26. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2023

Bemerkungen

Kalender, Kalender, Kalender – 2024

 

Der Sonnenstand hat auf der Nordhalbkugel seinen Höhepunkt überschritten. Der Sommer neigt sich langsam seinem Ende zu. In wenigen Wochen werden in den Supermärkten die ersten Weihnachtsartikel in die Regale geräumt. Es ist also höchste Zeit, das kommende Jahr in den Blick zu nehmen.

Was uns dabei treu und doch jährlich aufs Neue begleitet sind Kalender in mannigfaltiger Art. Heutzutage nutzen wir sie oft – auch ich – in elektronischer Form, also bereits auf Jahre voraus abrufbar. Eigentlich schade, denn wer hat sich nicht auf den nächsten motivierenden Kalenderspruch des guten alten Abreißkalenders gefreut? Mein erster Kalender war der Pionierkalender vom Kinderbuchverlag der DDR, längst perdu.

Vor mir liegen drei empfehlenswerte, weil unterhaltsame Kalender, die schon optisch eine Augenweide sind. Alle haben eine Spiralbindung.

Den ersten kenne ich seit Studentenzeiten. Es ist der Literaturkalender des Aufbau Verlags. Er erscheint inzwischen im 57. Jahrgang. Relativ wenig hat sich über die Zeiten an seiner Form geändert. Etwas größer als DIN A4, für jede Woche ein gestaltetes Blatt über eine literarisch bedeutsame Person mit Foto und begleitendem Text. Für jeden interessierten Betrachter sind angenehme Entdeckungen garantiert, Erinnerungen werden geweckt. Für fast jeden Kalendertag sind zehn Geburts- oder Todestage von Literaten aus allen Zeiten und Ländern verzeichnet. Neben der verständlichen Ausnahme des 29. Februar mit drei Daten erscheint der 21. August als der unliterarischste Tag des Jahres – lediglich fünf Daten. Über das Jahr verteilt summieren sie sich auf mehr als 3000 Angaben.

Der zweite Kalender ist ein sogenannter Tischquerkalender, der als Pendant mit etwa 1000 Einträgen wegen des geringeren Platzes zwar nicht mithalten kann. Aber er ist als ein praktisches Gegenstück von den gleichen Herausgebern und im gleichen Verlag erschienen und inzwischen schon im 18. Jahrgang. In ihm sind die gleichen Literatenfotos wie im größeren Literaturkalender zu finden. Sie werden nun aber jeweils kombiniert mit einem treffenden Zitat. Außerdem bietet der Aufbau Literatur Wochenplaner zusätzlich Ferientermine, Tages- und Jahresübersichten, gut handhabbar.

Den dritten Kalender gibt Dirk von Petersdorff im Verlag C.H. Beck heraus, 40. Jahrgang und im Format DIN A4. Der Herausgeber ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ein Kenner der Lyrik. Aber das ist noch nicht alles. Er steht auch „auf der anderen Seite der Barrikade“. Denn gleichzeitig ist er neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit selbst Literaturschaffender, vor allem Lyriker mit mehreren Bänden eigener Gedichte. Der Gedichtekalender enthält 24 Gedichte, eins für einen halben Monat, profund gewählt aus der deutschen Literatur vom Mittelalter bis heute, und als Bonus kommt ein poetisches Titelblattgedicht hinzu.

Der Eigenwerbung des Verlages kann ich nur zustimmen: „Ein Gedicht mag zur hohen Literatur gehören oder ein einfaches Lied sein; es mag klassisch oder modern, gereimt oder ganz frei, ernst oder spielerisch daherkommen; es mag jedem Kind zugänglich sein oder zum längeren Nachdenken führen – egal: Es muss ein gutes Gedicht sein. Und es soll etwas bewirken: Trost, Aufheiterung oder kritische Wachheit, Lachen oder Weinen. Nicht jedes Gedicht bei allen Lesern, aber jedes bei vielen. So möge der Kalender auch durch das Jahr 2024 begleiten.“ Und es sind gute Gedichte: Von Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch bis hin zu Theodor Storm, um nur eine willkürliche Auswahl zu nennen. Eine jeweils stimmige einfache Grafik imaginiert die Gedichte treffend auf den Kalenderblättern.

