21. Jahrgang | Nummer 16 | 30. Juli 2018

Bemerkungen

Ein Hörfunk-Methusalem aus dem Norden

Die Sendereihe „Streitkräfte und Strategien“ des Norddeutschen Rundfunks – alle 14 Tage 30 Minuten – ist Lesern des Blättchens mindestens durch die regelmäßige Übernahme sicherheitspolitischer Beiträge Jerry Sommers nicht unvertraut.
Nun feierte das Format, wie es heute so schön heißt, am 8. Juli seinen 50. Geburtstag, wozu wir den Kollegen zwar nachträglich, aber ausgesprochen herzlich gratulieren!
In der Jubiläumssendung vom 14. Juli zogen die heutigen Macher, Andreas Flocken und Joachim Hagen, unter anderem ein Resümee zur Breite der Themenpalette der vergangenen fünf Jahrzehnte: „Es geht immer wieder um Aspekte der Inneren Führung der Bundeswehr, aber auch um internationale Krisenherde und Konflikte. Zu hören waren […] Beiträge über rechtsextremistische Tendenzen in den Streitkräften, es ging um Soldaten, die ihr Recht auf Gewissensfreiheit durchsetzten, Spitzenoffiziere, die in den Ruhestand versetzt wurden oder aber zuvor selbst ihren Rücktritt eingereicht hatten. Themen waren zudem immer wieder Skandale und Affären – u.a. der Tod von Soldaten auf der Gorch Fock […]. Der Fall der Mauer und das Ende der Ost-West-Konfrontation nahmen ebenfalls einen breiten Raum bei den Analysen ein […]. Es ging um die Aussetzung der Wehrpflicht und ihre weitreichenden Konsequenzen, um Auslandseinsätze, die zunehmend zur Hauptaufgabe der Bundeswehr wurden. Und immer wieder musste sich die Sendereihe […] mit Rüstungsprojekten beschäftigen – mit dem Mehrzweckkampfflugzeug MRCA Tornado, der Beschaffung der sogenannten Einsatzgruppenversorger für die Marine und natürlich dem Eurofighter und das Problem-Transportflugzeug A400M. […] Ein zentrales Thema durchzog die Sendereihe aber von Anbeginn: Das Verhältnis der NATO-Staaten zur Sowjetunion bzw. zu Russland.“
Wesentlich geprägt worden ist das Profil der Senderreihe von Karl-Heinz Harenberg, der 1971 als verantwortlicher Redakteur übernahm und bis zu seiner Pensionierung 2001 an Bord blieb. Von ihm wurde auch der Schreiber dieser Zeilen Ende der 1980er Jahre eingeladen, sicherheitspolitische Beiträge aus Sicht der DDR beizusteuern und in einem Studio in Westberlin selbst einzulesen. Das war die Zeit, als sich auch zu diesen Fragen die Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten intensivierten.
Dass es sich bei „Streitkräfte und Strategien“ immer noch um die die einzige Hörfunksendung in der gesamten ARD handelt, die sich regelmäßig mit Fragen der Sicherheits- und Militärpolitik auseinandersetzt, ist ein Schande für den größten öffentlich-rechtlichen Senderverbund im Lande, lässt aber das Verdienst der Kollegen umso heller erstrahlen. Und dies umso mehr, als die Reihe sich nie als Resonanzboden des Verteidigungsministeriums oder der offiziellen Außen- und Sicherheitspolitik verstanden hat, sondern stets ihrem Anspruch treu blieb, Militär- und Sicherheitspolitik kritisch zu beleuchten, unbequeme Fragen zu stellen und auf Widersprüche, Defizite und andere Probleme aufmerksam zu machen.

