Oberkrämer, zum Beispiel
Oberkrämer ist ein Ort, den es historisch gesehen nicht gibt. Genaugenommen ist es nur der Name einer Försterei in einem Waldgebiet namens „Krämer“ im brandenburgischen Ländchen Glien bei Kremmen. Im Zuge der Gebietsreform der 1990er Jahre wurden von der Potsdamer Landesregierung sieben Gemeinden zusammengelegt. Keine wollte wohl den Namen einer anderen übergeholfen bekommen, also verpasste man dem neuen Gebilde den Namen der Försterei. Wenn man den Autobahnkrach ignoriert und tapfer über die Metastasen der Marktwirtschaft, die Logistikcenter, hinwegsieht, findet man auf dem Areal der 12.000-Seelengemeinde hübsche Orte mit Geschichte.
In die regionalen Geschichtsbücher schrieb sich die Gemeinde Oberkrämer am 23. Januar 2022 – da waren dort Bürgermeisterwahlen – ein. Nicht wegen einer ehemaligen „Dschungel-Königin“ aus dem Privat-Fernsehen, die mit 6,1 Prozent durchfiel. Wäre die Dame nicht für die FDP, sondern als Einzelbewerberin angetreten, hätte sie wahrscheinlich mehr Punkte eingefahren. Die Parteien nämlich rauschten – so sie überhaupt angetreten waren – allesamt krachend durch. Die SPD bekam immerhin noch 10,6 Prozent, aber selbst die AfD erreichte nur 4,5 und DIE LINKE bemerkenswerte 2,9 Prozent. Wer addiert, wird bemerken, da fehlt Einiges an Punkten … 25,5 Prozent erzielte ein „Bündnis für Oberkrämer“, die Freien Wähler fuhren 32,7 Prozent ein. Die beiden werden am 13. Februar die Stichwahl unter sich ausmachen. Die Wahlbeteiligung lag bei stolzen 49,3 Prozent. Die Hälfte aller Wahlberechtigten hat also müde abgewunken.
Nun steht Oberkrämer nicht für das ganze Bundesland. Die Alarmglocken sollten in den Potsdamer Parteibüros dennoch läuten. Nicht nur dass den Parteien auf dem „flachen Land“ zunehmend die Kandidaten fehlen – wo sie eine Alternative sehen, trauen ihnen die Wählerinnen und Wähler immer weniger zu. Das ist nicht nur in Brandenburg so. Hier bröckelt die Basis unserer Demokratie. Für deren Bestand ist es vollkommen egal, wer die Bundesvorsitzenden oder die Generalsekretäre sind. Wirklich gefährlich sind die Erosionsprozesse „von unten“.
Meat Loaf. Ein persönlicher Nekrolog
Dass Sie als einer der besonders großen Rockstars gelten, war mir klar. Dass es aber ein so überwältigendes Echo auf Ihren Tod am 20. Januar dieses Jahres geben würde, hat mich doch überrascht. Sogar die Tagesschau sendete in ihrer 20-Uhr-Ausgabe einen ausführlichen Nachruf.
Ein solches Echo hätten Sie sich wohl kaum träumen lassen, während Sie als schwergewichtiger Jugendlicher unter dem Namen Marvin Lee Aday in Texas lebten und der Legende nach von Ihrem Vater oder Ihrem Football-Trainer den Spitznamen Meat Loaf (Fleischklops) verpasst bekamen.
Mir sind Sie vor allem als „Eddy“ aus der „Rocky Horror Picture Show“ in Erinnerung, in der Sie – mit dem Motorrad aus der Kühlkammer ausbrechend – den Rock ’n’ Roll Song „Hot Patootie – Bless My Soul“ schmetterten. Dass Sie in mehr als 60 Filmen mitspielten, ist weniger bekannt, wohl aber, dass Sie weltweit mehr als 100 Millionen Tonträger verkauften. Allen voran das Debut „Bat Out Of Hell“, das zunächst keine Plattenfirma veröffentlichen wollte, das aber 1977 und in den Folgejahren den Nerv vor allem von Jugendlichen traf. Wer wollte nicht das Paradies im Licht des Armaturenbrettes (in der Petting-Sinfonie „Paradise By the Dashboard Light“) erleben? Beim Wiederhören der kompletten Platte wird deutlich, wie theatralisch die Songs klingen und warum Sie selbst einmal gesagt haben, sie seien eher Schauspieler als Sänger. Jim Steinman, Texter, Komponist und Produzent der Platte, wollte ursprünglich ein Musical schreiben und hat bei der Produktion alle erdenklichen Bombastregister gezogen, so dass manche Kritiker von wagnerischem Rock sprachen.