Die Idee dieser drei Kalender ist es, jeden Tag eine literarische Freude zu bereiten. Getreu einer Sentenz von Friedrich Nietzsche: „Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könnte.“

Jürgen Hauschke

Thomas Böhm und Catrin Polojachow (Hrsg.): Aufbau Literatur Kalender 2024, Aufbau Verlag, Berlin 2023, 56 Seiten, 24,00 Euro.
Thomas Böhm und Catrin Polojachow (Hrsg.): Aufbau Literatur Wochenplaner 2024, Aufbau Verlag, Berlin 2023, 125 Seiten, 14,00 Euro.
Dirk von Petersdorff (Hrsg.): Gedichtekalender 2024, Verlag C.H.Beck, München 2023, 28 Seiten, 20,00 Euro

 

Zwölf auf ein Dutzend bei Kurt Tucholsky

 

Wer auf andre Leute wirken will, der muß erst einmal in ihrer Sprache mit ihnen Reden.

 

Man achte immer auf Qualität. Ein Sarg zum Beispiel muß fürs Leben halten.

 

Man soll sich seiner Albernheit nicht schämen –

 

[…] es gibt ein Mittel, ein einziges, im Schachspiel unbesiegt zu bleiben. Spiele nicht Schach.

 

[…] nichts ist gefährlicher, als den Partner zu niedrig einzuschätzen – auf diese Weise sollen schon Kriege verloren gegangen sein.

 

Die Seele jeder Ordnung ist ein großer Papierkorb.

 

Das schönste vom Sonntag ist der Sonnabend Abend.

 

Ob man die Wahrheit sagt oder nicht: sie besteht.

 

Kulanz ist immer ein gutes Geschäft.

 

– Schimpfen ist eine Lebensnotwendigkeit wie Atmen.

 

Welch geschwätzige Wortarmut!

 

Lieber arm und reich, als jung und alt.

jühau

Diese und viele andere des Nachdenkens werte Zitate, auch längere, sind nachzulesen in: Lebenslust mit Kurt Tucholsky. Ausgewählt von Christine M. Kaiser. Insel Verlag, Berlin 2023, 119 Seiten, 10,00 Euro.

 

Habels Gabel

 

Du warst Schüler des vormaligen Berlinischen Gymnasiums „Graues Kloster“- schlank und bescheiden und jüngstes Mitglied der von Fritz Decho geleiteten kabarettistischen Sprechergruppe des „Theaters im 12. Stock“ am Alexanderplatz, als ich Dich vor rund 50 Jahren kennenlernte, lieber FB (Habel). Ich ahnte damals nicht, welche Bühnen- und Schriftstellerpersönlichkeit sich da quasi von der Wandtafel weg entwickeln sollte. Das passierte erst später, aber dafür energisch und vielseitig und fand schließlich Erfüllung in Deinen wissenschaftlichen, theaterpraktischen und literarischen Leistungen, die in anderthalb Dutzend film- und fernsehhistorischen Büchern gipfeln sollten, darunter solche über Gojko Mitić, Dean Reed, Armin Mueller-Stahl und jüngst Curt Bois. Dass Du Dir als vielseitigem TV-Klein-Darsteller in Deinem „Großen Lexikon der DDR-Stars“ nicht von selbst einen Platz zwischen Cox Habbema und Matthias Habich freigehalten hast, verwunderte mich allerdings. Später gab es „Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme“ in zwei Bänden, von Dir liebevoll „meine Zwillinge“ genannt. Sie werden erstaunlicherweise im Herbst in erweiterter Übersetzung in Japan erscheinen! Nach dem Bestseller über „Die Olsenbande“ hast Du auch über „Ekel Alfred“ von Wolfgang Menge ein viel gelesenes Buch geschrieben, und als Du es im Zimmertheater Karlshorst inszeniert hast, fühlte ich mich durchaus geehrt, von Dir für die Hauptrolle ausgesucht zu werden.

Gemeinsam standen wir im ersten Jahrgang an der Wiege des Blättchens, und während ich mich dem anderen Weltbühnen-Nachfolger zuwandte, hast Du besonders in den ersten zwei Blättchen-Jahrzehnten in 20 von jeweils 26 Jahrgangs-Ausgaben Deine Beiträge platziert. Wahrscheinlich hat das kein Leser wirklich gemerkt, denn im Sinne von Kurt Tucholsky, seit Grauen-Kloster-Zeiten ein Vorbild von Dir, hast Du nicht nur als F.-B. Habel geschrieben, sondern Dir ein paar Pseudonyme ausgedacht. Anfangs war nur ich in der Tucholsky-Gesellschaft, habe Dich schnell dafür rekrutiert, und heute bist Du als mein Nach-Nachfolger Erster Vorsitzender dieser (meist) ehrwürdigen literarischen Gesellschaft.

