun hatten zwar einige der Wortführer unter den Hasen die ihrer Ansicht nach rettende Idee geäußert, sich zusammenzutun und ebenso kollektiv wie heftig mit den Läufen nach den blutrünstigen Aggressoren zu treten, bis diese ablassen würden zumindest von ihrem Revier. Indes, die Mehrheit dieser Spezies glaubte einfach nicht an den Erfolg eines solchen Planes; sie waren halt Angsthasen. Uneins also in der Frage, was zum Schutz des eigenen Überlebens zu tun sei, fand ein Vorschlag Beifall, in dieser Causa den Uhu um Rat zu fragen, dessen Weisheit wald- und feldbekannt war und das nicht nur in den Fluren unserer Meister Lampe. Eine erste Erleichterung erfasste die abgeordneten Hasen, als der weise Uhu sich tatsächlich die Zeit für eine Audienz nahm und ihnen gestattete, ihre Not vor ihm auszubreiten. Dann schließlich um den erlösenden Rat gebeten, dachte der Uhu lange und stirnrunzelnd nach, was die Hasen schon mal als gutes Zeichen dafür interpretierten, dass sich der berühmte Weise sehr tiefgründige Gedanken um ihr Wohl und Wehe machte. Die Begeisterung für den ultimativen Lösungsvorschlag des Uhus kannte denn auch keine Grenzen, als er ausgesprochen ward und lautete, dass sich die Hasen einfach in Löwen verwandeln sollten, dann würden die Wölfe schon sehen… Noch fast in Trance vor kognitiver Beglückung, wagte einer delegierten Vierbeiner die Nachfrage: „Und wie sollen wir das machen?“ Auch darauf hatte der Uhu umgehend eine klare Antwort: „Das ist eure Sache, ich bin nur für Grundsatzfragen zuständig.“

Franka Stahler

Die Hesse komme!

Omid Nouripour ist Mitglied des Deutschen Bundestages. 2006 rückte er über die hessische Landesliste in die Fraktion der Grünen nach. Auf seiner Internetseite bietet er für die Presse „das passende Foto“ an: Ein fröhlich wirkender Mensch, mit dem könnte man sich einen Abend am Äppelwoi-Tisch vorstellen. Gut, dass das Blättchen keine Fotos veröffentlicht. Bilder können lügen. Solch einen MdB müssen sich die „Rodgau Monotones“ vorgestellt haben, als sie ihre berühmte Hymne „Die Hesse komme“ zu Papier brachten: „Was kommt denn da für ’n wüster Krach aus Frankfurt, Darmstadt, Offenbach? / Was lärmt in Kassel Gießen und Wiesbaden bloß so gnadenlos?“ – Nouripour lärmt bevorzugt auf Twitter und über den Pressedienst der Grünen-Fraktion. Gerne wirft er der Bundesregierung vor, dass sie nicht auf ihn hört und nicht „die Augen aufmacht“. Und überhaupt: „Immer von deutscher Verantwortung in der Welt zu sprechen, und dann sich in die Büsche schlagen, wenn es ungemütlich wird, das geht nicht.“ Genau. Omid Nouripour war 2006 Nachrücker für den ausscheidenden Abgeordneten Joseph Fischer. Der führte 1999 als Bundesaußenminister die Bundesrepublik in ihren ersten Krieg. Nouripour scheint zumindest mit seiner verbalen Kraftmeierei ein würdiger Nachfolger zu sein. Außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion ist er schon. Aus dem wird noch einmal was.

