Ein afrikanischer Deutscher
Seit Roland Gräfs Adaption von Günter de Bruyns Roman „Märkische Forschungen“ 1982 als Entdeckung der DDR-Filmklubbewegung in Karl-Marx-Stadt mit einem „Findling“ ausgezeichnet wurde, konnte der Preis kontinuierlich vergeben werden – gerade auch, weil der 1990 gegründete Interessenverband Filmkommunikation die „Findlings“-Vergabe weiterführte. Heute ist dabei besonders der regionale Verband von Mecklenburg-Vorpommern aktiv.
Der Preis besteht aus einem vom Güstrower Bildhauer Peter Lewandowski gestalteten Findlingsstein und ist zwar nicht dotiert, aber der ausgezeichnete Film wird auf eine Tournee durch Spielstätten des Landes eingeladen. Immer begleiten Filmemacher ihre Werke. Diesmal ist es die in Oldenburg aufgewachsene Ethnologin Eva Knopf, die mit „Majubs Reise“ ihren Abschlussfilm an der Filmakademie Ludwigsburg vorlegte. Sie erzählt von dem Nubier Majub Mohammed bin Hussein, der als Kindersoldat im Ersten Weltkrieg unter General Lettow-Vorbeck in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, für Deutschland in Afrika kämpfte.
Mit dem anerzogenen Vertrauen in die Kolonialherren reist er 1929 nach Berlin und verlangt im Auswärtigen Amt den ausstehenden Sold für sich und seinen Vater. Er soll ausgewiesen werden, kann aber illegal in Berlin bleiben, wo er schließlich Arbeit als Lehrer für Suaheli und unter dem Namen Mohammed Husen als Kleindarsteller beim Film findet. Filmausschnitte zeigen ihn neben damals bekannten Schauspielern wie Heinz Rühmann, Charlott Daudert oder Otto Wernicke. Eine größere Rolle bekommt er, als Hans Albers den kolonialen Menschenschlächter Carl Peters als deutschen Herrenmenschen spielt. Majub verhält sich jedoch – vielleicht durch den Erfolg leichtsinnig geworden – nicht im Sinne des NS-Regimes, wird denunziert und im KZ Sachsenhausen vierzigjährig umgebracht.
Der Film, der inzwischen auch auf arte gesendet wurde, erhielt den „Findling“ im Herbst auf der dokumentART in Neubrandenburg. Bis 5. Mai kann er in vielen alternativen Spielstätten in Mecklenburg-Vorpommern mit der Filmemacherin Eva Knopf diskutiert werden.
F.-B. Habel
Zu spät
„Elends-Kontinent Afrika – Rettung durch die Weißen?“ Feststellung und Frage in einem, hatte der Spiegel 51/1992 auf seinem Cover sein damaliges Titelthema definiert. „Krieg, Hunger, Aids – eine ununterbrochene Folge von Tragödien sucht Afrika heim, die einzige Region der Welt mit ständig schrumpfender Wirtschaftskraft. In Somalia griffen jetzt die USA militärisch ein, um das Elend notfalls mit Gewalt zu bekämpfen. Kann nur die Rückkehr der Weißen den verlorenen Kontinent retten?“, folgte als erweiterte Fragestellung im Heftinneren. Es ist hier nicht der Platz, all das zu referieren, was der lange und gründlich recherchierte Hauptbeitrag dieses Spiegel-Titelthemas als Antwort auf die gestellte Frage aufgeboten hatte; auch um eine Beurteilung des Inhalts soll es hier nicht gehen.
Vielmehr sei aufmerksam darauf gemacht, dass ein solch publizistisches Fanal in Deutschlands politischem Leitmagazin vor nunmehr 23 Jahren erschienen ist – und dass sich an der damals skizzierten Lage nahezu nichts verändert hat, jedenfalls nicht zum Besseren. Bei aller Akzeptanz der Vielschichtigkeit des Problems, die komplett einseitige Schuldzuweisungen ausschließt, bleibt doch beschämt festzustellen, dass die Erste Welt, die mit ihrem Kolonialismus viel von dem verursacht hat, was der Spiegel damals einen „Schwarzen Holocaust“ nannte, ihr Tun und Lassen seither aber offenen Auges auf die Frage reduziert, wie das afrikanische Elend von Europa ferngehalten werden kann. Fürs „reine“ Gewissen sorgt die karitative Hilfe.
