23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

Bemerkungen

Vierter November 1989

Es war ein Traum
Kaum geträumt
Hat das Volk
Alles versäumt

Peter Will

Herbstliche Coronagedanken

Der November verwöhnt derzeit mit Sonnenschein, bringt leuchtendes Gelb in die Straßen. Das wirkt wie ein kleines Trostpflaster angesichts der neuen Corona-Maßnahmen, die das öffentliche Leben wieder weitgehend einschränken. Man habe seit dem Frühjahr viel gelernt, heißt es von den Regierungsbänken. Das stimmt wohl, aber insgesamt scheint der Corona-Nebel, in dem wir stochern, nicht viel kleiner geworden zu sein. Es scheint, dass sich mit der exponentiellen Ausbreitung des Virus auch die Ratlosigkeit potenziert. Es wird eifrig geforscht und gestritten, das ist gut, aber die Hoffnung auf schnelle Ergebnisse weicht so langsam der Einsicht, dass wir wohl mehr Geduld aufbringen werden müssen.

Von der Politik wird Handeln gegen die „zweite Welle“ erwartet und sie hat mit dem etwas weniger harten „Lockdown“ und auch mit finanziellen Abfederungsabsichten geliefert. Angela Merkel appelliert an uns, durchzuhalten. Kontaktreduzierung ist ihr Schlüsselwort. Angesichts der neuen Zahlen muss das wohl sein. Die Kontaktreduzierung erfolgt nun allerdings in einer pauschalen Weise, die viele Fragen unbeantwortet lässt und Widerspruch geradezu herausfordert. Die Kultur bringe gerade ein Opfer für uns alle, heißt es da…

Eine Begründung für die pauschale Schließung der Kultureinrichtungen wird nicht geliefert. Dabei haben Theater, Kinos – und auch viele Gaststätten – mit viel Mühe (und Aufwand) Hygienekonzepte entwickelt, die Zahl der Zuschauer und Gäste deutlich reduziert, Lüftungsanlagen umgebaut – alles in der Einsicht, dass die Pandemie besondere Maßnahmen erfordert, um uns alle zu schützen. Diese Mühen scheinen umsonst gewesen zu sein. (Was machen Menschen, wenn sich Mühe und Befolgung von Regeln als nutzlos erweisen? Werden sie nochmal aktiv – oder künftig eher passiv und gehörlos gegenüber politischen Vorschlägen?) Dabei – so ein Theaterleiter kürzlich – sind die Theater nach all den Umbauten derzeit der öffentliche Ort mit der geringsten Ansteckungsgefahr.Wir drängeln uns weiterhin im öffentlichen Nahverkehr, in Kaufhäusern, aber geschützte Räume, in denen Abstandsgebote eingehalten werden können, werden geschlossen mit Verweis auf die Notwendigkeit der Kontaktreduzierung. Das ist nicht plausibel, und die gute Absicht macht es nicht plausibler. Ganz zu schweigen vom „Lebensmittel“ Kunst gerade in schwierigen Zeiten…

Wie wird es weitergehen? Kontakte zu Weihnachten und dann wieder Lockdown? Die Frage einer längerfristigen Strategie steht im Raum – inmitten der Ratlosigkeit ob steigender Infektionen und deren Ursachen, die es in der Tat schwierig macht, politische Entscheidungen zu treffen. Aber nur das Hoffen auf einen wirksamen Impfstoff dürfte nicht reichen. Respekt vor Covid 19 – ja, aber Angst verbreiten ist keine gute Strategie, sie verführt zu Aktionismus und spaltet die Gesellschaft. Wir haben das im Frühjahr/Sommer erlebt. Die Pandemie wird uns leider noch einige Zeit begleiten. Wenn die Gefahren sachlich erläutert und die Risiken abgewogen werden – dazu gehört, dass kritische Einwände nicht von vornherein abgetan werden – steigen vermutlich auch Vertrauen und Einsicht.