Günter Hayn

Schubs von ganz oben

Dass Menschen, die anderer Menschen Leben beeinflussen – dafür auserkoren oder nicht – etwas von Psychologie als unverzichtbares Instrument jedweder Menschen Führung verstehen sollten, dürfte unzweifelhaft sein. Und auch, dass diejenigen, die über diese Fähigkeit nicht intuitiv verfügen, sich diesbezüglich Rat und Aufklärung holen. Warum eine Kanzlerin mit bereits fast zehnjähriger Amtszeit nunmehr auf den Trichter kommt, sich Verhaltensforscher als Regierungsberater zu suchen, darüber müsste nun sicherlich ein Astrologe befragt werden. Vielleicht stehen ja erst jetzt die Sterne dafür günstig. Interessanter als der Vorgang selbst ist, was ihm an Erklärung beigegeben wird. Geht es doch alles in allem darum, neue Methoden für „wirksames Regieren“ zu erproben. Vor allem soll die oft und verbreitet verhängnisvolle Tatsache minimiert werden, dass Menschen oft falsche, weil für sie langfristig ungünstige Entscheidungen treffen. Vermag eine Regierung also mit Hilfe der Psychologie auf diese Menschen einzuwirken, ihnen also einen kleinen „Schubs“ in die richtige Richtung ihres Verhaltens zu geben, dann wäre ein Mehr an „richtigen“ Entscheidung unvermeidlich und gesellschaftsförderlich. Sieht man nun einmal davon ab, dass schon mal versucht worden ist, einen „neuen“ Menschen, zumal einen besseren oder gar wirklichen zurechtzuschubsen, ist schon interessant, dass es unsere ostgeborene und -sozialisierte Kanzlerin ist, die nun auf diesen Dreh kommt. Und, dass sie offenbar analog zu ihren realsozialistischen Vorgängern meint, dass das, was sie vertritt, die „richtigen“ Entscheidungen sind, zu denen man das Wahlvolk nur halt hinschubsen muss. „Der vormundschaftliche Staat“ lautete der Titel eines dissidentischen Buches in der Endzeit der DDR. Freilich nicht identisch mit damaligen Konstellationen, so soll offenbar nunmehr der Paternalismus neuerlich Urständ’ feiern. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies funktioniert, ist freilich groß, wenn man betrachtet, wie willig sich die Massen zu Konsumismus, Verblödungsmedien und adoleszenter Permanentvergnügung schon seit langem haben „schubsen“ lassen.

Hella Jülich

Am Meer

von Jürgen Scherer

MeerMänner
MeeresFrüchte
MatjesSalat
Mäandern im Sand

MusenZeit
MeerJungfrau
Möwen

Mehr

„Klassik in Koserow“ …

… wäre eine ebenso treffende wie hübsche Alliteration. Die Macher dieser Veranstaltungsreihe haben sich – unter Verzicht auf eine solche – mit dem etwas prosaischeren Titel „Klassik am Meer“ beschieden. Ort des Geschehens: Die kleine Ortskirche im Ostseebad Koserow, deren Gemäuer zum Teil bereits aus dem 13. Jahrhundert stammt. Also eine sehr passende Kulisse für Stücke wie Hofmannsthals „Jedermann“ im vergangenen Jahr und Schillers „Maria Stuart“ in dieser Saison.
Ein Blick ins Programm vor der Vorstellung warf Fragen auf: Kann man diesen Schiller tatsächlich von vier Stunden Originallänge auf reichlich anderthalb Stunden reine Spielzeit schrumpfen, ohne die zentralen Botschaften – zum Machterhalt sind aber auch jedes Verbrechen und jede Sauerei recht; der Preis desselben ist die Einsamkeit der Mächtigen – zum Comic zu verballhornen? Sind tatsächlich etliche der vom Dichter vorgesehenen Rollen verzichtbar, ohne dem Werk frevelnde Gewalt anzutun? Bereits zur Pause hatten sich beide Fragen bejahend beantwortet, und dies umso mehr, als die Antagonistinnen Elisabeth I. mit Franziska Troegner und Maria Stuart mit Karoline-Anni Reingraber kongenial besetzt waren. Die Damen schlugen das Publikum derart in ihren Bann, dass der Sachverhalt, dass auf einer „Bühne“ ohne räumliche Tiefe und praktisch ohne Möglichkeiten zum Kulissenwechsel gespielt wurde, gar nicht erst ins Auge fiel. Sehr wohl ins Auge fiel allerdings die Kostümierung der meisten Darsteller, die – trotz Beibehaltung der Schillerschen Sprache – auch noch dem Begriffsstutzigsten im Publikum klar gemacht hatte: Der historische Kontext des Stückes mag zwar Jahrhunderte alt sein, aber am Spiel um Politik und Macht hat sich seither nicht wirklich etwas geändert.
Dass der Schlussbeifall des offenkundig begeisterten Publikums in Koserow dann kein donnernder wurde, war allein dem Sachverhalt geschuldet, dass das Koserower Kirchlein mit seinen rund 190 Plätzen dafür einfach keinen ausreichenden „Resonanzboden“ bietet.