Nicht, dass letzterer nicht ein humanitärer Kodex zugrunde läge – zur Lösung des eigentlichen Problems trägt eine noch so mitleidige Kultur der Nothilfe jedoch nicht bei. Denn die Umstände, die Afrikaner (und auch Menschen aus anderen Regionen) zur Flucht in den vermeintlich (und im Vergleich zu ihren originären Daseinsumständen ja auch wirklich) friedlichen und wohlstandsgeprägten Westen veranlassen oder gar zwingen, bleiben. Und sie werden immer weitere Tausende zu jener Reise der Hoffnung, einer letzten Hoffnung, antreiben.
Dass diese Entschlossenheit nicht einmal durch das bekanntlich tödliche Risiko gemindert wird, welches bereits Zehntausende das Leben gekostet hat, erleben wir nahezu täglich. Ein Szenario, das im damaligen Spiegel bereits vorweggenommen worden war: „Französische Demographen schätzen, daß in den kommenden zwei Jahrzehnten allein aus Nordafrika 30 Millionen Menschen nach Europa drängen werden. ‚Wer die Bürgerkriege überlebt und nicht an Aids dahinsiecht‘, schreibt Afrika-Experte Tetzlaff […], ‚wird keine andere Wahl haben, als in prosperierende Zonen abzuwandern.‘ Um den Ansturm solcher Elendszüge zu verhindern, kann Europa es sich im eigenen Interesse kaum leisten, der afrikanischen Agonie tatenlos zuzusehen. Nur sind statt wirkungsloser Entwicklungshilfe neue Modelle gefragt.“
23 Jahre danach und ein gut halbes Jahrhundert nach Ende des Kolonialismus erntet die Erste Welt nun die Folgen ihrer Untätigkeit und ihrer Fehlentwicklungs-Hilfe mit noch gar nicht hat absehbaren Konsequenzen.
Und keine Hoffnung, nirgends. Zu spät.
Hajo Jasper
Fragestunde
Jedes Mal, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Vorhaben der Mehrheitspolitiker für verfassungswidrig erklärt, nörgeln an der Widrigkeit Beteiligte am Gericht und dessen Möglichkeiten herum, politische Entscheidungen mit rechtlichen Argumenten zu Fall zu bringen. Das deutet sich auch jetzt wieder an, wo das Gericht mit dem Betreuungsgeld befasst ist. Ein Pressekommentar zitiert eine Bundestagsabgeordnete mit den Worten: „Wer schützt eigentlich unsere Politik vor den Verfassungsrichtern?“ Kann man Politiker mit solcher Einstellung zur Gewaltenteilung eigentlich noch Demokraten nennen?
Günter Krone
Schöne neue Arbeitswelt
Richard Sennett, ein amerikanischer Soziologe, hatte bereits vor vielen Jahren in seinem (sehr lesenswerten) Buch „Der flexible Mensch“ darauf aufmerksam gemacht, dass der moderne Arbeitnehmer sein Arbeitsleben nicht mehr „als zusammenhängende Erzählung“ formen kann. Er ist zu ständiger Flexibilität aufgefordert. Jahrelange Erfahrungen, Fertigkeiten, Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb von Unternehmen oder anderen Institutionen, auf die der Arbeitnehmer einmal stolz war, sind inzwischen „entwertet“. Fortschritte und Rückschritte im Berufsleben sind nicht mehr zu spüren, die Orientierung fehlt. Der Gedanke „was will ich und wo will ich hin, wird zum Luxus. Stattdessen muss man schauen, was gerade im Angebot ist, und muss drauf springen“, erklärte er kürzlich in einem Interview mit der Berliner Zeitung. Der scheinbar positiven Entwicklung der Arbeitsmarktzahlen begegnet er mit der Frage nach der Qualität der Arbeit. Viele Menschen hätten zwei oder drei schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs, mit denen sie sich durchschlagen. Nach Sennet ist es eben kein Luxus, sondern ein Grundbedürfnis, eine Arbeit zu haben, in der man kompetent ist und die gewürdigt wird.
