22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

Bemerkungen

Vera Friedländer ist gegangen

Bereits am 25. Oktober starb in Berlin die Schriftstellerin und Germanistin Vera Friedländer. Als 15-Jährige stand Vera Friedländer im Winter 1943 mit ihrem Vater vor der Gestapo-Sammelstelle in der Berliner Rosenstraße, um ihre im Rahmen der „Fabrik-Aktion“ festgenommene Mutter frei zu bekommen. Nach der Befreiung vom Faschismus studierte sie Germanistik und war arbeitete ab 1960 an der Humbodt-Universität – ab Mitte der 1970er Jahre lehrte sie auch einige Zeit in Warschau. Nach 1990 war Vera Fiedländer hauptsächlich in der ehrenamtlichen Geschichtsarbeit aktiv und engagierte sich publizistisch intensiv gegen das zunehmende Vergessenwollen der nazistischen Untaten in unserem Lande. Gegen die Reinwaschungsversuche der deutschen Wirtschaft von Schuld und Mittäterschaft richtete sich auch ihr letztes Buch „Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander“ (2016). Am 5. Dezember werden in Berlin-Kaulsdorf zwei Stolpersteine für Maria und Carl Hotze verlegt. Vera Friedländer – sie begleitete das Stolperstein-Projekt seit vielen Jahren mit großer Leidenschaft – hätte diese Verlegung besonders gefreut. Das Ehepaar Hotze half Verfolgten, sich vor dem Zugriff der Faschisten zu verbergen. Maria Hotze bezahlte ihre Widerstandsarbeit im KZ Ravensbrück mit dem Leben. Diese Geschichte kann man in Michael Degens Autobiografie „Nicht alle waren Mörder“ nachlesen. Mit Vera Friedländer ging eine der letzten Zeuginnen dieser mörderischen Zeit. Das Blättchen war und ist ihr tief verbunden. Wir empfinden ihr Vermächtnis als Auftrag.

Wolfgang Brauer

Die Partei und das Rechthaben

Der bedeutende Lyriker Wulf Kirsten meinte zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, dass er kein Gesellschaftssystem kenne, in dem eine Partei immer Recht habe. Dies sagte er mit Blick auf Louis Fürnberg (1909–1957), der seine drei letzten Lebensjahre in Weimar verbrachte. Weltanschaulich habe er mit Fürnberg einige Differenzen. Zugleich aber hob Kirsten anlässlich des 100. Fürnberg-Geburtstages dessen Erzähltexte „Die Begegnung in Weimar“ und die „Mozaert-Novelle“ heraus und würdigte den deutsch-böhmischen Lyriker: Die Gedichte auf seine Heimat, seine Liebesgedichte sowie Verse auf den Herbst – Fürnbergs Jahreszeit. Das Lied „Alt wie ein Baum“ kennt im Osten jeder – durch die „Puhdys“. Diese Verszeile schrieb Fürnberg. Den Klang von „Du hast ja ein Ziel vor den Augen“ hat noch mancher im Ohr. Text und Musik schuf derselbe Künstler.
Fürnberg schrieb 1949 das Lied „Die Partei“. Er ahnte, seine Frau wusste, dass ihm dieser Text schaden könnte. Die nach der Wende oft polemisch zitierte Zeile „Die Partei hat immer Recht“ war letztlich ein „Todschlagargument“ gegen das vielfältige Werk des Poeten. Man kann das Lied schwerlich lieben, man muss es auch nicht „retten“, aber man sollte um den Kontext wissen: Der in einer jüdische Familie Geborene, Antifaschist und Kommunist kam 1946 mit großen Hoffnungen in sein geliebtes Prag zurück. Infolge des Krieges spürte er bald, dass er als deutschsprechender Bürger und Poet kaum mehr geschätzt wurde. Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei lud ihn 1949 erstmals nicht zu ihrem Parteitag ein. Dies traf ihn tief, stürzte ihn in eine Krise, die er, sich selbst disziplinierend, lyrisch und musikalisch zu überwinden versuchte. Paul Dessau schuf später eine Marschmusikversion, die zur inoffiziellen Hymne der SED mutierte. Zu Dessaus Bearbeitung hat sich Fürnberg niemals geäußert.
Fürnbergs Parteiergebenheit ist nur aus den zeitgeschichtlichen Zwängen nachvollziehbar: Das Jahr 1939 verbrachte der Poet in 13 Gefängnissen und Folterkammern, in denen man den musikalisch Hochbegabten mit Büchern bewarf und sein Gehör schwer schädigte.
Wir sollten uns erinnern, wie schwer es viele Bildhauer, Maler, Schauspieler und Schriftsteller nach der Wende – unter völlig anderen Bedingungen– hatten und haben. Noch komplizierter ist es, dafür Sorge zu tragen, dass Autoren wie Brecht, Seghers, Arnold Zweig, Louis Fürnberg und andere einen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis behalten. Christa Wolf, die nach dem Umbruch die ganze Wucht des deutsch-deutschen Literaturstreits auszuhalten hatte, vergaß nicht, dem väterlichen Freund in ihrem letzten Roman „Stadt der Engel“ ein literarisches Denkmal zu setzen. Louis Fürnberg war es, der die junge Autorin für ein großes Talent hielt und sie zum Weiterschreiben ermutigte …