P.S.: Und speziell für die Statistiker unter den Lesern – nach Abschluss dieser Saison, Ende September, wird „Klassik am Meer“ auf 15 erfolgreiche Sommer in Koserow zurückblicken. Mit 364 Vorstellungen, 745 Stunden Theaterspiel, 62.000 Zuschauern und 89 Prozent Auslastung.

Alfons Markuske

Eine bairische Ich-AG

Das Etikett „Wider den Zeitgeist“ heften sich, ob berechtigt oder eher aus wirtschaftlichem Kalkül, etliche Künstler an. Die hohe Zeit des auch ökonomisch erfolgreichen Dialekt-Rocks mit Interpreten wie BAP oder Wolfgang Ambros ist schon lange vorbei. Und doch bietet Mathias Kellner eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln auch in sprachlicher Art mit der CD-Veröffentlichung „Hädidadiwari“. Alltagsbetrachtungen auf Bairisch könnte man dieses Album betiteln. „Hädidadiwari“ ist ein geflügeltes Wort in Altbayern: Hätte, täte, wäre ich doch…
Es sind Lebensreflexionen und -beobachtungen, die durch die Verwendung des bairischen Dialekts nicht zur Attitüde werden, sondern an Authentizität gewinnen. Das Leben beschert Aufgaben, die zu lösen sind, denn – so resümiert Mathias Kellner im Titelsong „Hädidadiwari“ – „…das bringt nix“. Nach mehreren CD-Veröffentlichungen mit seiner Band „Kellner“ steht mit dieser Solo-Veröffentlichung die akustische Instrumentierung mit Gitarre, Dobro, Banja und Ukulele im Vordergrund. „Wieder a Dog“ (Wieder ein Tag) ist mit den für den Künstler typischen Gitarrenriffs unterlegt und erzählt von der Langsamkeit und von der Lebenshaltung, die Dinge hinauszuschieben, bis der Tag vorüber ist und man wieder mal „gar nix g’schafft hod“. Durchaus meisterlich ist die Adaption des Robert Palmer Klassikers „Johnny & Mary“… von wegen Dialekt ist altbacken und unzeitgemäß!
Kellners Künstlerkarriere mutet ein bisschen wie die bayerische (beziehungsweise bairische) Art der US-amerikanischen Tellerwäscher-Saga an. Der junge Mathias Kellner aus Regensburg beginnt seine musikalische Laufbahn wie aus dem Nichts. Nach seiner Schreinerlehre ist er arbeitslos. Kurz vor Hartz IV entwickelt der Hobbygitarrist aus der drohenden beruflichen Perspektivlosigkeit heraus die Idee, es doch mal mit der Musik zu versuchen. Und er geht dabei einen ungewöhnlichen Weg, der ihn zwar einiges an Überzeugungskraft kostet, doch am Ende hat er den Mann auf der Arbeitsagentur auf seiner Seite und gründet eine Singer/Songwriter-Ich-AG. Sein Business-Plan sieht vor, auch in den winzigsten Clubs der Republik aufzutreten, um sich und seine Musik bekannt zu machen. Durch Vermittlung der bayerischen Liedermacherin Claudia Koreck landet er beim südpolmusic-Label. Und bekommt so 2008 die Chance, als Live-Support die Tournee von Katie Melua zu begleiten.
Bleibt abzuwarten, inwieweit die bairische Hinwendung die Karriere weiterhin befördert…

Thomas Rüger

Mathias Kellner: Hädidadiwari, südpolmusic 2014, zirka 16,00 Euro.