Ich musste an Sennett denken, als in den Nachrichten über die computerbeherrschte neue Industriewelt berichtet wurde. Roboter anstelle von Arbeitern. Die Berichterstatter fragten nicht, was denn aus all den freigesetzten Arbeitern werden würde. Richard Sennett sagt zu solchen Entwicklungen: „Ich glaube, wir haben eine Wahl. Man kann Technologien benutzen oder man kann es auch sein lassen.“ Er fordert einen dringenden Mentalitätswechsel – man müsse nicht alles mitmachen, nur weil es möglich ist.
Wie zur Bestätigung erschien nun ein Bericht von Jonas Rest und Eva Roth in der Berliner Zeitung, der zeigt, dass prekäre Anstellungen wie Minijobs, Zeitarbeit, immer kurzfristigere Verträge noch lange nicht das Ende der Fahnenstange des neoliberalen Wirtschaftens sind. Ein „digitales Proletariat“ ist für das Internet entstanden. Weltweit Millionen Menschen arbeiten im Netz für kleinste Entlohnung; Stundenlöhne von 1,29 Euro wurden als Durchschnitt errechnet. Sogenannte Klick-Jobber texten Produktbeschreibungen, sortieren Produkte nach Kategorien, recherchieren Preise oder füllen Texte mit Schlüsselwörtern, um diese bei Google-Suchergebnissen nach oben zu pushen. „Crowdsourcing“ nennt man das – menschliche Arbeitskraft auf Knopfdruck. Der Chef einer US-Web-Plattform schwärmt: „Bevor es das Internet gab, wäre es schwierig gewesen, jemanden zu finden, der zehn Minuten für dich arbeitet und den du danach wieder rauswirfst.“
Die Klick-Jobber haben häufig nicht einmal das Recht darauf, für getane Arbeit bezahlt zu werden. Die Bezahlung kann bei einigen sogar ohne Begründung abgelehnt werden. Diese Art der Beschäftigung wächst rasant. Und es sind nicht mehr nur Internetfirmen, die damit arbeiten wollen. Ein Arbeitsrechtler spricht davon, dass diese Crowd-Plattformen das Potential haben, das Normalarbeitsverhältnisse in weiten Teilen der Wirtschaft hinwegzufegen.
Schlussfolgerung der Autoren des Beitrages: „Es wäre eine radikal andere Arbeitswelt: Eine, in der Menschen wie Computer genutzt werden, die man nach Bedarf ein- und ausschalten kann.“
Margit van Ham
LTI
Blättchen-Autor Horst Möller machte uns darauf aufmerksam, dass Johann Chapoutot in seinem Buch „Der Nationalsozialismus und die Antike“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014, auf Seite 381 folgendes Zitat aus Goebbels‘ Tagebüchern, hier datiert auf den 2. März 1943, anführt: „Vor allem in der Judenfrage sind wir ja so festgelegt, daß es für uns gar kein Entrinnen mehr gibt. Und das ist auch gut so. (Hervorhebung – H.M.) Eine Bewegung und ein Volk, die die Brücken hinter sich abgebrochen haben, kämpfen erfahrungsgemäß viel vorbehaltloser als die, die noch eine Rückzugsmöglichkeit besitzen.“
Nun steht Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, um es ganz klar zu sagen, weit jenseits jeglichen Verdachtes eines laxen Umgangs mit der Sprache des Dritten Reiches. Aber man kann, wie das Beispiel zeigt, wirklich nicht vorsichtig genug sein.