Wolfgang Schwarz

Hoffnung und Realismus

Edward Snowden, nunmehr seit fünf Jahren in Russland, hat der Süddeutschen Zeitung ein Interview gewährt (siehe auch Das Blättchen Nr. 15/2018). Spannend, seine Antworten zu lesen – er ist kein Zyniker geworden, was sehr verständlich schiene, ist realistisch in seiner Einschätzung der Entwicklungen seit seinen Enthüllungen – und doch weiterhin voller Hoffnung …Vielleicht kleidet Edward Snowden aber nur seinen Anspruch an verantwortungsbewusste Politik in Worte der Hoffnung.
Die Journalisten der Süddeutschen Zeitung haben ihn viel zu seinem Leben in Russland gefragt, durchaus in der bekannten Ausrichtung der deutschen Medien gegenüber Russland. Snowden hat ehrlich geantwortet – nein, er sei kein russischer Spion, das stünde auf allen Titelseiten. Ja, der russische Geheimdienst habe gleich zu Beginn einmal versucht, ihn anzuwerben. Er habe strikt abgelehnt und seitdem habe ihn niemand mehr angesprochen. Er sei nicht mit Putins Politik einverstanden. Später ergänzt er: „Wir haben heute viel über Russland gesprochen, über die Enttäuschungen und Herausforderungen. Aber was sagt es über unsere Welt, wenn der einzige Ort, an dem ein amerikanischer Whistleblower sicher sein kann, ausgerechnet Russland ist?“
Er warnt: „Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mein ganzes Leben die Konsequenzen dafür tragen werde, der Öffentlichkeit gesagt zu haben, was ich weiß. Aber wenn es Deutschland schon nicht für mich tut, sollte es zumindest für künftige Whistleblower die nötigen Gesetze verabschieden. Wenn Europa, ja die ganze Welt, nicht bald Regeln schafft, um jene zu schützen, die uns über Dinge von öffentlicher Bedeutung aufklären, dann werden diese Quellen bald versiegen.“
Snowden weiß, dass die Geheimdienste mehr oder weniger dasselbe machen, was sie vor den Enthüllungen getan haben „Aber sehr viel mehr Menschen verschlüsseln heute ihre E-Mails. Auch Unternehmen sind nicht mehr ganz so eilfertig, Regierungen zu helfen. Da hat sich also ganz klar etwas getan.“ Und er hofft: Geheimdienste arbeiteten unter politischer Direktive. Merkel könnte klare Regeln für künftige Regierungen und Geheimdienste erlassen …
Das Interview endet mit der Frage nach einem Wunsch, den Snowden frei hätte. Wie bei ihm nicht anders zu erwarten, ist das eine Aufforderung zu politischem Handeln: Er würde sich den ungeschwärzten Bericht des US-Senats über das amerikanische Folterprogramm wünschen und bezieht sich dabei auf die aktuelle CIA-Direktorin Gina Haspel, die er als Kriegsverbrecherin bezeichnet, weil sie eine Schlüsselfigur des Folterprogramms war. Er sei sich sicher, dass eine NGO in Deutschland Anzeige gegen Haspel erstatten werde. Die Frage sei dann: „Wird die deutsche Regierung mit einer Folterverantwortlichen kollaborieren und sie unbehelligt reisen lassen?“ Den Zweifel der Journalisten wischt er hinweg: Anführer wie Merkel hätten die historische Möglichkeit, die Dinge zu ändern.
Ein Anspruch an die Glaubwürdigkeit von Politik. Warum eigentlich klingt das so illusorisch?