Sie zeichneten sich immer durch eine gute Portion Selbstironie aus. Da würde es Sie sicher zum Schmunzeln bringen, dass Ihr Tod die Firma „Weber Grill“ in Probleme gebracht hat: An Ihrem Todestag veröffentlichte Weber Grill als „Rezept der Woche“ eine Anleitung für die Zubereitung von „BBQ Meat Loaf“ und sah sich gezwungen, sich dafür schnell bei den Kunden zu entschuldigen. „Zu dem Zeitpunkt, als wir dieses Rezept mit Ihnen teilten, waren wir uns des bedauerlichen Ablebens des amerikanischen Sängers und Schauspielers Marvin Lee Aday, auch bekannt als Meat Loaf, nicht bewusst“, so Weber. Dabei passte dieser Fauxpas doch gut zu Ihrer letzten Szene in der „Rocky Horror Picture Show“, in der Sie auf dem Esstisch von Dr. Frank N. Furter landen.
„Heaven Can Wait“ lautet die ruhigste Nummer auf Ihrem Debütalbum. Nun sind Sie mit nur 74 Jahren überraschend doch schon im Rockhimmel angekommen.
Ein Akt der Barbarei
Der Tabqa-Staudamm ist der größte seiner Art in Syrien und hält einen 25 Meilen langen Stausee über einem Tal zurück, in dem Hunderttausende von Menschen leben.
Auf dem Höhepunkt des Krieges gegen den Islamischen Staat (IS) war es am 26. März 2017 zu einem Bombenangriff auf den Damm gekommen, der zu jener Zeit in vom IS beherrschtem Gebiet lag. Eine Bombe durchschlug fünf der 18 Stockwerke der Staumauer, explodierte jedoch nicht. Ein Bruch des Dammes hätte eine Überschwemmung verursachen und Zehntausende von Zivilisten töten können.
Der IS, die syrische Regierung und Russland machten seinerzeit die USA für den Angriff verantwortlich. Die dementierten: Der Staudamm befände sich auf der „No-strike“-Liste des US-Militärs für geschützte zivile Einrichtungen. Und der damalige Kommandeur der US-Offensive, Generalleutnant Stephen J. Townsend, erklärte, dass der Staudamm von den US-Streitkräften nicht angegriffen werden dürfe; Behauptungen über eine US-Beteiligung würden auf „verrückten Berichten“ beruhen.
Am 20. Januar 2022 enthüllte die New York Times (NYT) folgendes: „Tatsächlich hatten Mitglieder einer streng geheimen US-Spezialeinheit namens Task Force 9 den Damm mit einigen der größten konventionellen Bomben aus dem US-Arsenal angegriffen, darunter mindestens eine BLU-109-Bunkerbombe, […] wie zwei ehemalige hochrangige Beamte berichten.“ Die BLU-109 ist darauf ausgelegt, bis zu 1,8 Meter dicke Betonwände zu durchdringen, um im Inneren des Ziels zu explodieren.
Weiter berichtete die NYT: „Da der Staudamm unter Schutz steht, wäre die Entscheidung, ihn anzugreifen, normalerweise auf einer höheren Ebene der Befehlskette getroffen worden. Die ehemaligen Beamten sagten jedoch, dass die Task Force eine Verfahrensabkürzung nutzte, die für Notfälle reserviert ist und es ihr ermöglichte, den Angriff ohne Genehmigung durchzuführen.“
Auf den Spuren von Odysseus
Seit über einem Vierteljahrhundert existiert Quadro Nuevo, die wohl erfolgreichste deutsche Weltmusik-Band.
Das Quartett besteht aus dem Holzbläser Mulo Francel, dem Bassisten und Perkussionisten D.D. Lowka, dem Akkordeonisten (und inzwischen auch Trompeter, Kameramann und Regisseur) Andreas Hinterseher und dem Pianisten Chris Gall.
Die vier Künstler ließen und lassen sich von unterschiedlichsten Orten inspirieren, ob in Südfrankreich, in den Balkanländern oder in Ägypten.