Alfons Markuske
Der Poeten neue Kleider
Die schwer angesagte und offenkundig immer zukunftsträchtigere Mischung aus Infantilismus und Hedonismus ist längst dabei, alles, was dereinst als Grenze galt (etwa des Sinnvollen oder nur des guten Geschmacks) mitleidlos nieder zu reißen. Zumindest in einer Hinsicht scheint aber nun doch eine ultimative Demarkationslinie erreicht. Nach Londoner Vorbild finden jetzt auch in Berlin so genannte Poetry Slams statt, bei denen die Interpreten eigener oder fremder Texte diese nackt darbieten – voll coooool, keine Frage! Nur eben nicht mehr steigerungsfähig, denn noch weniger als seine Haut vermag ein „Künstler“ halt nicht zu Markte tragen. Wobei: Die jungen Literaten könnten sich beim Texte lesen freilich auch noch flagellantisch geißeln wie Hardcore-Schiiten in Persien oder ans Kreuz nageln lassen wie analoge Christen, beim Umblättern könnte insbesondere in letzterem Falle ja durchaus jemand helfen. Oder die Poeten kopulierten während ihres Auftrittes, was zumindest zu verständnisfördernd atemloser Spannung führen könnte. Trotzdem: Mehr als nackig geht nicht; das Ende der Geschichte ist vielleicht doch näher, als wir denken.
Helge Jürgs
Heldentäter
Wer sich in globaler Verantwortung sonnt,
führt schon mal Kriege, allerdings nicht an der Front.
Bei den Personen, die nach Feindberührung
tot sind oder unter Traumata leiden,
war bisher keiner von der höheren Führung,
kein Minister, kein Abgeordneter, kein General,
weil diese nämlich allemal
im Wissen, im Krieg ist der Tod nicht zu vermeiden,
ihm tollkühn in das Auge blicken
und dann andere in ihn schicken.
Günter Krone
Aus anderen Quellen
„Was ist Putin?“, fragt Tony Wood und gelangt am Ende seiner Betrachtung zu dem Fazit: „Auf die Frage, was das System Putin zusammenhält, geben viele Beobachter eine naheliegende Antwort: Es sei Putin selbst – dank einer Kombination von autoritärem Charisma, Ölexporten, nationalistischer Demagogie, Manipulation der Medien und Wahlbetrug. Eine andere Antwort lautet, einer kriminellen, vorwiegend aus dem KGB rekrutierten Elite sei es gelungen, den Staatsapparat zu erobern und die Bevölkerung für ihren antidemokratischen Kurs zu gewinnen. Aber da wird ein Symptom fälschlich zu einer tieferen Ursache erklärt. Der Putinismus ist kein korruptes, diktatorisches System, das einer hilflosen Bevölkerung aufgezwungen wurde. Er ist vielmehr in die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Gegebenheiten des modernen Russlands eingebettet und wird von diesen ebenso geformt, wie er umgekehrt das heutige Russland formt.“
Tony Wood: Was ist Putin?, Le Monde diplomatique, 10.4.2015. Zum Volltext hier klicken.
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Der Kapitalismus sei zum Untergang verdammt, schreibt Ulrike Herrmann. Er benötige Wachstum, aber in einer endlichen Welt könne es unendliches Wachstum nicht geben. Und: „Viele Kritiker glauben, es sei nur eine Frage des moralischen Willens, auf Wachstum zu verzichten und den Kapitalismus abzuschaffen. Oder sie halten es für ein politisches Problem der realen Herrschaftsverhältnisse, dass die ökologische Kreislaufwirtschaft sich noch immer nicht durchsetzt. Tatsächlich sind es aber rein ökonomische Gründe, die einen Übergang in ein neues System so schwierig oder gar unmöglich machen.“ Diesen Gründen geht die Autorin im Detail nach und endset mit einem wenig tröstlichen Ausblick: „Wie man den Kapitalismus transformieren kann, ohne dass er chaotisch zusammenbricht – dies muss erst noch erforscht werden.“
Ulrike Herrmann: Über das Ende des Kapitalismus, Le Monde diplomatique, 10.4.2015. Zum Volltext hier klicken.
Schlagwörter: Afrika, Alfons Markuske, Arbeitswelt, Bundesverfassungsgericht, Demokratie, Eva Knopf, F.-B. Habel, Goebbels, Günter Krone, Hajo Jasper, Helge Jürgs, Horst Möller, Kapitalismus, Kindersoldaten, Klaus Wowereit, LTI, Majub Mohammed bin Hussein, Margit van Ham, Poetry Slam, Putinismus, Russland