25. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2022

Bemerkungen

Mai-Impressionen

Der Kopf war gefüllt mit Kriegsnachrichten und freute sich, in eine friedliche Gartenidylle mit Frühlingsgrün samt Froschquaken entfliehen zu können. Am 7. und 8. Mai öffneten zahlreiche Brandenburger Gärten zum „Tag des offenen Ateliers“. In Groß Dölln/Uckermark stellte der „Schrott“-Künstler Siegfried Haase neue und schon bekannte Werke aus. Aktuelle Themen und immerwährende Lebensfragen werden künstlerisch hinterfragt, ironisch, humorvoll, manchmal sarkastisch – Nachdenken, das auch Freude bereitet, Lachen bringt. … Ein grüner Garten und Lachen – ein Ort des Friedens, den viele Besucher genau so empfinden und genießen.

Da steht auf einem Sockel ein „Denkmal für einen unbekannten Einfaltspinsel“ – gekrönt von einem alten Rasierpinsel. Was für eine Idee … Mein Lachen wird gebrochen durch eine Skulptur, in der ein Mensch (ein Schrottgebilde natürlich) den gesamten Kopf in eine Felsöffnung steckt. Unterschrift „Auf der Suche nach Stille“. Das widerspiegelt wohl nicht nur meine gegenwärtige Stimmungslage. Ohne Worte ist eine weitere Skulptur. Zwei große Steinköpfe reden auf einen kleinen Menschen zwischen ihnen ein, der sich die Ohren zuhält – Lärm unserer Medienwelt. „Der Pazifist“ zeigt einen angriffswütigen Stier, der die Hörner auf einen Flötisten richtet … Ja, das ist eine Frage, die bewegt und für mich schwer zu beantworten ist. An anderer Stelle Ikarus vor seinem Flug: „Ikarus zweifelt noch“ …

„Das Narrenschiff“ ist vor einigen Jahren entstanden und immer noch hochaktuell. Alle Religionen sind auf dem Vorderschiff mit Symbolen vertreten, hinten lenkt das Geld (beziehungsweise dessen Besitzer). Entspannung bei einer Skulptur, die mit Mühe eine Metallfeder spannt. „Immer unter Spannung“ heißt der Untertitel. Und ein Hammer liegt herum, er ist von vielen Nägeln festgehalten und durchnagelt – „Du schlägst keinen mehr von uns!“. Auch das Corona-Virus treibt sein bildhaftes Unwesen – ein Mensch drückt gegen eine ihn einschließende Glasglocke. Oh ja, so isoliert haben wir uns empfunden – „Der Mensch und das Virus“.

Im Garten grüßt zahlreiches Getier, und immer wieder ist der sich quälende Sisyphos als Sinnbild des Menschen zu finden – umgeformte Forken, Harken, Werkzeuge aller Art regen die Phantasie der Besucher an. Ein Fahrrad hängt im Baum und scheint Karussell zu fahren. Eine stilisierte Kuh grüßt mit „Kuh-bismus“. Ergänzt wird diese Ausstellung von gedrechselten Naturholzprodukten von Werner van Ham. Hier werden schöne Holzoberflächen ausgiebig gestreichelt, Maserungen bewundert. Ein haptischer Genuss.

Im Garten Lachen, Schauen. Bewundern der Blumen- und Sträucherpracht, Natur und Kunst passen zueinander. Diskussionen an den Tischen, die zur Erholung einladen. Der Krieg findet in den Gesprächen seinen Weg in den Frieden des Gartens. Eine Freundin spielt mir am Abend ein Lied von Reinhard May und Freunden vor: „Nein, meine Söhne geb ich nicht“ klingt es aus dem Handylautsprecher – und berührt zutiefst.

Margit van Ham

Zitiert: Wolfgang Borchert

„Es sind zuviel Tote in der Luft. Die haben keinen Platz. Die reden dann nachts und suchen ein Herz. Darum schläft man nicht, weil die Toten nachts nicht schlafen. Es sind zu viele. Besonders nachts. Nachts reden sie, wenn es ganz still ist. Nachts sind sie da, wenn das andere alles weg ist. Nachts haben sie dann Stimmen. Darum schläft man so schlecht.“

Aus „Stimmen sind da – in der Luft – in der Nacht“, 1946 (Wolfgang Borchert/Das Gesamtwerk, Rowohlt Verlag).