Aus anderen Quellen

„Fünf Stunden Angst“, lautete eine Überschrift die Berliner Zeitung am 20.08.2014 – nach einem Ebola-Alarm in der deutschen Hauptstadt, der dann, gottseidank, doch keiner war. Doch die Gefahr bleibt real, denn – so Jeffrey D. Sachs, Direktor des Earth Institutes an der Columbia University in New York: „Tritt eine neue Infektionskrankheit auf, kann sie sich über Flugzeuge, Schiffe, Megastädte und den Handel mit Tierprodukten extrem schnell ausbreiten. Diese Epidemien sind die neuen Zeichen der Globalisierung und zeigen durch die von ihnen verursachten Todesketten auf, wie verwundbar die Welt aufgrund des allumfassenden Transports von Menschen und Gütern wurde.“ Die Konsequenz: „Deshalb brauchen wir ein globales Krankheitskontrollsystem, das dieser Realität Rechnung trägt.“
Jeffrey D. Sachs: Eine Antwort auf Ebola. Was ist zu tun, um weltweite Epidemien in den Griff zu bekommen?, IPG. Internationale Politik und Wirtschaft, 18.08.2014.
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„Wir verderben uns das Leben meist in einer sinnlosen Hetzerei, die […] unlustvoll ist“, meint der Wiener Philosoph Robert Pfaller und empfiehlt: „Das Entscheidende dafür ist, dass man sich ab und zu die Frage stellt, wofür es sich zu leben lohnt – und dann entsprechend handelt: also zum Beispiel Pause macht, feiert, ein ganzes Buch zu Ende liest, sich einen Genuss gönnt, auch wenn er vielleicht ungesund ist. Man muss versuchen, nicht dauernd und ununterbrochen vernünftig zu sein, sondern auf vernünftige Weise.“
Robert Pfaller: „Man muss nicht immer vernünftig sein“, Kölner Stadt-Anzeiger, 11.082014.
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„Einseitige Sezessionen sind völkerrechtswidrig. Sie zerstören die territoriale Integrität eines Staates. Eine Sezession wäre nur in Abstimmung mit der Regierung in Bagdad zulässig“, erklärt der Rechtswissenschaftler Norman Paech dem Neuen Deutschland am 28.08.2014 im Interview. Paech äußert sich auch zu den rechtlichen Fragen möglicher deutscher Waffenlieferungen an wen auch immer in dieser Region: „Die Frage ist, in was für einen Kriegszustand man sich damit begibt.“
Die Grenzen der Autonomie. Norman Paech: Eine einseitige Sezession in Irak wäre völkerrechtswidrig, Neues Deutschland, 28.08.2014. Zum Volltext hier klicken.

Film ab

Es geht um Wikinger und – Drachen. Dass der Krieg nicht das bevorzugte und schon gar nicht das alternativlose Beziehungsmodell zwischen diesen beiden Spezies sein muss und ein Frieden mit Versöhnung der Gegner allemal die dauerhaftere Lösung von Konflikten ist, war schon im ersten Teil von „Drachenzähmen leicht gemacht“ die Botschaft des Films. Wenn die sich den jüngsten und jungen Zuschauern vielleicht auch nicht ohne weiteres erschloss, weil der Spaß beim Zuschauen dann doch die Primärwirkung hatte, so ist der Sachverhalt als solcher doch bemerkenswert – zumal, wenn es sich um einen Animationsstreifen aus den USA handelt. Und wenn die pazifistische Botschaft im Sequel quasi wiederholt und dahingehend ergänzt wird, dass man sich aktiv um Frieden bemühen und auch auf den Kontrahenten zugehen muss, bevor es zu spät ist. Selbst wenn diese Botschaft nun durch die – zutreffende – Komponente ergänzt wird, dass zum Frieden immer zwei gehören, und dass, wenn der andere partout nicht will, die eigene Verteidigung auch aus scheinbar aussichtsloser Position gewagt werden muss und gewonnen werden kann.
Einige weitere Botschaften lauten:
Freundschaft überwindet jede Grenze.
Liebe macht die wildesten Kerle zahm.
Nur in Gemeinschaft sind wir stark.
Mutter ist die Beste!
Wenn angesichts dieser – ganz en passant mit rübergebrachten – geballten Ladung Ethik, die sich auf jedem Fall einem Phänomen diametral entgegenstemmt, das der große marxistische Historiker Eric Hobsbawm den „absolut asozialen Individualismus“ im heutigen westlichen Kapitalismus nannte, der Kritiker des Tagesspiegels mäkelt, der Titel des Films sei „irreführend: Denn die Drachen sind zu Beginn bereits gezähmt.“, und moppert, es handele sich überhaupt um eine „inhaltlich überflüssige […] Fortsetzung“, so möchte man dem Kollegen zurufen: „Hallo, geht’s noch?“ Die 3D-Effekte sind übrigens so gut, dass mein Enkel Felipe, fünf, den ich im Rahmen des jährlich wiederkehrenden NO-GOs Die-Kita-macht-mal-eben-drei-Wochen-komplett-dicht-wegen-Urlaubs betreute, sich ebenso instinktiv wie mehrfach in die Rücklehne seines Kinosessels verkriechen wollte, wenn sich mal wieder ein Feuer speiender Drache aus der Leinwand in die Zuschauerreihen stürzte. Auch der Großvater zuckte da gelegentlich zusammen …
Drachenzähmen leicht gemacht 2, Regie: Dean DeBlois; derzeit in den Kinos.