Anlässlich Deines deutlich heraneilenden 70. Geburtstages sei bedankt, dass Du der heiteren Muse immer einen wichtigen Platz im Leben eingeräumt hast, seien es Programme über Heinz Erhardt, Christian Morgenstern (von dem Du das Gedicht über „Habels Gabel“ stets eindrucksvoll zu Gehör bringst) oder wie aktuell über meinen Greizer Landsmann Hansgeorg Stengel in Rheinsberg zum 20. Todestag. Auch Comic und Karikatur hast Du sozusagen mit Deiner Gabel aufgespießt. Die Abrafaxe haben es Dir gedankt, indem sie Dich an ihren Tisch einluden. Und in einem US-Buch wirst Du dieser Tage etwas über Walt Disney und die DDR zu sagen haben – zwei Themen, die eigentlich nicht zusammenpassen. Aber Du schaffst es!

Noch viel von FB zu hören und zu lesen wünscht sich der fast zwei Jahrzehnte ältere

Wolfgang Helfritsch.

Jahrhundertzeugin Tilla

 

In erster Ehe war sie mit einem Maler verheiratet, in der zweiten mit dem Galeristen Paul Cassirer. Da scheint es selbstverständlich, dass Tilla Durieux von vielen Künstlern porträtiert wurde. Vielleicht war sie keine herkömmliche Schönheit, hatte aber „das gewisse Etwas“. Ihre Ausstrahlung war es, die Maler und Bildhauer in ihren Bann zog. Hinzu kam, dass der Star von Max Reinhardts Deutschem Theater noch in der Kaiserzeit sowohl durch ihre moderne Rollenauffassung als auch ihr Privatleben ständig im Gespräch war.

Hier ist nicht der Platz, den ungewöhnlichen Lebensweg der Künstlerin nachzuzeichnen. Christoph Hein hat 2012 im Deutschen Theater das biografische Monologstück „Tilla“ mit Inge Keller herausgebracht, das im Blättchen 24/2012 ausführlich besprochen wurde und ihre Bedeutung reflektierte.

Die Durieux (1880-1971) war in Skizzen, Gemälden und Skulpturen eine der meistporträtierten Frauen ihrer Zeit. Neben ihrem ersten Mann Eugen Spiro waren es zum Beispiel Franz von Stuck, Emil Orlik, Lovis Corinth, Oskar Kokoschka, Max Slevogt, Auguste Renoir und immer wieder Ernst Barlach, die Bildwerke der Durieux schufen. Namhafte Fotografen wie Emil Bieber, Alexander Binder und Eva Kemlein porträtierten sie. Auffallend ist, dass nicht nur Rollendarstellungen darunter waren, sondern viele Gemälde Studien mit Titeln wie „Dame mit Hund“ (Spiro) oder „Buchleser“ (Barlach) vertreten sind, die der Durieux eindeutig zugeordnet werden können.

Möglich wurde die umfangreiche Werkschau, die auch viele Werke aus Privatbesitz zusammengeführt hat, durch die Zusammenarbeit des Wiener Leopold Museums und des Georg Kolbe Museums in Berlin, wo die Ausstellung in wenigen Tagen endet. Man sollte sie sich nicht entgehen lassen, kann man doch hier die Durieux in einer Fernsehaufzeichnung in ihrem großen Altersmonolog „Langusten“ sehen. Autor Fred Denger schrieb ein Ein-Personen-Stück über eine alte Frau, die an ihrem Geburtstag ihr Leben rekapituliert, was der Durieux noch einmal Gelegenheit gab, ihre große Bandbreite zu zeigen und mit ihrer einzigartigen Ausstrahlung zu füllen. Mit diesem Stück gastierte sie in der Bundesrepublik landauf, landab, aber auch im Künstlerklub „Die Möwe“ in Ostberlin war sie damit aufgetreten. Die Beziehung der Remigrantin zur DDR ist in der Ausstellung unterrepräsentiert, nur ein Foto zeigt sie bei der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Deutschen Theaters 1970. Damals unterschrieb sie einen DEFA-Vertrag über die Rolle des jüdischen Familienoberhaupts Marta Klein in „Die Bilder des Zeugen Schattmann“. Der Tod kam zuvor, aber Regisseur Kurt Jung-Alsen bewahrte den Vertrag auf. Hätte man ihm vielleicht auf die Spur kommen können?

Wer es nicht mehr ins Kolbe-Museum schafft, dem sei der umfangreiche und gut ausgestattete Katalog empfohlen, der mit Bildern, Fotos und Dokumenten manche Entdeckung bereithält.