Ulrich Kaufmann

Film ab

Eine verbreitete Sottise besagt, dass zum Berufe des Kritikers Menschen neigen, bei denen es zu eigener künstlerischen Kreativität nicht langt. Doch für dieses Phänomen sollte man unter dem Strich dankbar sein, denn es erspart einem vermutlich Hekatomben grottenschlechter Bücher, Stücke, Filme et cetera. Da letztere trotzdem Jahr für Jahr überreichlich auf den Markt kommen, ist wohl eher zu beklagen, dass allzu viele sich berufen Glaubende leider die falsche Wahl getroffen haben …
Doch auch die richtige ist natürlich keine Gewähr für treffliche, kompetente Kritiken. Wenn es dem Besprecher nämlich an was auch immer gebricht, dann wird etwa „Lara“ von Jan-Ole Gerster mit einer überragenden Corinna Harfouch folgendermaßen charakterisiert: Der Film folge der „pensionierten Beamtin Lara Jenkins von morgens bis abends durch ihren 60. Geburtstag. Gleich in der ersten Szene scheint sie sich aus dem Fenster stürzen zu wollen, doch dann fällt ihr ein, dass es noch ein paar Menschen gibt, denen sie das Leben schwer machen könnte. Zum Beispiel ihrem Sohn Viktor (Tom Schilling) […]. Wie sie ihn vor einem Konzert, bei dem er eigene Kompositionen aufführen will, völlig verunsichert, wie sie bei ihm im richtigen Moment die richtigen Tasten drückt, das ist ein großes, düsteres Vergnügen.“ (Der Spiegel)
Was erwartet man nach solchen Diktum.
Eine vergnügliche Klamotte?
Oder allenfalls einen Psychothriller?
Doch der Film ist ein dicht komponiertes und inszeniertes Kammerspiel über die lebenslange, nachgerade pathologische Misanthropie dieser Lara Jenkins. Mit zum Teil gravierenden Kollateralschäden für jene Menschen, die in ihr Gravitationsfeld geraten, zu allererst für den eigenen Sohn. Und mit einer zusätzlichen Tragik oder schicksalhaften Ironie für die Protagonistin, die in der viel zu späten Erkenntnis besteht, ihren Weg von einer völlig falschen Prämisse aus eingeschlagen zu haben.
Auf dem Niveau der zitierten Kritik würde man Letzteres vielleicht – je nach Veranlagung – mit verhaltener Schadenfreude oder offener Häme quittieren.
Mir aber bleibt nur ein „Mein Gott – welche Vergeudung!“

Clemens Fischer

Lara: Regie Jan Ole-Gerster, derzeit in den Kinos.