mvh

Kurze Notiz zu Altjeßnitz

Altjeßnitz ist das, was man in Sachsen-Anhalt mit viel Nachsicht als „Mokchen“ bezeichnet: ein kleines, feines Dorf, in dem rein gar nichts passiert. Dementsprechend hat Altjeßnitz auf den ersten Blick auch kaum mehr zu bieten als ein paar hutzelige Häuser, die entlang der gewundenen Hauptstraße aus der Auenlandschaft herausragen: Hier, entlang der Mulde zwischen Dessau und Bitterfeld, gibt es keine Tankstellen, keine Pensionen, keine Restaurants und kaum Einwohner. In wenigen Minuten ist der gesamte Ort zwischen Mühlholzgraben und Seewiesengraben durchschlendert.
Was der Ort touristisch zu bieten hat, scheint ebenfalls auf den ersten Blick sehr überschaubar zu sein: Dass die Dorfkirche unlängst zur Station der Straße der Romanik aufgewertet worden ist, hat nicht gerade für die größten Schlagzeilen gesorgt. Und das Schloss im Ort wurde zwar nach einem Brand einigermaßen originalgetreu restauriert. Es ist aber eben keins dieser opulenten oder wenigstens neckischen Prunkbauten der Anhaltiner: In Altjeßnitz hausten die Ritter von Ende, was sehr viel über die Randlage des Dorfes besagt.
Mit dem Irrgarten von Altjeßnitz haben es die von Ende jedoch geschafft, den Ort überregional bekannt zu machen. Während die Fürsten von Anhalt im nahen Wörlitz und Oranienbaum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgedehnte Gartenreiche nach englischem Vorbild schufen – gemeinsam sind sie UNESCO-Welterbe – pflanzten die Ritter von Ende in Altjeßnitz zur gleichen Zeit einen Irrgarten aus Hainbuchen. Heute gilt er als größter Heckengarten der Welt, zu seiner Entstehungszeit sollte er – typisch Aufklärung – die Menschen zum Nachdenken über den eigenen (Lebens)Weg anregen.
Interessant ist, dass der Irrgarten keine Sackgassen aufweist. Die immer noch sehr moderne Botschaft: Es gibt keine Fehltritte im Leben, nur unterschiedliche Wege zum Ziel. In Altjeßnitz ergeben sich mehrere hundert Optionen, den Aussichtsturm im Zentrum des Irrgartens zu erreichen. Auch das wiederum ist symbolisch: Zuletzt wird aus einer etwas entrückten Stellung der Blick zurück auf das große Ganze geworfen.
Das herüberwehende Blöken der Ziegen von den umliegenden Weiden relativiert dann allerdings glücklicherweise schnell wieder jede Übersinnlichkeit, bevor sie zu bedrückend wirken könnte. Am Ende ist Altjeßnitz eben doch nur ein herrlich verträumtes Mokchen.

Thomas Zimmermann

Vertuschung?

Eine aufrüttelnde Meldung dieser Tage: „Im US-Bundesstaat New York hat möglicherweise ein Hai zwei Kindern in die Beine gebissen. Zu dem Vorfall kam es vor Fire Island, einer schmalen Insel südlich von Long Island. Die Behörden schlossen die betroffenen Strände. Der 13 Jahre alte Junge und das ein Jahr jüngere Mädchen hätten sich nicht gemeinsam im Wasser aufgehalten, teilte die Polizei mit. Die Orte der Angriffe lägen etwa acht Kilometer voneinander entfernt. Ärzte entfernten in einem Krankenhaus einen Zahn aus dem rechten Bein des Jungen. Das Mädchen habe ebenfalls am rechten Bein Bisswunden erlitten, die auf einen großen Fisch hinweisen, sagte eine Sprecherin des Strandbetreibers Fire Island National Seashore. Ob es sich tatsächlich um Hai-Angriffe gehandelt hat, soll nun eine Untersuchung des Zahns zeigen.“
Vielleicht liegt es an des Präsidenten wankelmütiger Haltung zu Russland, dass sich seine Sicherheitsorgane noch die Mühe einer Untersuchung dieser Angriffe machen. In London wäre man längst sicher, dass die Bisspuren eindeutig auf Zähne russischer Herkunft deuten …
Hat Trump Putin in Helsinki etwa auch noch Vertuschung versprochen?