In Fortführung des letzten Albums „mare“ bestritten sie im vergangenen September ihre bis dato aufwändigste Reise. Auf einem großen Segelschiff erkundeten sie das Gewässer um die Äolischen Inseln, eine Inselgruppe nördlich von Sizilien.
Die Namensnennung bezieht sich auf Aiolos, den griechischen Gott der Winde, einem der vielen Protagonisten in Homers Odyssee.
Womit wir beim Titel der neuesten CD von Quadro Nuevo wären: „Odyssee – A Journey Into The Light“.
Die 30-köpfige Reisegemeinschaft im vergangenen Jahr bestand übrigens nicht nur aus dem Quartett und vier weiteren Gastmusikern, sondern auch aus einem Hirnforscher von der Charité, aus Kunsthistorikern und Homer-Spezialisten, Fotografen und einer Yoga-Meisterin.
Im Nachgang zu diesem Segeltrip entstand dann das Album, das die vielfältigen Inspirationen hörbar macht. Die Stücke sind nicht nur für Globetrotter Balsam für die coronageplagte Seele. Ob hymnische Improvisationen oder einen getriebenen Ska Groove, ob ein sentimentales Wiegenlied für den gefallenen Ikarus oder eine Ballade für die sehnsuchtsvoll wartende Penelope.
Und wem in der aktuellen Pandemiesituation die Bedenken für eine Vor-Ort-Erkundung zu gefährlich sind, der kann sich mit Schmökerstoff über die antiken Mythen und Legenden aus der Stadtbücherei zufriedengeben.
Den Soundtrack zu der Lektüre liefert dann Quadro Nuevo frei Haus.
Quadro Nuevo: „Odyssee – A Journey Into The Light“, Vertrieb: Edel, CD, 2021, 17,99 Euro.
Wer treibt den Gaspreis?
Die Gaspreise haben sich im vergangenen Jahr verzehnfacht. Das haben selbst Experten in dieser Form noch nicht erlebt. Und wegen ihrer Koppelung ans Gas gehen auch die Strompreise ab nach oben.
Wer schuld ist, kann man den Medien entnehmen:
- „Gas […]: Wie Russland Lieferverträge als Druckmittel einsetzt“ (Handelsblatt, 15.12.2021);
- „Teure Energie: Russland dreht weiter am Gaspreis“ (FAZ, 22.12.2021);
- „Europas Erdgasproblem […]: Russland hat derzeit die Trümpfe in der Hand“ (Neue Zürcher Zeitung, 27.11.2021).
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (23.01.2022) hat Klaus-Dieter Maubach, seit März 2021 Chef des Kraftwerksbetreibers Uniper, der früher zu Eon gehörte, befragt:
FAS: Russland ist mit einem Anteil von rund 50 Prozent Deutschlands größter Gaslieferant. Es heißt häufig, die Russen trieben die Preise – womöglich auch, um im Ukraine-Konflikt den Druck zu erhöhen?
Maubach: Das ist ein derzeit gängiger Erklärungsversuch. Nach unseren Analysen aber ist dieser Vorwurf nicht haltbar. Zwei Drittel des Gases, das wir verstromen oder handeln, also 250Terawattstunden, kommen auf Basis von langfristigen Lieferverträgen aus Russland. Und das für uns seit 50 Jahren absolut zuverlässig. […] Die Zuverlässigkeit Russlands lässt sich mit Zahlen sehr gut belegen – und das nicht nur für die Gasmengen, die nach Deutschland, sondern insgesamt nach Europa und in die Türkei geliefert werden. Gazprom zufolge waren das 2020 etwa 175 und 2021 rund 172 Milliarden Kubikmeter bis einschließlich November. Eine Verknappung hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben, auch gegenüber 2019 nicht.
FAS: Was treibt den Gaspreis dann?
Maubach: Zunächst die deutlich erhöhte Nachfrage 2021 gegenüber dem Vorjahr, der Nach-Corona-Effekt. Zweitens ist in Europa weniger verflüssigtes Erdgas, sogenanntes LNG, angelandet. Das kommt vor allem aus Qatar und den USA. Drittens ist die europäische Gasproduktion gesunken. Und die Gasspeicher sind weniger gefüllt.