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Wenn ich unterhalten werden möchte, dann – zum Beispiel – gehe ich in Kino. Wenn ich hingegen wissen will, wie die Welt tatsächlich ist, dann habe ich das täglich live vor Augen oder, wo nicht, greife ich vielleicht zur Berliner Zeitung. Dort mäkelte die Kritikerin allerdings im Hinblick auf den hier in Rede stehenden Film: „Ach, wenn die Welt doch so einfach funktionieren würde.“ Eben weil sie dies nicht tut und um sie trotzdem zu ertragen, liebe Kollegin, gehen manche Menschen manchmal ins Kino und sind ganz froh, mal einen Moment Pause von der Wirklichkeit machen zu dürfen. Das konnte man auf bezaubernde Weise bereits vor fast 15 Jahren in Lasse Hallströms erstem Kulinariker „Chocolat – ein kleiner Biss genügt“, mit Juliette Binoche als Pâtissière und einem Johnny Depp als Zigeuner, der da noch ein guter Schauspieler war und keine bloße karibische Knallcharge.
Das damals bewährte multikulturelle Grundmuster mit Exotiktouch in Gestalt einer Liaison zwischen Pâtissière und Zigeuner lässt Hallström jetzt wiederaufleben, nur dass der Zigeuner dieses Mal ein indischer Koch ist, der für die Kollegin der Konkurrenz auf der anderen Straßenseite entflammt. Das Ganze spielt auch wieder in der französischen Provinz. Wo es damals allerdings noch einer ganzen Horde verspießerter Einheimischer bedurfte, um moralinsauren, chauvinistischen, aber unterhaltsamen Zoff in die Handlung zu bringen, genügen dieses Mal im Prinzip eine Helen Mirren als Sterne-Restaurant-Chefin Madame Mallory und Omo Puri als Vater des indischen Kochs, um den Konflikt vom Zaun zu brechen und zu eskalieren. Natürlich nur, damit das Happy Ending umso idyllischer ausfällt. Schönes, bisweilen etwas sehr überzuckertes, komisches, ernstes, auch Herz ergreifendes Kino – Hollywood eben.
Helen Mirren spielt die Grande Dame einmal mehr mit jener blasierten Noblesse, die ihr für „The Queen“ zurecht einen Oscar beschert hatte. Die Aktrice hält sich selbst übrigens für eine eher unbegnadete Köchin, isst dafür allerdings „in der Tat, was ich will“. Gern auch indisch – „Karahai-Hühnchen, Lamm, Linsen und Kichererbsen. Und natürlich das köstliche Naan-Brot. Danach kann man uns (sie und ihren Gatten – C.F.) nach Hause rollen.“ Da muss dann bisweilen auch mal „eine ganz schnöde Diät“ eingelegt werden. „Die hilft zumindest kurzzeitig. Es sind die gleichen fünf Kilo, mit denen ich schon mein ganzes Leben kämpfe.“ Ein bisschen kokett ist sie halt auch, denn gäbe sie den Kampf verloren – es sähe bei ihrer Figur kein Mensch.
Madame Mallory und der Duft von Curry, Regie: Lasse Hallström; derzeit in den Kinos.