Margit van Ham

Atomwaffenverbotsvertrag

Mit Honduras hat zwischenzeitlich der 50. Staat den im Rahmen der Vereinten Nationen abgeschlossenen Vertrag über ein globales Verbot von Atomwaffen ratifiziert. Damit wird das Abkommen am 22. Januar 2021 in Kraft treten.

Die Mitgliedstaaten dieses Vertrages verpflichten sich völkerrechtlich bindend, „nie, unter keinen Umständen“ Atomwaffen zu entwickeln, herzustellen, anzuschaffen, zu besitzen oder zu lagern.

Der Vertrag geht auf die internationale Kampagne zur atomaren Abrüstung (ICAN) – einem Bündnis aus mehr als 500 Organisationen weltweit – zurück, die 2017 den Friedensnobelpreis erhalten hat.

Die Atommächte – die USA, Russland, China, Großbritannien Frankreich, Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea – verweigern einen Beitritt. Das gilt auch für sämtliche NATO-Staaten, einschließlich Deutschland. Nicht nur Russland (siehe Blättchen 23/2016) hatte aktiv gegen ein Zustandekommen des Vertrages agiert, und insbesondere Washington hatte Druck auf Unterzeichnerstaaten (immerhin 122 der 193 UNO-Mitgliedsländer) ausgeübt, um sie an der Ratifizierung zu hindern (siehe Blättchen 22/2020).

Das Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrages sei ein „historischer Moment“, so die ICAN-Vorsitzende Beatrice Fihn, die zugleich darauf verwies, dass – Umfragen zufolge – 70 Prozent der Deutschen einen Beitritt der Bundesrepublik zu diesem Vertrag wünschten. ICAN ist überzeugt, dass mit dem Vertrag der Druck auf die Atommächte wächst, abzurüsten. Und Martin Kaiser, der geschäftsführende Vorstand von Greenpeace Deutschland, forderte: „Will Deutschland weiter Vorreiter einer europäischen Friedenspolitik sein, muss es als erster Nato-Mitgliedstaat überhaupt den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnen.“ Sollte die derzeitige Bundesregierung sich dem verweigern, müssten die Grünen es zur Bedingung einer künftigen Regierungsbeteiligung machen.

Auch UN-Generalsekretär António Guterres unterstützt den Atomwaffenverbotsvertrag: Der sei „eine sehr willkommene Initiative“. Die US-amerikanische Union of Concerned Scientists (etwa 250.000 Mitglieder) unterstrich: „[…] auch ohne die Beteiligung von Staaten, die Atomwaffen besitzen, füllt der Atomwaffenverbotsvertrag eine wichtige Rechtslücke, indem er die verbleibenden Massenvernichtungswaffen verbietet. Das Atomwaffenverbot stellt einen kritischen Wandel im Denken über Atomwaffen dar, weg von ihrer vermeintlich strategischen oder sicherheitspolitischen Rolle und hin zu den katastrophalen humanitären Folgen ihrer Entwicklung und ihres Einsatzes. In diesem Rahmen wird den Menschen und Gemeinschaften, die in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch Atomwaffen geschädigt wurden oder werden, Priorität eingeräumt.“

Alfons Markuske

Film ab

Aktuelle Kinoempfehlungen in der Zeit des Lockdowns dürften so ziemlich zum Trostlosesten gehören, was unsensible Rezensenten und Redakteure sich einfallen lassen können. Doch der vorliegende Fall liegt doch etwas anders.

Nachdem die aktuellen Kulturkoma-Anordnungen mit nur äußerst knapper Vorwarnzeit über das Land gekommen waren, wollte der Besprecher die verbleibende Zeitspanne nutzen, um wenigstens noch einmal … Es sollte da, hatte er mehr läuten hören als sich wirklich informiert, was Neues mit Colin Firth geben, der seinen Oscar 2011 als Bester Hauptdarsteller für „The King’s Speech“ ja völlig zu Recht erhalten hatte und von Streifen wie „A Single Man“ (2009) oder „Magic in the Moonlight“ (2014) auch in keiner schlechten Erinnerung ist.