Limericks
Es lebte ein Kiffer in Gnandstein
Der wollte nicht gerne genannt sein
Er verdealte mit Gras
Sich nebenbei was
Das war sein drittes Standbein
Es lebte ein Hase in Osterfeld
Der war wahrhaftig ein großer Held
So weit so gut
Doch was nützt der Mut
Wenn er den Fuchs für ein Poster hält
Es lebte ein Künstler in Meißen
Der konnte sich selber umkreisen
Die Welt staunt und schaut
Als er fährt aus der Haut
Um sich in den Arsch zu beißen
Es läutet der Förster von Geithain
Lauthals eine neue Zeit ein
Die Natur wird erblühn
In saftigem Grün
Nur ihr Affen werdet nicht mehr dabei sein
Der Heiland auf den Hebriden
Wandelt heilend hienieden
Verjüngt wird, wer alt
Aus Single wird Malt
Und die Ledigen werden geschieden
Der Highlander sah nach Glenfiddish
Die Schwertschneide schimmerte schnittig
Da ertönte sein Schrei:
Wer von nun ab bei drei
Nicht auf dem Baum ist, den f… ich
Insbesondere der letztere Limerick vermittelt sofort ein Gefühl dafür, warum das Duo sein künstlerisches Credo unter dem Alleinstellungsmerkmal „Brachialromantik“ gefasst sehen möchte.
Die Combo „Duo Sonnenschirm“, das sind Dieter Beckert und Jürgen B. Wolff, seit 1986 paarweise zusammen unterwegs. Entstanden sind seither ein paar hundert Songs, mehrere Stücke und „Podeststücke“, ein Hanebuch und ein Dutzend CDs.
Die hier wiedergegebenen Limericks entstammen dem Kammerspiel „Kulturvolk“ aus dem Jahre 2005. Ihr volles Potenzial entfalten die Fünfzeiler im Kontext dieses Stückes, das wahlweise über Spotify angehört (kostenfreie Anmeldung erforderlich) oder im Textarchiv des Duos nachgelesen werden kann.
Auf der Homepage der Brachialbarden lässt sich im Übrigen gut nach ihren anderen Wort- und Tonwerken stöbern, Hinweise zu eventuellen Erwerbsmöglichkeiten inklusive.
Ernüchtertes Resümee
Thilo Bode, 74, war Geschäftsführer von Greenpeace und gründete 2002 die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch. Jetzt trat Bode ab, und DER SPIEGEL nahm dies zum Anlass, den langjährigen Aktivisten nach seiner Bilanz zu fragen – unter anderem ob Foodwatch seine Anliegen, die Verbraucher besser zu schützen und den Einfluss der Lebensmittelindustrie zurückzudrängen, erreicht habe. Dazu Bode: „Diese großen Ziele haben wir nicht erreicht, da sollte man nichts beschönigen.“
Auch die Lebensmittelampel, für die Foodwatch lange gekämpft hat, gibt es nach wie vor nicht. Bode: „Wir sind an der knallharten Lobby der Lebensmittelindustrie gescheitert, die dieses Projekt, das nicht nur die große Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch Krankenkassen und Ärzteverbände unterstützten, verhindert hat. Es ist simpel: Die Ampel gefährdet die traumhaften Umsatzrenditen von Junkfood.“ Und: „Politik und Industrie preisen das Ideal des mündigen Verbrauchers, vor allem weil dann beide nichts ändern müssen. Doch der Verbraucher hat keine Macht. […] Die Menschen müssen durch den Staat geschützt werden, nicht durch Appelle oder freiwillige Selbstverpflichtungen.“
Ob er denn wenigstens Hoffnung auf die nunmehrige Regierungsbeteiligung der Grünen setzte, wollte das Nachrichtenmagazin abschließend wissen: „Diese vermeintliche Klimakoalition, die schon am Tempolimit scheitert? Ich habe da überhaupt keine Hoffnung, schon gar nicht bei den Grünen. […] Hier klafft die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besonders weit auseinander.“
Auf den Punkt gebracht
Das beste Argument gegen die Demokratie
ist ein fünfminütiges Gespräch mit dem Durchschnittswähler.
Winston Churchill
Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit,
wenn sie Ich sagen.
Theodor Adorno
Fürst, was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt,
was ich bin, bin ich durch mich;
Fürsten hat es und wird es noch Tausende geben;
Beethoven gibt’s nur einen.
Ludwig van Beethoven
an den Musik-Mäzen Fürst Karl Lichnowsky
Der Verlust der Scham
ist das erste Zeichen von Schwachsinn.