Clemens Fischer

Medien-Mosaik

In allen Genres verdanken wir dem Filmland Georgien spätestens seit den sechziger Jahren einige der schönsten und aufschlussreichsten Filme. Das änderte sich in den neunziger Jahren, als das Land von Bürgerkriegen und dem gesellschaftlichen Umbau erschüttert war. Erst seit wenigen Jahren machen wieder georgische Filme international von sich reden. Die schwierigen Jahre um 1992 sind auch der Hintergrund des neuen Films „Die langen hellen Tage“ von einem Regie-Duo. Nach eigenen Jugenderlebnissen hat ihn Nana Ekvtimishvili erzählt, die an der HFF „Konrad Wolf“ studierte und hier den Münchner Filmstudenten Simon Groß kennenlernte, den sie mit nach Hause nahm. In Tbilissi betreiben sie eine Kette von Eiscafés und haben mit „Die langen hellen Tage“ in Tiflis einen außerordentliches Debüt gegeben. Offiziell ist es eine internationale Produktion, aber doch ein ganz und gar georgischer Streifen. Erzählt wird von zwei heranwachsenden Freundinnen aus schwierigen Elternhäusern, die so sind wie alle in diesem Alter: neugierig und manchmal gern frech, haben Interesse fürs andere Geschlecht und hantieren unbefangen – und das ist dort normal – mit Waffen. Eines der Mädchen wird entführt und zur Heirat erpresst. Durch den eifersüchtigen jugendlichen Ehemann kommt es zu einer Gewalttat. Die beiden Regisseure haben glaubwürdige Charaktere geschaffen, erzählen unterschwellig von Hoffnung in eigentlich hoffnungsloser Zeit. Großen Anteil an der besonderen Atmosphäre des Films haben die Bilder des rumänischen Kameramanns Oleg Mutu, der lange Einstellungen schafft, die man nicht einmal bemerkt.
Die langen hellen Tage, Georgien 2012, in ausgewählten Kinos.

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Zehn Jahre jünger als Nana Ekvtimishvili ist der Kanadier Xavier Dolan und beim Film schon ein „alter Hase“. Er kam als vierjähriger Darsteller in Berührung mit der Branche und hat mit „Sag nicht, wer du bist“ bereits seinen fünften Film vorgelegt (der sechste wird im Herbst in die Kinos kommen). Dass Dolan Geschichten mit homosexuellen Komponenten erzählt, ist eigentlich unwesentlich, weil er weit darüber hinausgeht und verallgemeinert von der menschlichen Natur, von Beziehung und ihren Verirrungen erzählt. Hier kommt Tom, Lebensgefährte eines verstorbenen jungen Mannes, zur Beerdigung in ein kanadisches Provinzdorf und begegnet der Mutter, die wegen des Scherzfotos mit einer Kollegin glaubt, dass der Sohn eine Freundin hatte. Der gewalttätige Bruder des Toten ahnte (oder kannte?) die Wahrheit und findet selbst auf seine obsessive Weise Gefallen an Tom, der sich aus dieser Beziehung kaum zu lösen vermag. Es ist ein ambitioniert gefilmter Thriller mit komischen Momenten (Tom wird von seinem Navi auf ein freies Feld geleitet, steigt aus und zertritt es wütend). Deutlich ist die Hommage an Alfred Hitchcock, und das Wiedererkennen macht dem Kenner Freude, aber auch auf den Normalzuschauer üben die Szenen ihre Wirkung aus. Dolan spielt selbst die Hauptrolle, und an seiner Seite agieren Pierre-Ives Cardinal und Lise Roy auf atemberaubende Weise. Übrigens kann man auch Manuel Tadros, Dolans Vater, als Barmann sehen.
Sag nicht, wer du bist, seit 21.8. in ausgewählten Kinos.