Ein Kino war schnell gefunden, und noch bevor so recht zu realisieren war, dass das Genre, in das der Rezensent geraten war, Fantasy ist – eines wozu er üblicherweise mit starken Argumenten bewegt werden muss –, hatten die opulente Farbenpracht der Bilder und das Agieren der Heldin (Dixie Violet Egerickx, 15 Jahre) bereits ihre Wirkung entfaltet … Colin Firth war da noch gar nicht in Erscheinung getreten, und die Rolle sollte ihn anschließend auch nicht wirklich fordern.

Die Rede ist von der – laut Wikipedia – inzwischen immerhin elften Verfilmung des 1911 erschienenen Kinder- und Jugendbuchklassikers „Der geheime Garten“ von Frances Hodgson Burnett. Der erste Streifen von 1919 war noch ein Stummfilm. Dieses Mal ist es ein romantisches Filmerlebnis für die ganze Familie geworden, das man von seiner Gefühligkeit her mindestens für die Adventszeit ohne Spott empfehlen kann und mit dem nicht zuletzt Liebhaber der hoch gerühmten englischen Gartenkultur gleich noch mit auf ihre Kosten kommen.

Interessant wäre sicher ein Vergleich mit der Verfilmung von 1993 (im Internet erwerbbar), in der die grandiose Maggie Smith als Mrs. Medlock den allgegenwärtigen Hausdrachen in jenem abgelegenen Schloss gibt, in dem die Heldin nach dem tragischen Tod ihrer Eltern landet. In der aktuellen Fassung ist die Rolle mit Julie Walters, die man aus den Harry Potter- und den Paddington-Verfilmungen kennt, allerdings auch trefflich besetzt.

Kleine filmhistorische Fußnote: In der britischen Fernsehumsetzung von 1987 war Colin Firth in diesem Garten schon einmal zu sehen.

Clemens Fischer

„Der geheime Garten“, Regie: Marc Munden. Bis 1. November in den Kinos, doch im Internet bereits als DVD vorbestellbar.

Kein Thema auslassen

Als ich die Post aus dem Hause Kunstmann gierig aufriss, fiel mir ein kleines, in Rot gehaltenes Buch entgegen. Der Einband ist stabil und eine silbern-goldene Schrift weist auf den Inhalt hin. Man könnte denken, dass der kleine, aber feine Verlag ein Gesangsbuch rezensiert haben möchte. Oder sollte es sogar die Bibel sein, etwas verspielt und griffig in der Aufmachung? Das Druckerzeugnis ist Letzteres: nämlich die Bibel für spaßbereite Menschen, für Leser mit Sinn für albernen, aber auch bösartigem Humor. Ein edles Buch zu Ehren von Hauck & Bauer, das gar auf den zweiten Blick an das Sammelwerk „Frische Gedichte“ von F.W. Bernstein erinnert.

Auf über 306 Seiten wurden Karikaturen und Cartoons der Freunde Elias Hauck und Dominik Bauer vereinigt, wobei der eine Künstler (Hauck), 1978 im unterfränkischen Alzenau geboren, zeichnerisch tätig ist und der andere Künstler (Bauer), ebenfalls 1978 in Alzenau zur Welt gekommen, sich mit den Texten zu den Bildern beschäftigt. Es kommt vor, dass man in des Anderen Bereich eingreift, Ideen weiter gibt, zusammen den Witz verfeinert und am Ende einen herrlichen Spaß in die Welt stößt.