Sigmund Freud
Die grellsten Erfindungen sind Zitate.
Karl Kraus
Niemand ist frei davon, Dummheiten zu sagen.
Das Unglück ist, sie gar feierlich vorzubringen.
Montaigne
Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen,
denn das Ende ist der Anfang von der anderen Seite.
Karl Valentin
Es muss ein eigentümliches Vergnügen für die Menschen sein,
sich fort und fort verdummen, verkaufen, vernichten zu lassen:
für das Vaterland, den Lebensraum, die Freiheit, für den Osten, den Westen.
Karlheinz Deschner
Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen,
wenn er etwas als falsch erkennt.
Stefan Heym
Wir Geistigen haben,
allen Dampfwalzen und Normierungen zum Trotz,
das Differenzieren zu üben
und nicht das Verallgemeinern.
Hermann Hesse
Wahrheit gibt es nur zu zweien.
Hannah Arendt
Es gibt sehr wenig böse Menschen,
und doch geschieht so viel Unheil in der Welt;
der größte Teil dieses Unheils kommt auf Rechnung
der vielen, vielen guten Menschen,
die weiter nichts als gute Menschen sind.
Johann N. Nestroy
Wir kennen nicht das ganze Stück,
in dem wir unseren kurzen Auftritt haben.
Sebastian Haffner
Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht.
Ich glaube keinem, der sie gefunden hat.
Kurt Tucholsky
Diktatur ist ein Staat,
in dem das Halten von Papageien
lebensgefährlich sein kann.
Jack Lemmon
Gleichgültigkeit ist die mildeste Form der Intoleranz.
Karl Jaspers
Wenn man glaubt, dass das menschliche Leben
durch den Verstand regiert werden kann,
so wird damit die Möglichkeit des Lebens aufgehoben.
Leo Tolstoi
Wenn Sie mich fragen:
Erfolg macht aus jedem netten Menschen
ein Arschloch.
Wladimir Kaminer
Demokratie ist ein Verfahren,
das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden,
als wir es verdienen.
George Bernard Shaw
Stichwort: Corona-Impfpflicht
Wegweisende Beiträge zur allfällig weiter anschwellenden Debatte um eine mehr oder weniger allgemeine Corona-Impfpflicht geleistet haben jüngst Karl Lauterbach (Bundesgesundheitsminister) und Melanie Brinkmann (Virologin).
Der Bundesminister erklärte in ein Mikrofon der Tagesschau: „Es wird niemand gegen seinen Willen geimpft. Selbst die Impfpflicht führt ja dazu, dass man sich zum Schluss freiwillig impfen lässt.“ Was schnappatmende Kritiker sofort wieder veranlasste, die ministerielle Geschäftsbereichsfähigkeit in Zweifel zu ziehen. Dabei hat Lauterbach doch ganz offensichtlich nur dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass es die in den Geisteswissenschaften umstrittene Kategorie des sogenannten freien Willens realiter, also aus naturwissenschaftlicher Sicht, gar nicht gibt: Bekanntlich entscheidet das Hirn im Bereich des Unterbewusstseins immer schon, bevor der Hirnträger sich dessen überhaupt bewusst wird.
Das könnte auch bei Melanie Brinkmann der Fall gewesen sein, die sich bei Markus Lanz in virologischer – oder vielleicht doch besser: virtueller – Demokratie versuchte. Sie meinte, dass auch hierzulande die Impfpflicht ja bereits längst beschlossen sei – quasi per implizitem Plebiszit: Denn „77 Prozent in Deutschland, die sich impfen lassen können, haben sich schon geimpft (sic!). Das ist doch eigentlich ’ne demokratische Abstimmung, oder?“. Ganz recht! Und dass die Erde eine Scheibe ist, war ja auch nur temporär umstritten …
Musikalischer Meuchelmord
Einmal brachte Nietzsche eine Komposition – die Sylvesterklänge – nach Tribschen mit und ließ sie am Klavier durch Cosima Wagner und den Dirigenten Hans Richter vierhändig aufführen.
Das Stück kam nicht einmal beim Hausdiener Jakob an. Cosima hatte Mühe, sich während des Vortrags das Lachen zu verbeißen. Wagner knetete verlegen sein Barett und ging hinaus, bevor der Vortrag beendet war.