hwk

Entfesselte Katastrophen

Ob Vulkanausbrüche, Feuersbrünste, Überschwemmungen, Erdbeben oder Schiffbrüche: Naturkatastrophen sind solche, wenn man in sie gerät, und sie faszinieren durch das Prickeln des Grauens, wenn sie in Hollywood-Blockbustern daherkommen.
Doch schon lange vor Anbruch des Zeitalters der Kinematographie hatten Katastrophen für Unbeteiligte ihren Reiz und war ihre Darstellung auch schon eine Geschäftsidee – Bilder von Katastrophen haben eine jahrhundertelange künstlerische Tradition. Das ist derzeit in der Hamburger Kunsthalle zu besichtigen: Nahezu 200 Werke spannen einen Bogen von 1600 bis in die aktuelle Gegenwart und erzählen davon, wie Künstler früher und heute die jeweils zeitgenössischen Wahrnehmungen und Vorstellungen von Naturkatastrophen maßgeblich geformt haben. Durchaus auch mit vordergründig romantisierend-idyllischem Touch: Das Cover des opulenten Katalogs ziert Caspar David Friedrichs „Eismeer“, auf dem die spärlichen Überreste eines Schiffes nicht sogleich ins Auge springen …
Neben Kunstwerken aus den Hamburger Beständen sind Leihgaben aus renommierten Museen und Sammlungen, darunter aus dem Musée du Louvre und dem Musée d’Orsay in Paris, der National Gallery und dem Victoria and Albert Museum in London sowie dem Kunsthaus Zürich zu sehen.
„Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600“, Kunsthalle Hamburg, noch bis 14. Oktober 2018. Weitere Informationen im Internet.

am

Blasmusik und Balkan-Beats aus Dietenhofen

Bayern kennt nicht nur CSU-Politiker, die im politischen Überlebenskampf keine Skrupel haben, die AfD rechts zu überholen und in der sprachlichen Verunglimpfung geflüchteter Menschen niveaulos noch eins draufzusetzen.
Bayern kennt jedoch auch anarchische Künstler, die sich um Obrigkeiten, ob gewählt oder inthronisiert, gar nicht scheren. Karl Valentin, Gerhard Polt oder Georg Ringsgwandl sind drei kulturelle Leuchttürme.
In diese Tradition des volkstümlichen (wohlgemerkt nicht: volksdümmlichen!) Humors darf auch „Gankino Circus“ eingereiht werden. Vier Musiker, die sich seit gemeinsamen Kindheitstagen in dem westmittelfränkischen Dietenhofen im Landkreis Ansbach kennen. In der örtlichen Blaskapelle sammelten sie erste musikalische Erfahrungen. 2007 begannen sie, als Straßenmusiker aufzutreten. 2010 erschien dann die erste CD mit dem vielversprechenden Titel „Das Potpourri des Herrn Baron von Gunzenhausen“.
Die Musik ist eine impulsive Mischung (neudeutsch heißt dies ja „Crossover“) aus bayerischer Blasmusik und Balkan-Beats. Zum Einsatz kommt ein umfangreiches Instrumentarium: Akkordeon (Maximilian Eder), Klarinette und Saxofon (Simon Schorndanner), Banjo (Ralf Wieland) sowie Percussion und Trompete (Johannes Sens). So mancher schräge Text trifft auf manch schrägen Ton.
Für die ländliche Lebensfreude bedarf es eines steten Zuflusses von Bier, gelitten wird an den Frauen, und die Lebensphilosophie wird komprimiert wie folgt vorgetragen: „Da brauchst a bissl a Glück, mei klanner Bua / A bissl a Glück und scheiß große Eier.“
Lohnend ist übrigens auch ein Konzertbesuch der vier Herren, die zwar mittlerweile zwischen Leipzig und Stuttgart verstreut leben, deren musikalischer Nukleus aber die kleine bayerische Gemeinde Dietenhofen bleiben wird. Gankino ist übrigens ein bulgarischer Tanz.
Gankino Circus: „Die Letzten ihrer Art“, Label: Beste Unterhaltung, Langenzenn 2017, um die 16,00 Euro.