Lebendige Locken

Eindringliche Texte, aber nicht agitatorisch, beschwingte Rhythmen, aber nicht zudröhnend, das ist im Telegrammstil das künstlerische Schaffen der beiden Allgäuer Künstlerinnen Inka Kuchler und Irene Schindele. Die beiden Liedermacherinnen ergänzen sich beziehungsweise kontrastieren gut mit ihren stimmlichen Organen: die eine als Rockröhre, die andere als lyrischer Mezzosopran. In ihrem Äußeren zeigen sie eine augenfällige Gemeinsamkeit mit ihrer Lockenpracht auf den Köpfen. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass sie als „Vivid Curls“ – also lebendige Locken – firmieren. Auch mit ihrem achten Album „…nicht müde werden!“ zeigen sie sich als kritische Zeitgeister. Im Titelsong heißt es:
„Wir dürfen nicht müde werden in dieser Zeit des Missverstehens / Dürfen nicht müde werden, Polemik als solche zu sehen / Wir dürfen nicht müde werden Menschlichkeit zu verbreiten / Und dürfen nicht müde werden unsere Herzen zu weiten.“
Mit kitschfreiem Pathos ergreifen sie Partei für die eigenen Kinder, aber auch für die jungen Menschen, die freitags für eine klimafreundliche Zukunft sich engagieren. Der Refrain des Songs „Freitagsdemo“ lautet:
„Ihr seid mächtig, wenn ihr zusammensteht / Zeigt auf, dass es ums große Ganze geht / Ihr könnt verändern, Ihr könnt bewegen / Es ist eure Zukunft, es ist euer Leben.“
Man mag sie als Töchter von Simon & Garfunkel oder von Hannes Wader und Konstantin Wecker ansehen, wie es kürzlich eine schwäbische Zeitung auf den Punkt bringen wollte. Aber man sollte die beiden Musikerinnen und ihre beeindruckende Begleitband nicht aus einer gönnerhaften Männerbrille heraus betrachten. Vivid Curls haben es mit ihrer Mischung aus fein- und tiefsinnigen Texten sowie beschwingten Folktönen verdient, über ihre süddeutsche Heimat hinaus an Resonanz zu gewinnen. Also „Restdeutschland“ hergehört … oder wie die beiden singen: „Es lohnt sich offen zu sein, die Arme weit, den Blick unverstellt …“

Thomas Rüger

Vivid Curls: „…nicht müde werden!“, CD, Klko Audio 2019, 15,00 Euro.

„zeitnah“ – Das Blabla der Wischiwaschi-Zeitgenossen

Cunctadoren („Zögerer“) sind weiter verbreitet als der heute aus dem toten Latein stammende Begriff vermuten läßt; trotz ähnlicher Lautung sind sie das absolute Gegenteil von Matadoren,die bekanntlich an den Stier rangehen. Cunctadoren dagegen sind feige und fliehen den Stier, wobei ihr Stier alle Institutionen und Personen sind, die unverschämterweise irgendetwas von ihnen wollen: eine Auskunft, eine Antwort, einen Termin oder eben, bitteschön, endlich irgendeine Entscheidung. Festlegungen aber scheuen sie wie der Teufel das Weihwasser unter taktischer Nutzung des polybrauchbaren „zeitnah“! Hinter diesem inzwischen inflationär verwendeten Wörtchen lässt sich vieles verbergen: Dummheit, Faulheit, Falschheit, Verlegenheit, Oberflächlichkeit, Vergesslichkeit, Unentschiedenheit, sicher auch mitunter Machtgelüste oder auch subtiler Sadismus.
Wir aber fragen uns natürlich: Was heißt das eigentlich, dieses zeitnah? Da stellen wir uns mal ganz dumm wie der Lehrer Bömmel im unsterblichen Film „Die Feuerzangenbowle“, der die Dampf-Maschine seinen Sextanern so erklärt: „Wat is’ne Dampfmaschin’? Da stelle ma uns mal janz dumm, und sagen, en Dampfmaschin’ iss ne jroße, runde, schwarze Raum mit zwei Löchern. Durch das eine kommt der Dampf rein, un das andere krieje ma späta.“
Für uns zeitnahe, also zeitgemäß geschildert heißt das für Frage: Was kommt aus dem großen, runden, schwarzen Raum bei zeitnah heraus? Eben nichts. Absolut nichts, nada, nothing! Begriffe wie bald, alsbald, baldigst, schnellstmöglich, rasch und so weiter sind in Merkeldeutsch ebenso aus dem Sprachschatz verschwunden wie Pflicht, Achtung und Ehre! Dagegen ist zeitnah das perfekte Wort für die Beliebig- und Belanglosigkeit unserer Gesellschaft geworden. Politiker lieben zeitnah besonders, weil es so gebildet klingt und zu nichts verpflichtet. Ein Politiker soll es auch gewesen sein, der das Modewort erfunden haben soll, nämlich der Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen, der die Parlamentarier mit dem Satz vertröstet haben soll: „Die Entscheidung wird zeitnah erfolgen!“
Seitdem hat die Nutzung von zeitnah im Privat- wie Geschäftsleben und nicht zuletzt im Professorendeutsch kometenhaft zugenommen. Ausgerechnet die Absatzwirtschaft, deren Leser sicher gerne mit zeitnah operieren, wollte es zum „Unwort der Kundenkommunikation“ küren mit der schönen Begründung: „Es gibt Situationen, da will niemand sagen, ‚wann‘ genau etwas passiert. Wann wird der Antrag bearbeitet? Wann wird das Gerät geliefert? ‚Zeitnah‘ ist die scheinbar immer passende Antwort auf derart lästige Fragen.“
Christoph Moss, Professor für Kommunikation und Marketing an der International School of Management in Dortmund, meinte sogar, hätte Günter Schabowski in der berühmten Berliner Pressekonferenz vom 9. November 1989 zur geplanten Öffnung der Grenzen statt „sofort, unverzüglich“ zeitnah gesagt, wäre womöglich alles ganz anders und die DDR noch einmal „aus dem Schneider“ gekommen. Wie gut, dass er diese damals schon im Kapitalismus grassierende Vokabel noch nicht kannte.