F.-B. Habel

Tilla Durieux. Eine Jahrhundertzeugin und ihre Rollen, Georg Kolbe Museum bis 20. August 2023.

 

Daniela Gregori, Hans-Peter Wipplinger (Hrsg,):Tilla Durieux. Eine Jahrhundertzeugin und ihre Rollen. Katalog zur Ausstellung, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Bonn 2023, 300 Seiten, 34,90 Euro.

 

Kleine Museen – Das Römermuseum Bedaium

 

Bis zum Jahre 15 vor unserer Zeit hatten die Römer unter Drusus („Germanicus“) und Tiberius das Gebiet nördlich der Alpen bis zur Donau erobert und dem Imperium einverleibt. Das ganze Gallien? Nein. Einen kleinen Zipfel im Osten zwischen Raetien und Pannonien nicht. Das keltische Königreich Noricum ging erst unter Kaiser Claudius (41-54) im Bestand des Reiches auf. In dessen westlichem Teil, der Gegend zwischen Inn und Chiemsee, siedelten die Alaunen.

Wir wissen recht wenig über sie. Die schriftlichen Quellen halten sich bedeckt. Desto reicher sprudeln die archäologischen Befunde. Jede Baugrube kann in dieser Gegend zum Bauhherren nervenden Glücksfall der Archäologen mutieren. Einiges davon kann auf dem 27 Kilometer langen „Archäologischen Rundweg Seebruck-Seeon-Truchtlaching“ entdeckt werden. Viele Funde sind im Römermuseum der Gemeinde Seebruck am Chiemsee zu bewundern. Dass ausgerechnet Seebruck ein solches Museum besitzt, ist kein Zufall. Der Ort liegt am Beginn der Alz, dem Abfluss des Chiemsees Richtung Inn. Die Alz wurde schon in keltisch-römischer Zeit von einer Brücke überquert, die der wichtigen Handels- und Militärstraße zwischen Iuvavum (Salzburg) und Augusta Vindelicum (Augsburg) diente. Beiderseits dieser Brücke entstand spätestens im Jahr 40 unserer Zeit eine Handwerker- und Kaufmannssiedlung, die nach dem keltischen Wassergott Bedaius – manche halten ihn für eine Verkörperung des Chiemsees – benannt wurde. Dessen Tempel bekrönte die Siedlung nachweisbar bis 246, dann wurden er und die Siedlung möglicherweise von plündernden Alamannen zerstört. Auf seinen Grundmauern errichteten römische Legionen später einen burgus, eine Festung, die bis in das Fünfte Jahrhundert hinein den Alz-Übergang sicherte. Bedaium kann also auf rund 500 Jahre Siedlungskontinuität verweisen und entwickelte ein spannendes kelto-romanisches Amalgam.

Das kleine Museum Seebrucks konzentriert sich auf das Alltagsleben der Bewohner Bedaiums. Das ist sicher auch der Fundsituation geschuldet. Die Museumsausstellung beginnt natürlich mit den Funden der Latènezeit, konzentriert sich aber auf Leben, Arbeiten und Sterben der Bewohner Bedaiums. Ein aufmerksamer Besucher kann so manche Entdeckung machen, die ihm in den „großen“ Museen nur schwer möglich ist. Womit säuberte man sich im Ersten Jahrhundert beim Besuch eines Bades? Von der strigilis, einem eisernen Schaber, blieb uns noch das Verb „striegeln“. Die Bäckerei G. Kotter aus Traunstein hat sich die Mühe gemacht, vom Panis Romanus (der römischen Weizensemmel) bis zum Jupiterbrot die seinerzeit gängigen römischen Brotsorten – eine erstaunliche Vielfalt! – nachzubacken. Jupiterbrot war das Hochzeitsbrot, das vom Brautpaar vor zehn Zeugen auseinandergebrochen werden musste. Eine Variante des gezeigten keltischen Knaufgebäcks hat sich bis heute im hiesigen Allerseelengebäck erhalten. Das nennt man kulturelle Kontinuität! Und worin bestand eigentlich die Grundausstattung einer römischen Küche? Die Vorliebe der Bedaier Kelto-Romanen, verstorbenen Kindern Spielzeug mit ins Grab zu geben, ermöglicht in Seebruck einen faszinierenden Einblick in die römische Spielzeugindustrie.