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„Eine Stimme ist da am Fenster wie von einem Amokläufer, panisch, atemlos, gehetzt, übertrieben, erregt. ‚Siehst Du das nicht? Siehst Du nicht, daß wir ausgeliefert sind. Ausgeliefert an das Ferne, an das Unaussprechliche, an das Ungewisse, das Dunkle? Fühlst Du nicht, daß wir ausgeliefert sind an das Gelächter, an die Trauer und die Tränen, an das Gebrüll. Du, das ist furchtbar, wenn das Gelächter in uns aufstößt und schwillt, das Gelächter über uns selbst. Wenn wir an den Gräbern unserer Väter und Freunde und unserer Frauen stehen und das Gelächter steht auf. Das Gelächter in der Welt, das den Schmerz belauert. Das Gelächter, das die Trauer anfällt, in uns, wenn wir weinen. Und wir sind ihm ausgeliefert.’“

Aus „Gespräch über den Dächern“ (Wolfgang Borchert/Das Gesamtwerk, Rowohlt Verlag).

Jeder kann ein Mörder sein

Hélène (Gabriele Streichhahn) und Clarissa (Gundula Köster) langweilen sich entsetzlich. Zudem regnet es. Beide sind Schwestern und scheinen lebenslang zu gemeinsamem Sofaaufenthalt verurteilt. Wenn Clarissa nicht gerade kocht – mit merkwürdig scheinenden Fleischbeigaben – vertreiben sie sich die Zeit mit Kartenlegen und Kreuzworträtseln. Die stehen gewöhnlich in Zeitungen. In der Zeitung steht aber auch, dass in der Nachbarschaft eine Frau mit unbekanntem Ziel so mir nichts-dir nichts verschwand. Immerhin weiß man, dass sie tangorote Unterwäsche trug. „Eine Frau, die tangorote Unterwäsche trägt, kann nur als Leiche enden“, meint Hélène. Und prompt erscheint Inspektor Spingeot (Carl Martin Spengler), ermittelt zielgerichtet bei beiden Schwestern, weigert sich vom Ragout zu essen und erringt die Oberhoheit über das Telefon … Tangorote Unterwäsche taucht auch noch auf.

Jack Jaquines skurrile Geschichte „Ein Mords-Sonntag“ kommt so verwirrend daher, dass am Ende tatsächlich nur noch der Hieb durch den gordischen Knoten zu helfen scheint. Den Hieb aber, den … Nein, das verkneife ich mir. Ich verderbe Ihnen sonst das höllisch kriminelle Vergnügen zu erleben, wie sich die drei Schauspielenden – wie man heute sagen muss – einen bösartig giftigen Ball nach dem anderen zuwerfen. Gekonnt in Szene gesetzt hat das Ganze Annette Klare. Ein Stück über die verderblichen Folgen von Langeweile, das alles andere als langweilig ist!

Wolfgang Brauer

Theater im Palais, Am Festungsgraben 1, 10117 Berlin; wieder am 2. und 3. Juni 2022.

Musikalische Meister der Melancholie

Das Doppelalbum „Past Imperfect“ enthält eine Werkschau der vor dreißig Jahren gegründeten britischen Musikgruppe Tindersticks.

Diese Band um den Sänger und Gitarristen Stuart Staples beherrscht die Klaviatur des Emotionalen und Melodramatischen – die nasale Baritonstimme des Bandchefs und der kammermusikalische Stil fügen sich perfekt.

Sie dürfen sich daher zurecht als Meister der Melancholie betiteln. Dies lässt sich in ihrer „Best of“-Zusammenstellung, die (ins Deutsche übersetzt) mit dem Begriff „unvollkommene Vergangenheit“ kokettiert, auch gut heraushören.

Eine Bandanekdote besagt, dass Stuart Staples bei einem Griechenlandurlaub auf einer Streichholzschachtel den Bandnamen entdeckte. „Tindersticks“ werden mit Zunderstangen übersetzt.

Die Liedtexte handeln von Stadtmüdigkeit (der Opener „City Sickness“ stammt ursprünglich vom Debütalbum der Band), von äußeren und inneren Landschaften sowie von schwermütigen Seelenzuständen.

Zwei persönliche Anspieltipps: „Travelling Light“ (ein Gesangsduett mit der begnadeten Musikerin Carla Torgerson) und „Both Sides of the Blade“ (dieses Lied wurde für den französischen Kinofilm „Avec Amour et Acharnement“ geschrieben, der im Februar bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet worden ist).

Die orchestralen Arrangements vieler Songs verstärkte den typischen Tinderstick-Sound nochmals deutlich. Wogen des Weltschmerzes umspülen das Haupt der Zuhörer.

Mögen die melancholischen Zunderstangen noch lange brennen …

Thomas Rüger

Tindersticks – Past Imperfect (Best of 92 – 21), Label: City Slang, 2022, DoCD, 20,00 Euro.