Die Strips des Duos sind in einer konservativen Sonntagszeitung zu bewundern, die dadurch aufgewertet wird und es sogar Menschen gibt, die angeblich nur deswegen den Berg Papier käuflich erwerben. Im vorliegenden prachtvollen „Best Of“ sind gar einige unveröffentlichte frühe Skizzen zu bewundern. Damit sich die zwei Franken wohl nicht immer „auf den Sack gehen“ und es aus jeder Richtung Ideen sprudeln soll, wohnt Hauck im Moloch Berlin und Bauer in Frankfurt am Main. Kein Thema lassen sie aus, alles wird in schwarz-weiße Bilder gesteckt, in denen Figuren mit schiefen Strichen, großen Nasen und fast durchgehenden Mündern typisch sind und dadurch den Witz des Ganzen noch hervorheben. Öfters erstreckt sich der Spaß über vier Bilder und endet mit einer völlig überraschenden fetten Pointe. Dann ist der Humor auf einer Seite gebündelt, wobei die Zeichnung durch die Sprechblase noch Stärke erhält, auch wenn die Hauptfiguren traurig, böse oder zerknirscht vor sich hin starren. Vater und Sohn im Gespräch: „Ein 5 in Religion?“ „Ich versteh’s auch nicht! Ich hab für eine 2 gebetet.“ Besonders die satirischen Momente, die in die Politik eintauchen, zeigen im Kleinen, wie das Große lächerlich gemacht werden kann. So entwickelten Hauck & Bauer die wahre Deutschlandfahne, die die Farben schwarz, grau und weiß vereinigt und so klein (kariert) ist, wie das Abzeichen der Partei, die dies seit vielen Jahren zu verantworten hat. Außerdem lassen die Künstler einen Idioten das Buch „Der Idiot“ lesen, präsentieren den kleinen Goethe neben seiner dominanten vollbusigen Mutter und feiern mit Atheisten Weihnachten („Frohe Nachten!“)

Für ihre zärtlich aufs Papier geworfenen Bilder können H & B bereits einige wichtige Preise im Keller lagern. Außerdem veröffentlichte das Duo Karikaturbücher mit seltsamen Titeln („Hier entsteht für Sie eine neue Sackgasse“, „Man tut was man kann: nix“) und wurde mit dem vorliegenden edlen Cartoons –Sammelband, der ganz ohne Gedichte auskommt, in den Kreis der Spaßbibelentwickler aufgenommen. Zum Schluss für alle Kneipengänger den Satz eines Kneipengängers: „Solange ich den Mund halte, kann mir niemand widersprechen.“

Thomas Behlert

Hauck & Bauer: Cartoons, Verlag Antje Kunstmann München, 18,00 Euro.

Werkschau seit 30.09.2020 Caricatura Museum Frankfurt am Main.

Wandern nahe des Polarkreises

Wenn der Name „Sigrid Damm“ fällt, denkt der Literaturfreund sofort an ihre einfühlsamen Biografien und zahlreichen Veröffentlichungen zu Menschen aus dem Umkreis der Weimarer Klassik. Dafür wurde die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin jüngst mit dem Weimar-Preis 2020 geehrt.

In ihrem neuen Buch ist Damm jedoch nicht in Thüringen literarisch unterwegs, vielmehr lässt sie einen dreißigjährigen Mann und eine sechzigjährige Frau (Sohn und Mutter) im zeitlichen Abstand von einigen Jahren eine Wanderung durch Nordschweden unternehmen. Beide suchten die Einsamkeit auf einer siebentägigen Tour durch Lappland. Ihr Weg begann jeweils in Kvikkjokk, das alte Bergdorf ist Ausgangspunkt für Ausflüge in die Nationalparks Sarek und Padielanta. Der Sohn war einst als Tourist gekommen, um eine deutsche Bekannte unweit des Bottnischen Meerbusens zu besuchen. Die Begeisterung für die nordische Landschaft war schließlich die Initialzündung für den Erwerb eines Hauses.

Jahre später trieb die Neugier die Mutter nach Lappland, um zu sehen, was den Sohn veranlasst hatte, unterhalb des Polarkreises ein Haus zu kaufen. Hier zog sich die Schriftstellerin auch für einige Zeit zurück, um in der Einsamkeit an „Christiane und Goethe. Eine Recherche“ zu schreiben. Fasziniert von den Berichten ihres Sohnes machte sich die Sechzigjährige schließlich selbst auf den Weg.