Jürgen Brauerhoch

Aus anderen Quellen

„Millimeter für Millimeter, Zentimeter für Zentimeter bewegt die Welt sich auf eine Lage zu, in der der Respekt vor Atomwaffen schwindet“, konstatiert Torsten Krauel und fährt fort: „Sei es deshalb, weil inzwischen zu viele Länder solche Waffen haben und die Atomrüstung normal erscheint. Sei es deshalb, weil weltweit eine Politiker-Generation ans Ruder gekommen ist, die nicht einmal aus der Kindheit Erinnerungen an einen Weltkrieg hat. Oder sei es deshalb, weil nun auch die Generation derer abtritt, die oberirdische Atomwaffentests miterlebt haben, bevor sie 1963 verboten wurden.“
Torsten Krauel: Der Donner, der sich jeder Beschreibung entzieht, welt.de, 20.10.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„Auch ich habe lange an dem Bild dieses sogenannten doppelten Russland festgehalten“, sagt Reinhard Krumm. „Aber inzwischen denke ich, dass diese Gegenüberstellung nicht mehr ausreichend das Verhältnis analysiert. Wie kann man erklären, dass in den beiden identitätsstiftenden Kriegen, also dem russisch-französischen Krieg im 19. Jahrhundert und dem russisch-deutschen Krieg im 20. Jahrhundert, die Bürgerinnen und Bürger ihr Land so heldenhaft verteidigten?“
Claudia Detsch: Der russische Traum (Interview mit Reinhard Krumm), ipg-journal.de, 07.10.2019. Zum Volltext hier klicken.

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Am 21. Oktober 2019 meldete der Pressedienst des Deutschen Bundestags „Die Fraktion Die Linke macht sich für einen Abzug der US-Armee aus Deutschland stark“. Mit Datum vom 26. September 2019 hatte die Kampagne „NATO raus – raus aus der NATO“ an die Bundesregierung und alle Bundestagsabgeordneten per Briefpost einen Appell gerichtet, den Truppenstationierungsvertrag und die Mitgliedschaft in der NATO zu kündigen. Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann analysieren die Reaktionen der Angesprochenen.
Anneliese Fikentscher / Andreas Neumann: NATO raus!, rubikon.news, 06.11.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Glaubwürdigkeit des neoliberalen Vertrauens in beschränkungsfreie Märkte als sichersten Weg zu gemeinsamem Wohlstand liegt dieser Tage auf der Intensivstation. Und das zu Recht“, schreibt Joseph E. Stiglitz, US-amerikanischer Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften, und merkt an: „Der gleichzeitige Schwund des Vertrauens in Neoliberalismus und Demokratie ist kein Zufall oder bloße Korrelation. Der Neoliberalismus hat die Demokratie 40 Jahre lang untergraben.“
Joseph E. Stiglitz: Sechs, setzen, ipg-journal.de, 13.11.2019. Zum Volltext hier klicken.

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„Die neue Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ist, so sagt sie, bereit für eine zupackende Außenpolitik“, hielt Heribert Prantl fest, „für neue Bundeswehreinsätze in Afrika und Asien, für mehr deutsche Soldaten in aller Welt, für eine militärische deutsche Führungsrolle in der Welt. AKK ist bereit – aber das Grundgesetz ist es nicht. Das Grundgesetz hat mit dem, was AKK will, nichts zu tun.“
Heribert Prantl: Prantls politischer Wochenblick, sueddeutsche.de, 17.11.2019. Zum Volltext hier klicken.