AUF DEM LANDE

von Germain Nouveau (1851–1920)

Die Liebe wird entstehen,
Wenn blau und hell die Nächte,
Und weil es Sonntag, möchte
Man gerne tanzen gehen.

Bleich lässt der Mond sich sehen;
Ob Hans an Käse dächte?
Die wie ein Engel schlechte
Musik: nicht zu verschmähen!

Mazurkas habt ihr Noten
Entflittert dargeboten
Beim Reigen um Heustiegen.

Uns scheint, seit Jahren hätte
Man zu seinem Vergnügen
Kein Gänschen mehr im Bette.

Übersetzt von Frank Stückemann (2021)

Aus anderen Quellen

„Allein die Tatsache, dass solche Szenarien“, wie ein Einsatz taktischer Atomwaffen im Rahmen des Ukraine-Krieges, so Leo Ensel, „mittlerweile ernsthaft in Erwägung gezogen werden, ist in höchstem Maße alarmierend und sollte eigentlich, wie vor 40 Jahren zu Nachrüstungszeiten, die Menschen aller europäischen Staaten zu Hundertausenden auf die Straße treiben. Der Skandal besteht nicht nur darin, dass nichts dergleichen geschieht. Er wird noch dadurch überboten, dass in Politik und Medien mediokre Gestalten mit großem Mundwerk, durchschnittlichem Verstand, erschreckend wenig Verantwortungsbewusstsein und einem völligen Ausfall an Phantasie die Gefahr auf das Kriminellste bagatellisieren, im Worst Case gar noch anheizen.“

Leo Ensel: „Mut? – Phantasielosigkeit!“ Über den hasardeurhaften Umgang mit der Atomkriegsgefahr, russlandkontrovers.com, 16.05.2022. Zum Volltext hier klicken.

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Zu Finnlands Streben in die NATO vermerkt Bernd Murawski: „Angesichts der Unkenntnis US-amerikanischer Absichten und Ziele ist der Glaube verbreitet, dass Washington aus reinem Idealismus und uneigennützig das demokratische Finnland vor dem autokratischen Russland schützen möchte. Was die USA ihrerseits von Finnland erwarten könnten, wird nicht einmal erwogen. Daher ist verständlich, dass in der gesamten Scheindebatte über einen NATO-Beitritt der Schwerpunkt auf den Artikel fünf gelegt wird, wonach der Angriff auf einen Mitgliedsstaat als gegen das gesamte Verteidigungsbündnis gerichtet verstanden würde. […] Doch auch hier offenbart sich Naivität. Es wird verkannt, dass der Artikel fünf seine Bedeutung verliert, wenn die USA nach einer Lagebeurteilung zu dem Schluss kommen, dass ein militärischer Einsatz zugunsten Finnlands gravierende Folgen für sie selbst hätte.“

Bernd Murawski: Hintergründe des finnischen Drängens in die NATO, rtde.live, 15.05.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Putin hat ‚eine neue europäische Sicherheitsarchitektur‘ zu einem Schimpfwort gemacht, zu einem Begriff der Kapitulation, wie der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky regelmäßig behauptet“, schreibt Anne-Marie Slaughter, ehemals Planungsstabschefin im US-Außenministerium unter Hillary Clinton, und fährt fort: „Aber Europa wird niemals wirklich friedlich sein, wenn es nicht die osteuropäischen Nationen, einschließlich Russlands, in seine Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen integriert.“

Anne-Marie Slaughter: Expanding Nato will deepen east-west fissure, ft.com, 06.05.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Inzwischen“, so vermerkt Eckart Leiser, „gibt es eine offizielle Liste russischer Verbrechen, die von Politikern und Medien am laufenden Band heruntergebetet werden: Georgien, Syrien, Krim, Donbass und jetzt der Angriff auf die Ukraine. Man reibt sich die Augen: Georgien, was war denn da nur? Grabungen im Gedächtnis ergeben: Der georgische Präsident Saakaschwili hatte am 8. August 2008 Südossetien angegriffen, das sich zu diesem Zeitpunkt nach vielen Konflikten mit Georgien einer faktischen und von Russland geschützten Autonomie erfreute. Erst nach dieser gewaltsamen Veränderung des status quo griff Russland militärisch ein und stoppte die georgische Offensive. Eine eigenartige Definition von ‚Angriffskrieg‘ oder besser gesagt: eine plumpe Geschichtsfälschung.“

Eckart Leiser: Die mentalen Verwüstungen der Russophobie, nachdenkseiten.de, 18.05.2022. Zum Volltext hier klicken.