Thomas Rüger

Televisionäre Totenmesse

Dass nahezu sämtliche Fernsehkanäle davon leben, ihr Programm von früh bis spät mit irgendeiner Variante von Kriminalfilmen zu bestücken, ist mittlerweile bereits geläufig, wiewohl man staunt, dass die Programmmacher trotz ihrer zu vermutenden Unterbezahlung in dieser Causa noch immer Luft nach oben sehen. Kein Tag also ohne Kurz- oder Langkrimis oder ganz und gar sogar einschlägige Serien: „Die Toten vom Schwarzwald“ hie, die „Toten im Spreewald“ dort, die „Toten vom Bodensee“, jene aus der Eifel oder jene von Turin – das Fernsehen ist zu so etwas wie einer alltäglichen und andauernden Totenmesse geraten.
Was mag als nächstes kommen? „Die Toten von Kötzschenbroda“, Ottendorf-Okrilla, Leverkusen-Fettehenne oder Deppenhausen? Doch Ungemach droht – die Endlichkeit deutscher Orte und Landschaften. Irgendwann ist Schluss. Spätestens dann, darauf ließe sich wetten, werden für weitere Endlos-Serie die „Toten vom Friedhof“ in den Fokus der Plot-Schreiber und Regisseure werden. Und sollten selbst die mal irgendwann abgearbeitet sein, blieben von allen einst Dahingeschiedenen noch ihre Gegenstücke – „Die Untoten von Berlin-Eiskeller“ oder jene von Tuntenhausen oder jene von …
Nicht nur nach oben, auch nach unten ist für unser zwangsbebeitragtes Fernsehen also noch viel Luft.

Horst Jacob

Medien-Mosaik

Ein bisschen hat die Quotenregelung auch im Comic Einzug gehalten. Im Mosaik ergänzen seit nunmehr zehn Jahren drei Mädchen, die abenteuerlustige Anna, die belesene Bella und die hauswirtschaftlich geschickte Caramella, als weibliche Pendants die Abrafaxe in einem eigenen „Universum“. Ihre Abenteuer erscheinen jedoch vierteljährlich. Im August-Heft, der Jubiläumsausgabe, sind sie zum zweiten Mal im alten England, wo sie degenerierten Adligen Streiche spielen.
Das althergebrachte Klischee, dass sich Mädchen weniger als Jungen für Comics interessieren, scheint widerlegt. Besonders sind sie interessiert, wenn es Heldinnen sind, die die Geschichten tragen. Die entwickelt ganz wie bei den Abrafaxen Jens-U. Schubert, der die Drei nach Amerika und ins alte Rom führte, sie an die Seite von Marie Curie oder Katharina von Bora stellte. Jens Fischer, der seit zwei Jahren die Geschichten zeichnet, ist nach einigen stilistischen Übungen nun wieder eng auf den Stammvater des Mosaiks, Hannes Hegen, zurückgekommen. Da kommen Väter und Töchter auf ihre Kosten.
Mosaik: Feuerwerk und Tortenschlacht, Reihe: Die unglaublichen Abenteuer von Anna, Bella und Caramella, Heft 37, Steinchen für Steinchen Verlag, Berlin 2018, 54 Seiten, 3,40 Euro, + 3,70 Euro Versand bei Bestellung direkt beim Verlag.