Damm erzählt die beiden, zeitlich versetzten Wanderungen von Sohn und Mutter parallel mit den jeweiligen Eindrücken und Gedanken. Schritte und Rhythmus werden wichtig. Häufig bleibt man einfach stehen, betrachtet Gräser und Blumen, „das sich im Wind bewegende Wollgras mit den bauchigen weißen Watteblüten oder die zartblauen pergamentenen Glockenblumen“. Dann ein weites Schneefeld oder man lauscht den unterirdischen Schmelzflüssen. Mitunter begegnet man zwei Tage keinem Menschen, dann gehört einem die Landschaft allein. Es ist wie ein Liebesverhältnis. Die Mutter ist vor allem von den Nächten fasziniert – „Die Nacht weiß mehr als der Tag“. Die Wanderung ist eine Aufforderung, den Kopf aufzuräumen, zurückzublicken, „den Lauf des Lebens, die gelebte Zeit zu durchmessen“. Später geht es zurück in die Zivilisation und die Frage steht, wie kann man die Stille und die Einsamkeit der sieben Tage festhalten?

Bereits 2002 hatte Sigrid Damm gemeinsam mit ihren beiden Söhnen Joachim Hamster und Tobias den Bild-Text-Band „Tage- und Nächtebücher aus Lappland“ im Insel Verlag veröffentlicht. Mehrere Jahre hatten sie zu dritt an dem Projekt gearbeitet. Joachim schuf die Fotos und Collage, die Mutter schrieb die Texte nach den Berichten ihrer Söhne und den eigenen Erlebnissen, Tobias führte schließlich Bildmaterial und Text zusammen und übernahm außerdem Satz und Layout des ungewöhnlichen Buches zweier Generationen. Im insel taschenbuch ist nun Damms Text separat erschienen und bietet den Lesern die Chance, die grandiose Landschaft im Kopf entstehen zu lassen.

Manfred Orlick

Sigrid Damm: Wandern – ein stiller Rausch, Insel Verlag Berlin 2020, 189 Seiten, 14,00 Euro.

Im Grenzbereich von Jazz, Rock und Pop

Was machen Menschen, die in Ulm eine Band gründen? Sie wollen die Welt sehen, denn ewig in der Stadt, die an einem großen Dom herum kauert, leben und sparen lag 1971 bestimmt nicht im Sinne der Musiker von Kraan. Um die es hier gehen soll. Am Anfang ihrer Karriere machte der Freejazz-Fan und Vorreiter des Jazz-Rock in Deutschland Hellmut Hattler noch Hardrock, wechselte aber schnell mit Peter Wolrandt und Jan Fride im Schlepptau zum deutschen Krautrock. Doch man hob sich ab, denn es wurde mit starkem Jazz-Einfluss gearbeitet. Die Musikzeitungen dieser Zeit rezensierten die ersten Kraan Veröffentlichungen und stellten fest, „dass ihr spezieller Sound einer nahezu überschäumenden improvisatorischen Kreativität entspringt.“ Zusammen blieb die Besetzung von Kraan nur selten: Sie trennten sich, kamen allerdings zu Live-Konzerten wieder zusammen, gingen künstlerisch und personell Soloaktivitäten nach und verkamen trotzdem nicht zur Revival-Band ihrer selbst, sondern erfanden sich mit jeder Reunion neu. Hattler gründete in der Kraan-losen Zeit Tab Two, mit denen er eine neue Richtung einschlug, indem er Jazz mit House und Hip Hop kreativ und genial verband.

Ob nun Kraan, Tab Two oder Solo-Veröffentlichungen, alles ist liebenswerter Anachronismus und kann bis ans Ende aller Tage ohne Vorbehalt angehört werden. In diesem Jahr gibt es zum 50. Bandjubiläum ein neues Album, zu dem es aus bekannten Gründen leider vorerst keine Tournee geben wird.