Nach dem Vortrag fand Hans Richter in der Vorhalle Wagner, der sich vor Lachen schüttelte. „Da verkehrt man nun schon anderthalb Jahre mit dem Menschen“, meinte der Komponist, „ohne dergleichen zu ahnen; und nun kommt er so meuchlings, die Partitur im Gewande.“
Gefunden bei Thomas Wieke: Der ganze Mensch ist widerwärtig. Anekdoten von Friedrich Nietzsche, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2000.
Blätter aktuell
Seit Jahren sind autoritäre Kräfte auf dem Vormarsch: national in Form rechter Parteien, international durch das Auftreten Chinas und Russlands. Dies gefährdet allerdings längst nicht mehr nur einzelne Demokratien, sondern stellt zunehmend die liberale Weltordnung als Ganze in Frage, so die Politikwissenschaftler Alexander Cooley und Daniel H. Nexon. Denn gerade die konstitutive Offenheit freiheitlicher Institutionen bietet den Illiberalen ein willkommenes Einfallstor. Wollen demokratische Kräfte dem begegnen, müssen sie daher stärker Partei ergreifen – und dürfen selbst nicht vor Maßnahmen zurückschrecken, die im Kern wenig liberal sind.
Dreißig Jahre sind seit Beginn des Bosnienkriegs vergangen. Alte Risse in der Bevölkerung drohen nun erneut aufzubrechen, warnen der Sozialwissenschaftler Jens Becker und die Soziologin Ina Kulić. Die Führung der serbischen Republika Srpska kokettiert mit Abspaltung von Bosnien-Herzegowina. Um das Land vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren, müsse die internationale Staatengemeinschaft alles daransetzen, die nicht-nationalistischen Reformkräfte zu stärken.
Seit das Militär Ende Oktober im Sudan geputscht hat, stellt sich dort eine Demokratiebewegung betont friedlich den neuen Machthabern entgegen. Doch was kann sie ausrichten gegen die Übermacht der Putschisten? Ohne Unterstützung aus dem Ausland werde es der Opposition nur schwer gelingen, die Generäle zur Rückkehr in die Kasernen zu zwingen, so der ehemalige ARD-Korrespondent Jörg Armbruster. Vor allem aber käme es jetzt darauf an, das Wirtschaftsimperium der Militärs zu zerschlagen.
Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Grüne Agrarwende: Das Ende der Ramschpreise?“, „Dienstwagenprivileg: Wie die Ampel die Verkehrswende ausbremst“ und „Nepal oder: Der unkonventionelle Frieden“.
Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Februar 2022, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.
Wiener Streifzüge zur Dystopie
Das eigentliche Problem ist die Normalität, sei es die alte, sei es die neue. Normalität ist nicht nur das Falsche und Schlechte, sie wird neuerdings immer verrückter. Vieles, was ist, hätte man gestern noch als dystopisch bezeichnet. Inzwischen aber wurde der Ausnahmezustand zur Regel, und ein Ende ist nicht in Sicht.
Wir leben in seltsamen Zeiten. Wir sind in eine Phase eingetreten, wo vieles zerbrechlich wird, auseinander fliegt, sich aber auch neu mischt und formiert, auch wenn die Konturen zukünftiger Möglichkeiten und Unmöglichkeiten sich nur vage abzeichnen. Das soll die eigene Zurückhaltung nicht entschuldigen oder rechtfertigen, wohl aber erklären. Wer heute eine entschiedene Position zu vertreten meint, kann sich schnell ein blaues Auge holen. So ist im Zweifel an allem zu zweifeln ohne zu verzweifeln. Versucht man sich am Thema Dystopie, gerät man jedenfalls ganz durcheinander. Das sollte […] in dieser Ausgabe (der Streifzüge – Die Redaktion) gelungen sein.
Was können wir raten? Auf sich und die um sich aufzupassen, nicht in den Sog diverser Wahnsinnigkeiten zu geraten. Der Malstrom des Irrsinns lauert an jeder Ecke, insbesondere in den Verstärkern der Medien, aber auch in diversen Echoräumen. Nichts geht mehr, weder das, was ist, noch das, was sein könnte. So wird weitergemacht. Auch wir tun das. Unser bescheidener Vorschlag besteht darin, zu tun, als ob es ginge. Denn was geht und was nicht, wissen wir in Wirklichkeit nicht. Es gilt das Wollen zu wollen. Leben darf nicht heißen, „dass man nie tut, was man will, und dass man nie gewollt hat, was man getan hat.“ (André Gorz)
Mehr Informationen zur Ausgabe der Wiener Streifzüge zum Thema Dystopie im Internet oder per Abo in gedruckter Form.