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Comic-Zeichner war einer der vielen künstlerischen Berufe, die der Chilene Alejandro Jodorowsky ausübte. Weltberühmt wurde er als phantasievoller Filmemacher, avantgardistisch und surrealistisch. Seinen ersten Spielfilm drehte er 1968 mit Ende dreißig. Er erhielt Auszeichnungen und hatte immer Probleme, seine ungewöhnlichen Stoffe zu finanzieren, so dass der Regisseur einer der großen Geheimtipps blieb. Vor drei Jahren begann er eine autobiografische Trilogie, deren erster Teil bei uns keinen Verleih fand. Um so verdienstvoller, dass der zweite Teil nun in unsere Programmkinos gekommen ist. In „Poesía sin fin“ (Endlose Poesie) erzählt er den Vater-Sohn-Konflikt des jungen Alejandro, der sich nur langsam zum Künstler mausert. Den 15-jährigen Alejandro spielt ein Jungmime, den 20-25jährigen dann Adan Jodorowsky. Allerdings ist der Sohn des Regisseurs mit Mitte 30 doch etwas alt besetzt. Aber vielleicht gehört auch das zu den vielen Irritationen, an denen Jodorowsky seine offensichtliche Freude hat? Es huschen schwarz gekleidete „unsichtbare“ Komparsen durchs Bild und tragen Dekorationsteile umher, kleinwüchsige Darsteller zeigen, dass sie vollwertige Menschen sind. Alejandros Mutter als einzige im Ensemble singt jeden Dialogsatz mit Inbrunst.
Jodorowsky wird gern mit Fellini verglichen: Dessen meiste Filme sind jedoch ein frischer Sommerwind. Der neue Jodorowsky bläst als vertrackter Herbststurm!
„Poesía sin fin – Endless Poetry“, Regie: Alejandro Jodorowsky, 130 Minuten, OmU, Verleih Steppenwolf, in ausgewählten Kinos.

bebe

Streifzüge Nr. 73 aus Wien – Marx

Franz Schandl schreibt zur Vorstellung des neuen Heftes: „In den letzten Monaten hatte man das Gefühl, dass Marx nicht nur malträtiert wird, sondern regelrecht faschiert. Was man dem Revolutionär nicht alles unterstellen kann. Wofür er da herhalten muss, das löst Verwunderung und Ernüchterung aus. Das ist wirklich Fast Food. Marx für Eilige. Diskutiert wird Marx als Marke und nicht Marx als Substanz. Da ergeht es ihm wohl wie vielen anderen. Die Kulturindustrie spuckt seriell Bände aus, die die Regale zieren und die Altpapiercontainer füllen. Mehr als Beflissenheit und Business war da nicht zu spüren. Kaum eine Neuerscheinung, von der man nicht behaupten könnte, sie würde alt erscheinen.
Eigentlich sollte man froh sein, dass der seltsame Marx-Hype vorbei ist, und dann kommen wir noch mit einer Marx-Ausgabe daher. Indes haben wir ihm doch einiges zu verdanken. Das wollten wir dokumentieren, ist doch Marx für unseren Zusammenhang nicht nur eine historische Bezugsgröße, sondern eine aktuelle. Wir haben uns in dieser Nummer bemüht, einige spezifische Aspekte zu beleuchten. Manch ein Beitrag reizt zum Widerspruch […] Die Artikel sollen zur Auseinandersetzung und Diskussion einladen. Kommentare, Repliken und Kritik sind daher stets willkommen, Anschreiben an die Redaktion (redaktion@streifzuege.de) ebenso.“
Das gesamte Heft ist im Internet nachzulesen – und zu empfehlen.