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Es war nicht selbstverständlich, dass sich 1988 Germanisten, Autoren, Lektoren aus der Bundesrepublik und der DDR (auch aus der Schweiz und anderen Ländern) im Allgäu trafen und beschlossen, eine Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG) ins Leben zu rufen. Der Leipziger Verleger Roland Links berichtet anschaulich über diese frühe Phase der Zusammenarbeit der Tucholsky-Anhänger in einem Band, der zum 25jährigen Bestehen der KTG im vorigen Jahr konzipiert wurde und nun (übrigens mit einem Grußwort von Klaus Wowereit) erschienen ist. Unter den Autoren des Bandes finden sich – bei Tucholsky nicht verwunderlich – mehrere linke Publizisten, darunter Ian King, der oft aus London für neues deutschland berichtet, Wolfgang Helfritsch, Ossietzky-Kolumnist, und F.-B. Habel, der seit dem ersten Jahrgang dem Blättchen verbunden ist. Er zeichnet Stationen der Reise nach, die die KTG-Mitglieder auf Tucholskys Spuren durch die Pyrenäen führte. Andere Beiträge beleuchten Tucholskys Verhältnis zum Judentum, porträtieren seine Witwe Mary Gerold-Tucholsky und seine letzte Nachfahrin Brigitte Rothert-Tucholsky, finden seine Spuren im Schwarzwald, und mehrere Aufsätze setzen sich damit auseinander, wie Tucholskys politisches und publizistisches Erbe an junge Leute von heute herangetragen werden kann. Dass das Erfolg haben kann, beweist ein ebenso witziger wie nachdenklicher „Gruß nach vorn“, den der Pankower Abiturient Fabian Wolf verfasste.
Renate Bökenkamp, Ian King (Hrsg.): 25 Jahre Kurt Tucholsky-Gesellschaft, Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2014, 138 Seiten, 19,00 Euro.

bebe

Simon & Jan

Wenn sie auf die Bühne kommen – noch keine 35, etwas linkisch in ihrer Körpersprache, und mit gepflegtem Timbre ihre Vorstellung und die erste Conference zum Vortrag bringen –, dann wirken diese Schwiegermuttertypen aus Oldenburg wie von Oma eingemachtes Kirschkompott. Also wie die Fleisch gewordene Harmlosigkeit. Ihre häufig volksweisenhaft eingängigen Melodien, auf der Akustikgitarre gezupft, nicht geschlagen, verstärken diesen Eindruck noch, wie auch ihr erstes Musikvideo „Geld“ sehr schön erkennen lässt. Dieser Eindruck könnte falscher nicht sein. Denn auf seine Kosten kommt bei Simon & Jan nur, wer gegebenenfalls auch rabenschwärzeste Satire vertragen, nein genießen kann. Etwa wenn es heißt:

Ein kluger Mann hat einmal gesagt, das fiel mir letztens ein,
auch Lesbische, Schwarze, Behinderte können ätzend sein.
[…]
Stasi 2.0 hat man ihn mal genannt.
Er legte ein Volk an die Leine.
Spätestens da hat es jeder erkannt:
Ein Arschloch braucht gar keine Beine.
Dein tragisches Schicksal, das tut mir ja leid,
doch wenn ich dich heute so seh‘, da
denk‘ ich mir, du bist doch auch nicht vielmehr,
als ein Arschloch auf Rädern.
Ob Spenden aus blutigen Händen,
Sicherheit oder Finanzen,
auch ohne Gefühl in den Händen,
kannst du auf mehreren Hochzeiten tanzen.
[…]

Da fühlt man sich mit angenehmem Schauer an die Bürgerschrecklieder der Barden Hannes Wader und Konstantin Wecker in ihren sehr jungen Jahren erinnert. Diese Gefahr scheint auch dem Oldenburger Duo durchaus bewusst zu sein, denn respektlos lassen die beiden hören:

Hannes Wader geht mir mächtig auf den Konstantin,
wenn ich wecke, ja dann denk‘ ich mir: Ja, Mey,
nun werd‘ doch endlich Juni! Wann ist der Winter bloß vorbei?