Gemeinsam mit mehreren Gästen und ehemaligen Kraan-Mitgliedern wurde in der Zeit des lockdowns „Sandglass“ aufgenommen, das nach einem Jahrzehnt des Wartens gut gelaunt, überaus lässig und mit einer ordentlichen Portion Groove Funk (höre immer wieder: „Funky Blue“) das Vorgängerwerk „Diamonds“ vergessen lässt. Die Musiker schickten hierbei ihre Ideen mit moderner Technik hin und her, verarbeiteten persönliche Klänge und entwickelten so eine magische Arbeit, die intensiv, fantasievoll war und feste Klangstrukturen bereithielt. Den Grenzbereich von Jazz, Rock und Pop weichte das Trio bei den 13 Songs geschickt auf, nahm im Opener psychedelisches Gedrehe hinzu, das verwirrend durch die Hirnbahnen schwebt und mit pulsierender Leidenschaft aus den Boxen drängt. Gleich bei drei Songs greift der Bass-Mann Hellmut Hattler zum Mikrophon und macht damit deutlich, dass es sehr persönlich wird, wobei er sich mit dem Leben im Besonderen beschäftigt. Das ist sehr geschichtsträchtig im Reich des Jazz-Rock. Besonders angetan ist man beim Song „Moonshine On Sunflowers“, bei dem Hattler entscheidende Keyboard-Akkorde vom ehemaligen Mitglied Ingo Bischof (gestorben 2019) verwendete, die als aktueller Beitrag aus dem Jenseits gelten, oder wie man diesen Vorgang nennen möchte. Interessant auch „Schöner wird’s nicht“: Hier setzt Jan Fride das Schlagzeug in Szene, überschreitet mit einem reinen perkussiven und conga-dominierten Mittelteil alle Stilgrenzen und demonstriert laut und leicht Weltoffenheit. Nach langer Pause halten Kraan exzellenten „Budenzauber“ (Titel 11) bereit, der in bekannter Qualität brilliert und Abwechslung in die mittlerweile eintönige Jazz und Rock Welt bringt.

Thomas Behlert

Kraan: Sandglass, 36music/Broken Silence.

Von wegen alter Wein …

Natürlich liegt Spruch „Alter Wein in neuen Schläuchen“ nahe, wenn eine gealterte Musikerin fünfunddreißig Jahre nach ihrer ersten CD ein Live-Album mit einem Querschnitt aus ihrem musikalischen Schaffen veröffentlicht.

Manche Vorurteile lösen sich jedoch auch in Wohlgefallen auf …

Die US-amerikanische Liedermacherin Suzanne Vega wuchs in New York auf. Und diese Stadt ist auch das zentrale Motiv ihres bereits 2019 (das also „vC“ – vor Corona – entstand, als Konzerte noch ohne behördliche Hygieneauflagen und Abstandsgebote über die Bühne gingen) eingespielten Albums „An Evening of New York Songs and Stories“.

Populär wurde Suzanne Vega vor allem mit zwei Liedern aus ihrem 1987er Album „Solitude Standing“. In „Luka“ wird in sehr einfachen, aber eindringlichen Worten aus Kindersicht ein Fall von Kindesmisshandlung geschildert.

Und Kultstatus errang das A-cappella-Stück „Tom’s Dinner“ (über ein Restaurant im New Yorker Stadtteil Morningside Heights); es war im Übrigen das erste Lied, das jemals ins MP3-Dateiformat konvertiert wurde.

Das Livealbum enthält aber nicht nur eigene Werke. Eingang gefunden hat etwa Lou Reeds Klassiker aus dem Jahr 1972: „Walk on the wild Side“.

Die Stückeauswahl besticht insgesamt durch eine zeitlose Schönheit, dezent mit Gitarre, Keyboards und Bass musikalisch arrangiert.

Es ist in der Tat ein altersweises Werk, das die verschiedenen Facetten der US-amerikanischen Metropole aufzeigt.

„Nichts gewinnt so sehr durch das Alter wie Brennholz, Wein, Freundschaften und Bücher“, postulierte einst der Philosoph Francis Bacon. Man mag dieses Zitat um die New York-Songs von Suzanne Vega ergänzen.

Thomas Rüger

Suzanne Vega: An Evening of New York Songs and Stories, CD 2020, Label: Cooking Vinyl, 16,00 Euro.

Aus anderen Quellen

„Was haben der frühere Präsident Franklin D. Roosevelt, Chinas einstiger Chefreformer Deng Xiaoping und die Machteliten von heute in Deutschland und der westlichen Welt miteinander gemein?“, fragt Dieter Klein und stellt seinem nachfolgenden Befund diese Antwort voran: „Die ersten Beiden weit mehr als auf den ersten Blick zu vermuten. Unser Establishment leider überhaupt nichts. Und das ist das Problem.“

Dieter Klein: Roosevelt, Deng und das deutsche Führungspersonal, neues-deutschland.de, 19.10.2020. Zum Volltext hier klicken.