mvh

Blätter aktuell

In den USA wächst der Widerstand gegen die Abwicklung großer gesellschaftlicher Errungenschaften durch die Trump-Regierung, etwa in der Umwelt- oder der Sozialpolitik. Ob aber der neu erwachte oppositionelle Geist den US-Demokraten zu einem Sieg bei den Zwischenwahlen im Herbst verhilft, ist längst nicht ausgemacht, so der Publizist Ethan Young. Dafür müsste sich die Partei, aber ebenso die Gewerkschaften, dem neuen linken Protest öffnen – und dem Populismus entschieden entgegentreten.
Wir sind doch immer noch die besten Europäer – oder etwa nicht? Der Sozialphilosoph und Blätter-Mitherausgeber Jürgen Habermas räumt mit dem gefälligen Selbstbild der Deutschen auf. Vor allem während der Banken- und Eurokrise hat die Bundesrepublik zu Lasten eines solidarisch handelnden Europas agiert – und damit die deutsche Selbstbezogenheit bedrohlich verstärkt. Um den trumpistischen Zerfall Europas aufzuhalten, braucht es endlich den Mut der Eliten zu eigenen Gedanken, für die sie – um den Preis der Polarisierung – Mehrheiten gewinnen müssen.
Deutsche Kolonialverbrechen reichen von wirtschaftlicher Ausbeutung über rassistische Gewalt bis hin zum Völkermord an den Ovaherero und Nama. Trotz ihrer Schwere sind diese Verbrechen bisher kaum juristisch aufgearbeitet. Das liegt nicht nur an mangelndem politischen Willen, sondern auch am Völkerrecht selbst und seinem immanenten Eurozentrismus, so die Juristen Wolfgang Kaleck und Karina Theurer. Sie fordern deshalb nicht nur eine rasche, transparente Aufarbeitung und die Zahlung von Reparationen, sondern dringen auch auf ein machtkritisches Hinterfragen internationaler Rechtsnormen.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Schweden als Vorbild: Wege aus dem Pflegenotstand“, „PESCO: EU-Aufrüstung mit Zwang und Sanktion“ und „Saudi-Arabien: Die Revolution des Kronprinzen“.

am

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, August 2018, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„‚Fake News‘, Verschwörungstheorien und so weiter entziehen unserer Demokratie den Boden“, so Velten Schäfer, „heißt es allenthalben. Beruhe doch diese darauf, dass man ‚sich in der öffentlichen Diskussion auf dieselben Zahlen, Statistiken und Fakten seriöser Institutionen‘ verlasse und aus diesen im rationalen Streit der Argumente nur konträre Forderungen ableite, dozierte unlängst Alex Rühle in der ‚Süddeutschen Zeitung‘: ‚Was aber, wenn Fakten den Menschen gar nicht mehr als unumstößliche Fakten gelten?‘ Ähnliches beobachtete der amerikanische TV-Satiriker Stephen Colbert schon 2006: ‚Früher hatte jeder das Recht, seine eigene Meinung zu haben, aber nicht seine eigenen Fakten‘ – heute hingegen zählten nur noch ‚Sichtweisen‘. Da muss man dagegenhalten! Trotzig prangte es etwa monatelang auf der Internetseite der ‚taz‘: ‚Truth’s not dead!‘
Velten Schäfer: Tonis Timeline. Der zeitgenössische Boom von Fake News und Verschwörungstheorien zeigt, warum die Liberalen die Welt nicht mehr verstehen,
neues-deutschland.de, 09.07.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Mehr als „5.000 Forscher deutscher Hochschulen, Institute und Bundesbehörden [haben] oft mit öffentlichen Geldern finanzierte Beiträge in wertlosen Online-Fachzeitschriften scheinwissenschaftlicher Verlage veröffentlicht. Diese beachten die grundlegende Regeln der wissenschaftlichen Qualitätssicherung nicht. Dort kann praktisch jeder veröffentlichen, was er will – ob er Wissenschaftler ist oder nicht, ob die Forschungsergebnisse stimmen und nachvollziehbar sind oder nicht“, heißt es auf der Homepage der ARD-Mediathek. „Desaster für die Wissenschaft“, mit dem sich „sich jede Menge Geld verdienen“ lasse. Darüber berichtet eine Dokumentation von Svea Eckert und Peter Hornung, deren Auflistung beteiligter deutscher Einrichtungen sich wie ein „Who is who“ der Spitzenwissenschaft anhört: Charité Berlin, TU München, Frauenhofer Gesellschaft, RWTH-Aachen …
Svea Eckert / Peter Hornung: Fake Science – Die Lügenmacher, ARD, 23.07.2018, verfügbar in der ARD-Mediathek bis 23.07.2019. Zum Video hier klicken.