„Macht man eigentlich nicht“, heißt es in der anschließenden Conference: „Klassischer Vatermord!“ Der sei ihnen vom alternden Rezensenten, der von Wader, Wecker & Mey auch heute nicht lassen mag, nachgesehen. Zumal die beiden auf ihren Instrumenten Virtuosen von hohen Graden sind, was den intellektuell-kabarettistischen mit dem Hörgenuss zusammenfallen lässt. Und diese Kombination findet sich derzeit ja nicht gar so häufig …

Hans Peter Götz

Simon & Jan: Der letzte Schrei. Live, Ahuga 2012, 14,99 Euro; Simon & Jan, Ahuga 2012, 14,99 Euro. In Berlin am 29. und 30.10.2014 in der ufa fabrik. Weiterte Tourneetermine im Internet.

Anton, Nina i Traktor…

Vor ein paar Tagen traf ich in der Stadt rein zufällig meinen alten Russischlehrer. Eine echte Überraschung, denn seit meiner Schulzeit hatte ich ihn nicht mehr gesehen und doch hatten wir uns nach einigem Zögern wiedererkannt. Er konnte sich noch genau an mich erinnern: „Ach, Sie sind der Orlick, Fensterreihe, vorletzte Bank.“
Trotz seiner grauen Haare – er sah aus wie früher. Ernstes Gesicht und strenger Blick – gerade so, als wollte er im nächsten Moment Russischvokabeln abfragen. Wie vor vierzig Jahren, als es bei mir dann meistens hieß: „Setzen, vier!“ Aber nein, es war ein freundliches, ja fast freundschaftliches Wiedersehen. In wenigen Gesprächsminuten informierten wir uns gegenseitig quasi im Schnelldurchlauf über unsere Lebenswege, über Familie, Berufsweg und so weiter – verflochten mit Erinnerungen an die alte Schulzeit. Obwohl damals der Altersunterschied kaum ein Dutzend Jahre betrug, lagen pädagogische Welten zwischen uns. Heute waren wir beide etwas ältere Herren.
Am Abend kramte ich dann sogar mein altes Russisch-Wörterbuch hervor. Die älteren Blättchen-Leser werden sich noch an das Ding mit dem dunkelroten Kunstledereinband erinnern. Obwohl dort im Vorwort meiner Ausgabe von 1960 steht: „Dieses Wörterbuch ist der deutsch-sowjetischen Freundschaft gewidmet“, ist es heute für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Da ich nie ein Fremdsprachentalent war, sind meine Russischkenntnisse aus acht Jahren Russischunterricht leider total verschüttet. Mit Mühe und Not bringe ich das russische Alphabet und seine Schreibweise noch zusammen. Eine Reaktivierung wäre also viel zu anstrengend.
Vor einiger Zeit hatte ich bereits meinen alten Musiklehrer im Wartezimmer meiner Zahnärztin getroffen. Die Begegnung war ähnlich herzlich, obwohl ich in meiner Schulzeit wahrlich nicht zu den musikalischsten Schülern gehörte. Wenn damals Vorsingen auf dem Stundenplan stand, versuchte ich es immer mit einer Art Sprechgesang: „Ich trage eine Fahne und diese Fahne ist rot.“ Mit viel Wohlwollen und Augenzudrücken ließ der Lehrer das durchgehen. Lang, lang ist es her! Hätte ich es in dem Wartezimmer wieder probiert, manchem Patienten wären wohl die Zahnschmerzen vergangen.
Nach diesen beiden zufälligen Begegnungen frage ich mich erstaunt, warum trifft man nach so vielen Jahren ausgerechnet immer jene Pauker, in deren Fächern man früher beileibe keine Leuchte war? Warum begegnet man nicht den Lehrern seiner Lieblingsfächer? Hallo, wo bist du Mathelehrerin? In welcher ALDI-Filiale kaufst du ein? Vielleicht treffen wir uns dort einmal an der Kasse. Wo steckst du, Physiklehrer? Mit welcher Straßenbahnlinie fährst du für gewöhnlich? Sollten wir uns aber doch einmal treffen, dann bitte nicht nach dem Lösungsansatz für irgendeine Gleichung fragen. Wenn ich gut bin, kann ich mich vielleicht noch an den Satz des Pythagoras erinnern.

Manfred Orlick