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Gerd Antes, Mathematiker und einer der bekanntesten Vertreter der evidenzbasierten Medizin in Deutschland, sieht – den erneut verhängten Lockdown betreffend – „keine verantwortungsbewusste Risikokommunikation. Und schon gar keine Empathie der Bevölkerung gegenüber. Stattdessen hört man andauernd, dass jetzt die Zügel angezogen werden müssten. Das ist der falsche Ansatz. Die ganze Diskussion ist auch deshalb desorientierend, weil völlig die Frage verloren gegangen ist: Was will ich eigentlich erreichen? Am Anfang war es – in der völligen Hilflosigkeit gegenüber dem, was da kommt – die Idee des Abflachens der Kurve (‚Flatten the Curve‘). Da ging es darum, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbricht. Jetzt starren wir nur noch auf die Infektionszahlen. Aber auch diese sind ja nur die Anzahl positiver Tests, was auch meist übersehen wird. Dann wird immer damit gedroht: Wenn wir jetzt dies oder jenes nicht machen, ist es bei uns bald wie in Spanien oder Frankreich.“ Das sei „grober Unfug. Auch im Frühjahr war es ja nicht so. Weil diese Länder völlig andere Bedingungen haben.“

Torsten Harmsen: „Corona-Regeln werden völlig willkürlich ausgelegt“ (Interview mit Gerd Antes), berliner-zeitung.de, 29.10.2020. Zum Volltext hier klicken.

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„In der amerikanischen Geschichte“, so Eric Posner, „gab es bisher zwei Verfassungskrisen. Zu beiden gehörte ein Konflikt zwischen dem Obersten Gericht auf der einen Seite und den gewählten Politikern, die die öffentliche Meinung auf ihrer Seite hatten, auf der anderen. Die erste Krise begann mit dem berüchtigten Fall von Dred Scott gegen Sandford im Jahr 1857. Dabei vertrat der Oberste Gerichtshof die Meinung, Afroamerikaner seien keine Bürger der USA und der Missouri-Kompromiss von 1820 – der durch eine Formel zur Aufteilung von Gebieten zwischen sklavenhaltenden und freien Staaten einen Bürgerkrieg verhindert hatte – sei verfassungswidrig.“

Eric Posner: Die drohende Verfassungskrise, ipg-journal.de, 29.10.2020. Zum Volltext hier klicken.

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„1986 stirbt der Mosambikaner Manuel Diogo bei einer Zugfahrt nach Dessau. Für die DDR-Behörden ist es ein Unfall. Ein westdeutscher Historiker macht 30 Jahre später daraus einen brutalen Neonazi-Mord“, resümieren Anja Reich und Jenni Roth eine Geschichte, die bereits durch zahlreiche Medien ging, und fragen: „Was ist damals wirklich geschehen?“ Der Befund der beiden Journalistinnen: „Manuel Diogo war betrunken, schlief im Zug ein, verpasste den Ausstieg, sprang auf freier Strecke aus dem Zug, vermutlich, um zurück zum Bahnhof Jeber-Bergfrieden zu laufen, und wurde dabei vom entgegenkommenden Güterzug erfasst. Seine Freunde merkten erst, dass er fehlte, als sie vom Bahnhof zurück zu ihrer Unterkunft liefen.“

Die Journalistinnen interviewten auch Egon Krenz zum Fall Diogo: „Ich war Honeckers Stellvertreter. Sie können ganz sicher sein, von einem Mord durch Neonazis hätte ich sogar nachts erfahren. Für besondere Vorkommnisse, und dies wäre eines gewesen, gab es eine Meldepflicht bis zum Partei- und Staatschef der DDR. In diesem konkreten Fall hätten die Ministerien des Inneren und für Staatssicherheit, die zuständige SED-Bezirksleitung und der Rat des Bezirkes, die Deutsche Reichsbahn und schließlich die Staatsanwaltschaft davon erfahren und nach oben gemeldet. Undenkbar, dass Erich Honecker, der unter den Nazis zehn Jahre im Gefängnis saß, mich nicht beauftragt hätte, so einen Vorfall auszuwerten. Undenkbar auch, dass Hermann Axen, der im Politbüro für Außenpolitik zuständig war, dem die SS einst die Häftlingsnummer 58787 eingebrannt hatte, eine Vertuschung mitgetragen hätte.“