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Innerhalb von 70 Jahren sei, berichtet Anja Reich, die Zahl der Chassiden, der Ultraorthodoxen, in Israel von rund 400 auf mehr als 800.000, also inzwischen zehn Prozent der Bevölkerung gestiegen. Diese „verweigern sich […] jeglichen Bürgerpflichten, gehen nicht zur Armee, zahlen keine Steuern und werden zum großen Teil vom Staat finanziert“. Chassidische Rabbis antworteten auf die Frage, „wie es sein könne, dass das auserwählte Volk der Juden in Massen ermordet worden war, warum der Messias das zugelassen habe“, schon mal, „die Schoah-Opfer hätten sich nicht an die Regeln der Thora gehalten, sie seien selber schuld“.
Anja Reich: Amram Lichtenstein: Wie ein ultraorthodoxer Jude seinen Glauben verliert, berliner-zeitung.de, 22.07.18. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Rüstungsausgaben an der Wirtschaftskraft zu orientieren ist die grundsätzlich falsche Zielsetzung“, unterstreicht Herbert Wulf, „auf die sich die Bundesregierung nicht einlassen sollte. Statt jetzt Besserung zu geloben und zu argumentieren, man zahle in Deutschland auch hohe Beiträge für Entwicklungshilfe, die eigentlich zu den Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit dazu gehörten, sollte man sich grundsätzlich nicht auf diesen Fetisch ‚Zwei Prozent‘ einlassen. Die Bundesregierung macht es der US-Regierung mit diesem Tanz um das goldene Kalb einfach, hier einen Streit über Trittbrettfahrerei und Schmarotzertum anzuzetteln. Die US-Regierung unterschlägt bei dem Vergleich der Höhe der Militärausgaben gerne, dass der eigene, wesentlich höhere Haushalt natürlich nicht nur für Aufgaben in der NATO gedacht ist, sondern den globalen Interessen der USA dienen soll.“
Herbert Wulf: Der 2%-Fetisch, Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), 12.07.2018.Zum Volltext hier klicken.

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„Von 2014 bis 2017“, listet Cornelia Mannewitz auf, „wurden an 27 Hochschulen Forschungsaufträge des Bundesministeriums der Verteidigung vergeben, die teilweise einen Umfang von mehr als 1 150 000 Euro hatten – ohne dass der Öffentlichkeit der Verwendungszweck genannt wurde. Die Bundesregierung gibt an, diese Informationen könnten nicht veröffentlicht werden, ‚da sie detaillierte Rückschlüsse auf vorhandene Fähigkeitslücken in Bezug auf Verfahren und Ausrüstung der Bundeswehr‘ zuließen. ‚Aufgrund der damit verbundenen nachteiligen Auswirkungen auf die sicherheitsempfindlichen Belange der Bundeswehr kann dem Wunsch nach einer öffentlich frei zugänglichen Liste mit Forschungsaufträgen des BMVg […] nicht entsprochen werden.‘“
Cornelia Mannewitz: Kriegsforschung, zivil getarnt, neues-deutschland.de, 17.07.2018. Zum Volltext hier klicken.

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Im mexikanischen „Abgeordnetenhaus werden fortan 244 Frauen und 256 Männer sitzen; im Senat 63 Frauen und 65 Männer. Mexikos designierter Präsident Andrés Manuel López Obrador hat zudem bereits die ersten Namen seines Kabinetts bekannt gegeben: Es besteht aus neun Männern und acht Frauen, den traditionell wichtigsten Posten im Kabinett wird Olga Sánchez Cordero als Innenministerin einnehmen.“ Dies teilt Sandra Weiss mit – cum grano salis: „Um den Machismo, das übersteigerte männliche Überlegenheitsgefühl, und die männlichen Seilschaften einzuhegen, bleibt noch viel zu tun.“
Sandra Weiss: Keine halben Sachen. Die Hälfte des mexikanischen Kongresses besteht nun aus Frauen, doch ein Sieg der Gleichberechtigung ist das noch nicht, Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), 18.07.2018. Zum Volltext hier klicken.