Aus anderen Quellen
DIE ZEIT (online) veröffentlichte am 14.01. eine Expertise von über 70 Unterzeichnenden, die auf fast schon ultimative Weise von der Bundesregierung eine deutlich konfrontativere Linie gegenüber Russland als bisher schon fordert.
Ein entsprechender Schwenk würde grundlegenden deutschen wie europäischen Sicherheitsinteressen diametral zuwiderlaufen, meine andere Experten, die daher für friedliche Koexistenz, für Kooperation statt Konfrontation, plädieren.
Experten fordern Korrektur deutscher Russlandpolitik, zeit.de, 14.01.2022. Zum Volltext hier klicken.
Für eine deutsche Sicherheitspolitik im Dienste des Friedens, welttrends.de, 24.01.2022. Zum Volltext hier klicken.
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„Die Klimaerwärmung, bedingt durch menschliche Treibhausgasemissionen, bringt das Ökosystem und mit ihm die Menschheit an den Rand des Untergangs. Es sei fünf vor zwölf, und wir befänden uns in der ‚grössten Krise der Menschheitsgeschichte‘. Wer so spricht, hat das publizistische Momentum auf seiner Seite“, konstatiert Konstantin Sakkas und fragt: „Doch hat er auch Geschichte und Naturgeschichte verstanden?“ Denn zum Beispiel: „Noch in der Frühphase des Holozäns, vor etwa 9000 Jahren, war es schätzungsweise 2 bis 3 Grad wärmer auf der Erde als heute, ganz ohne anthropogene Emissionen.“
Konstantin Sakkas: Apocalypse now?, nzz.ch, 31.12.2021. Zum Volltext hier klicken.
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„Wladimir Putin zu verteidigen ist nicht links. Aber ebenso wenig ist die NATO ein Friedensprojekt. Die Linke muss sich für einen eigenen Kurs entscheiden“, fordert Daniel Marwecki. Wer Russland ausschließlich als Opfer westlicher Politik sehe, der lasse sich von alten Denkgewohnheiten blenden. Andererseits: „Allzu abwegig“ klinge die russische Forderung nach einem Ende der NATO-Osterweiterung nicht. „Wie würden die USA reagieren, wenn Kanada oder Mexiko einem Sicherheitsbündnis mit Russland beitreten wollten, eventuell gar mit russischen Raketen an ihrer Grenze? Das Problem ist, dass die internationale Politik aus Sicht der Mächtigen wie ein Schulhof ohne Lehreraufsicht funktioniert: Der Stärkere gewinnt. Die USA werden sich deshalb von Russland keine Forderungen diktieren lassen, selbst wenn diese im Prinzip nachvollziehbar sind. Michael O’Hanlon, Politikwissenschaftler am einflussreichen Brookings Institute in Washington, bringt das Dilemma so auf den Punkt: „Die Ukraine und Georgien sollten nicht Teil der NATO sein – auch wenn Moskau das nicht für sie entscheiden darf.“
Daniel Marwecki: „Die Linke zwischen Russland und NATO“, jacobin.de, 14.01.2022. Zum Volltext hier klicken.
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„Im Dezember 2020 stimmte das schwedische Parlament einer Erhöhung des Verteidigungsbudgets des Landes um ca. 40 Prozent zu – schrittweise soll es steigen und im Jahr 2025 10,45 Milliarden US-Dollar […] betragen“, schreibt Anton Gentzen und teilt mit, worum es konkret geht: „Insgesamt soll sich die Stärke der schwedischen Armee von derzeit 55.000 Mann (was bereits die drei im letzten Jahr aufgestellten neuen Regimenter einschließt) auf 80.000 im Jahr 2025 und etwa 100.000 im Jahr 2030 erhöhen.“ Und warum das alles? Wegen „russischer Aggression“.
Anton Gentzen: Wegen „russischer Aggression“: Schweden plant Verdoppelung seiner Streitkräfte bis 2030, rt.com, 01.01.2022. Zum Volltext hier klicken.