Anja Reich / Jenni Roth: Der Fall Diogo. Wie aus einem tragischen Unfall ein brutaler Neonazi-Mord wurde, berliner-zeitung.de, 30.09.2020. Zum Volltext hier klicken.

Anja Reich / Jenni Roth: Egon Krenz zum Fall Diogo: „Über einen Neonazi-Mord wäre ich informiert worden“, berliner-zeitung.de, 25.10.2020. Zum Volltext hier klicken.

WeltTrends aktuell

Bereits vor den Wahlen in den USA stand fest: Auch mit einem Präsidenten Joe Biden würde es weder in der US-Außenpolitik generell noch in den transatlantischen Beziehungen speziell eine Rückkehr zu den Zeiten vor Trump geben. Die Autoren im Thema zeigen, dass die Veränderungen in der US-amerikanischen Gesellschaft langfristige sind. Das gilt auch für das Parteiensystem, wie Klaus Larres und Roland Benedikter für die Republikaner und Demokraten feststellen. Das Militärische wird weiterhin eine herausragende Rolle für die USA spielen. Der Hegemon im Abstieg sucht verzweifelt nach Antworten. Das wird sich auch in den nächsten Jahren fortsetzen.

Ein aufsteigender Hegemon ist auch nicht einfach. Kontinuierlich hat sich WeltTrends mit China beschäftigt und stets auch chinesische Autoren zu Wort kommen lassen. Im Forum „China in der Welt“ werden die unterschiedlichen Sichten auf das „Reich der Mitte“ deutlich.

Im WeltBlick analysiert David X. Noack den Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan, während der schottische SNP-Abgeordnete Bill Kidd auf die Auswirkungen des Coronavirus auf Politik und Gesellschaft eingeht.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 169 (November) 2020 (Schwerpunktthema: „Die USA nach 4 Jahren Trump“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

Noch nie in ihrer Geschichte war die amerikanische Demokratie so bedroht wie heute. Schuld daran ist aber nicht allein Donald Trump. Vielmehr krankte das politische System der Vereinigten Staaten schon vor dessen Amtsantritt, so die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. In der extrem polarisierten US-Gesellschaft wächst nun aber die Neigung, politische Ziele auch unter Preisgabe elementarer demokratischer Normen durchzusetzen – wie aktuell das Beispiel der Republikaner zeigt.

Der Begriff Heimat ist in aller Munde – und höchst ambivalent. Denn das Land, das man damit bezeichnet, ist schon immer das Gemeinsame gewesen, das Menschen voneinander trennt – als Bodenbesitzer und Bodenlose. Der Rechtsphilosoph Jedediah Purdy erkennt in dieser Spaltung das Kernproblem der westlichen Zivilisation. Eine am Gemeinwohl orientierte Politik müsse sich radikal fragen, wie sie Wohlstand und den Wert des Lebens bemisst. Nur so sei ein friedliches Zusammenleben in Zukunft möglich.

Die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland gilt weithin als progressiv, links und gesellschaftskritisch. Doch diese Sichtweise ignoriert, dass rechte und rechtsextreme Kreise bereits früh großen Einfluss auf die Bewegung ausübten, so der langjährige Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Wolfgang Ehmke. Sie machten sich in den 1960er und 1970er Jahren die diffuse politische Stimmungslage zunutze, um die neue Bewegung ideologisch zu unterwandern.

Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Erdoğan oder Angriff ist die schlechteste Verteidigung“, „Myanmar: Harmonie als Bedrohung“ und „Klagen ohne Scham: Die Profiteure der Pandemie“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, November 2020, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.