Überhaupt Kinder: Das Museum bietet ein ambitioniertes, sehr vielfältiges museumspädagogisches Programm. Neben den Vitrinen für die „Großen“ gibt es in jeder Abteilung der Dauerausstellung Vitrinen für die „Kleinen“, die Lust aufs Entdecken von Geschichte machen.

Alfred Askanius 

Römermuseum Bedaium. Museum für die keltisch-römische Vergangenheit des Chiemgaus, Römerstraße 3, 83358 Seebruck. Weiteres im Internet.

Wird fortgesetzt.

 

Konzert eines Magiers, dem der Bassist abhanden kam …

 

Gil Scott-Heron darf sicherlich als musikalischer Magier bezeichnet werden, auch wenn ihm seine künstlerischen Fähigkeiten nicht davor bewahrten, dass ihm im April 1983 kurz vor einem Konzert in Bremen der Bassist abhanden kam.

Sein Vater, der als erster schwarzer Fußballspieler beim legendären schottischen Verein Celtic Glasgow reüssieren sollte, brachte ihm Lesen und Klavierspielen bei.

Doch nach der elterlichen Trennung verbrachte Gil seine Kindheit bei seiner Großmutter in Tennessee. Die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren, gerade in den Südstaaten der USA, von einem starken Rassismus geprägt, der auch dem kleinen Gil stark zusetzte. Erst als er nach New York zu seiner Mutter, einer Bibliothekarin, zog, konnte er sich von den rassistischen Zwängen etwas befreien.

Seine künstlerische Karriere startete er als Autor. Mehr und mehr wechselte er dann aber ins musikalische Metier. Eine Melange aus Jazz, Blues und Soul sowie sein markanter Sprechgesang verschafften ihm schnell einen Kultstatus in den New Yorker Clubs.

Die Texte seiner Songs zeichnen sich durch deutlich sozialkritische Inhalte ab. Sein wohl größter Hit „The Bottle“ handelt von Flaschensammlern in Geldnot wie auch von Alkohol- und weiteren Drogenproblemen. Dieses Lied ist auch in einer 15-minütigen Version auf der Doppel-CD „Legend in his own mind“ enthalten, die ein Konzert von Gil Scott-Heron mit seiner kongenialen Begleitband „The Amnesia Express“ in Bremen 1983 dokumentiert.

Gil Scott-Heron erweist sich nicht nur als bezaubernder Musiker, sondern auch als begnadeter Entertainer. In den Intros geht er in Interaktion mit dem Publikum, erklärt den Inhalt der Musikstücke und erzählt auch, wie seiner Band im Vorfeld des Konzerts der Bassist abhanden kam: Robert Gordon verpasste schlicht und ergreifend am Vortag den Flug von London nach Bremen. Der Gitarrist Ed Brady wurde daher kurzerhand zum Bassisten. Die ursprüngliche Reihenfolge der Songs wurde unversehens abgeändert und Gil startete mit drei solo dargebrachten Liedern.

Im Booklet betont Gils Sohn Rumal Rackley, dass dieses Konzert den musikalischen “Spirit” seines Vaters festhält.

Und die Begleitband funktioniert auch mit einem Ersatz-Bassisten!

Thomas Rüger

Gil Scott-Heron & His Amnesia Express: Legend in his own Mind, Label MIG, 2023, CD, 20,00 Euro.

 

Aus anderen Quellen

 

Zum Thema Künstliche Intelligenz meint J.R. Dunn: „In letzter Zeit wurde viel darüber spekuliert, ob diese Systeme den Menschen in bestimmten Bereichen verdrängen werden. Die Antwort ist nein – noch nicht, und wahrscheinlich auch nie.“ Und weiter schreibt Dunn, „dass bewusste Intelligenz eine neu entstandene Eigenschaft ist, die sich aus Elementen ergibt, die wir heute kaum in Begriffe fassen, geschweige denn verstehen können. Und wenn wir sie nicht verstehen können, ist es unwahrscheinlich, dass wir in der Lage sind, sie auf Siliziumchips zu übertragen.

J.R. Dunn: Artificial Intelligence – The Facts, americanthinker.com, 11.07.2023. Zur deutschen Übersetzung hier klicken.