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Ein böses, ein giftiges Wort hat Jubiläum: das Wort ‚Berufsverbot‘“, erinnert Heribert Prantl. Es werde „fünfzig Jahre alt. Es ist ein Wort, bei dem ein aufrechter Demokrat Pickel, Ausschlag und Krätze kriegt. Mit Berufsverboten ist vor Jahrzehnten eine ganze Generation junger Menschen traktiert worden. Sie durften nicht Lehrer, Lokführer oder Postbote werden, weil sie irgendwann bei irgendeiner angeblich anrüchigen Demonstration, etwa gegen den Vietnam-Krieg, dabei gewesen waren.“
Die ARD, wenn auch auf sehr spätem Sendeplatz, widmete dem sogenannten Radikalenerlass von 1972, auf dem die damaligen Hexenjagd auf linke Kräfte (laut ARD-Doku etwa 3,5 Millionen Überprüfungen von Anwärtern und Beschäftigten im Öffentlichen Dienst) beruhte, immerhin eine Dokumentation. Aus der erfährt man unter anderem, dass der heutige grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, seinerzeit Maoist war, und dass die damaligen Berufsverbotskriterien im Bundesland Bayern bis vor wenigen Jahren angewendet wurden.
Heribert Prantl: Prantls Blick. Die politische Wochenschau, sueddeutsche.de, 16.01.2022. Zum Volltext hier klicken.
Hermann G. Abmayr: Jagd auf Verfassungfeinde, ARD, 17.01.2022; in der ARD-Mediathek abrufbar bis 17.01.2023. Zum Video hier klicken.
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Karlheinz Deschner schloss, da war bereits 46 Jahre alt, mit dem Rowohlt-Verlag einen Vertrag über eine „Kriminalgeschichte des Christentums“ von seinen Anfängen bis in die Gegenwart ab; 1986 erschien der erste akribisch recherchierte Band, dem bis 2013 neun weitere folgten, bis das Projekt aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen werden musste. Da war der Autor erst im 18. Jahrhundert angelangt. Willi Winkler schrieb in einem Text, der ihm 2013 den Michael-Althen-Preis einbrachte, über Deschner: „Die Kirche wurde Deschners Schicksal, ihre angemaßte Größe, ihre verdrängten Verbrechen, der Massenmord im Dienst des Glaubens.“ Und: „Er will der Sache auf den Grund gehen. Wo kommt der christliche Wahn her, warum konnte er sich so lange halten?“ Ein Anstoß auf diesen Weg war zweifelsohne die Intoleranz der Katholischen Kirche: „In Gestalt von Julius Döpfner, seinerseits getauft auf den Namen des Würzburger Fürstbischofs Julius Echter, der einst die Juden aus der Stadt vertrieb und außerdem reichlich Hexen verbrennen ließ, exkommunizierte diese katholische Kirche 1952 Deschner, weil der sich unterstanden hatte, eine ‚Geschiedene‘ zu heiraten. Julius Döpfner war damals der zuständige Bischof von Würzburg, wurde Bischof von Berlin, dann Kardinal des Erzbistums München und Freising und der Vorgänger von Joseph Ratzinger. Deschner wurde Kirchenkritiker, der wütendste seit Savonarola, den die wahrhaft Gläubigen 1498 in Florenz auf dem Scheiterhaufen verbrannten.“
Willi Winkler: „Der Antichrist“, Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2013. Zum Volltext hier klicken.
Letzte Meldung
Wenn in den Medien darüber berichtet wird, dass es Menschen gelungen ist, den durch die Corona-Pandemie verursachten oder verschärften Widrigkeiten besonders erfolgreich zu trotzen, dann sind das allemal good news und uns natürlich eine Letzte Meldung wert: Der Organisation Oxfam zufolge ist das Vermögen der zehn Reichsten der Welt (darunter leider keine Frauen, null Asiaten und nur ein Europäer) während der Pandemie von 700 Milliarden auf 1,5 Billionen Dollar angestiegen, was einem Durchschnittszuwachs von 1,3 Milliarden pro Tag entspricht und einem stärkeren Wachstum als in den gesamten 14 Jahren zuvor. Die Pandemie quasi ein Goldrausch. Glückwunsch!
Leider haben es laut Oxfam aber auch ein paar andere nicht so gut getroffen: Weltweit 160 Millionen Menschen mehr als vor Corona leben heute in Armut …
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