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Manchmal hilft ein Blick von außen. Eric Gujer, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, diagnostiziert: „In der deutschen Politik gärt es. Der Höhenflug der AfD ist dafür nur ein Symptom, die eigentliche Ursache liegt woanders. Die Bürger sind der Mischung aus Verboten und moralischen Forderungen überdrüssig, die zunehmend ihr Leben bestimmt. Die Gesellschaft mutiert zur Erziehungsanstalt, die ihren Insassen beibringt, welches Auto sie fahren, welche Heizung sie benutzen und wie sie korrekt sprechen sollen. Eine Mehrheit der Deutschen lehnt die Abschaltung der restlichen Atomkraftwerke genauso ab wie das erzwungene Aus für den Verbrennungsmotor und für fossile Heizungen. Sie möchten auch nicht mit Gendersprache behelligt werden.“

Eric Gujer: Der andere Blick, nzz.ch, o.D. Zum Volltext hier klicken.

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Der Ukraine-Krieg wird in der Partei Die Linke nach wie vor kontrovers diskutiert. Eine Gruppe um Wolfgang Gehrcke, Norman Paech und Blättchen-Autor Achim Wahl publizierte ein „Plädoyer für die Beibehaltung eines kühlen Kopfs bei brennenden Themen“ und vermerkte unter anderem: „Es war der Westen, der unmittelbar nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation Krieg wieder zu einem ‚normalen Mittel‘ der internationalen Politik gemacht hat. Russland folgt dem nun, mit über zwanzigjährigem Abstand […] Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine kann nur als offener Bruch des Völkerrechts qualifiziert werden, als Versuch, Krieg ‚als Werkzeug nationaler Politik‘ zu benutzen. Es gibt jedoch kein ‚Recht auf Gleichbehandlung im Unrecht‘. Die Lügen und Verbrechen der USA entlasten Putins Russland in keiner Weise.“ Jan van Aken hält dagegen: „Das Hauptziel des Papiers scheint es zu sein, jeglichen differenzierten Blick auf den Russland-Ukraine-Krieg als Kriegstreiberei zu diffamieren. Immer wieder werden Pappkameraden aufgebaut, um sich dann an ihnen abzuarbeiten. Mit der Realität hat das mitunter wenig zu tun, Belege gibt es auch nicht.“

Detlef Bimboes et al.: Plädoyer für die Beibehaltung eines kühlen Kopfs bei brennenden Themen, rosalux.de, 17.07.2023. Zum Volltext hier klicken.

Jan van Aken: Replik auf ein Papier aus dem „Gesprächskreis Friedens- und Sicherheitspolitik“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung, rosalux.de, 21.07.2023. Zum Volltext hier klicken.

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„Propaganda“, so der Historiker Christian Hardinghaus, „orientiert sich nicht an Himmelsrichtungen. Man kann sagen, sie weht von überall her. Ich verstehe aber, worauf Sie hinauswollen. Menschen neigen dazu, Propaganda immer nur dort zu verorten, wo sie selbst nicht stehen. Das ist schon ein Erfolg der Propaganda an sich, die verschleiert, dass sie überhaupt von den Mächtigen des jeweiligen Staates, der Partei oder Ideologie ausgeht, der man sich zugehörig fühlt. Überall da, wo Medien Menschen erreichen können, wird sich Propaganda den schnellstmöglichen Weg zu ihnen suchen, um sie nach ihren Vorgaben zu manipulieren.

Ramon Schack: Christian Hardinghaus – Auch ukrainische Propaganda gelangt ungefiltert in unsere Medien, berliner-zeitung.de, 30.06.2023. Zum Volltext hier klicken.

Zusammengetragen von Wolfgang Schwarz.

Letzte Meldung

 

Es war einmal: „Noch in den Fünfzigerjahren war die halbe Bundesrepublik in der katholischen Kirche und der 1911 gegründete ADAC etwa so groß wie Bottrop.“

Und heute? „Es geht der katholischen Kirche nicht gut, so viel ist klar. Sie verliert Mitglieder, seit Jahren. Welche Rolle spielt sie noch in dieser Gesellschaft? Nicht gefühlt, sondern amtlich, statistisch. Was wäre da ein guter Vergleich? Der Nabu? Nein, auf einen Naturschützer kommen immer noch 23 Katholiken. Die CDU? 54-mal mehr Menschen in der Kirche. Offenbar müssen wir größer denken. Der DFB? Die Kirche ist immer noch dreimal so groß. Aber dann: der ADAC! Da wird es knapp. 21,4 Millionen Mitglieder stehen 20,9 Millionen gegenüber. Es stellt sich heraus: Der Allgemeine Deutsche Automobil-Club hat die katholische Kirche gerade überholt, Ende Juni war das. Das heißt: In Deutschland ist es jetzt normaler, im ADAC zu sein, als in der katholischen Kirche.“

DIE ZEIT, 32/2023