15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

Tilla Durieux wiederauferstanden

von F.-B. Habel

Ich höre in der „Jungfrau von Orleans“, wie die Dürjöh mit den
Füßchen aufstampft, weil sie nicht alle Rollen zugleich
spielen kann.

Ignaz Wrobel, Schaubühne, Nr. 39/1913

„Tout Berlin“ kannte sie, alle fanden sie aufregend – in positiver wie in negativer Hinsicht. Die Wienerin Tilla Durieux (1880-1971) kam 1903 zu ihrem Landsmann Max Reinhardt nach Berlin und entwickelte sich in den wenigen Jahren ihrer Zusammenarbeit zu einer Theater-Primadonna, deren Ruhm Jahrzehnte währte. Gemeinsam entwickelten sie ein zeitgemäßes, realistischeres Theater – weg vom Pathos des 19. Jahrhunderts. Als einer der ersten erkannte es Herbert Ihering (der ihr Bewunderer blieb und in den sechziger Jahren eine bemerkenswerte LITERA-LP mit ihr und Rolf Ludwig aufnahm). Er schrieb in der Schaubühne 26-27/1910, dass „das Gegenwartsbewußtsein der Durieux, das mit jeder Fiber Zeugnis ablegt von der Frau unsrer Tage, von solcher Intensität ist, daß es ohne Mühe das Gestern in das Heute hinüberreißt. Die Tragödin ist tot.“ Ein Jahr, bevor die Schauspielerin Reinhardt wieder verließ, resümierte Ihering: „Wir haben Tilla Durieux wie in körperloser Gehobenheit von der Erde wegstreben sehen.Wir sahen sie, niedergezogen, ihre müden Glieder schleppen wie eine mühselige Last. Wir sahen ihre adelige Schlankheit zusammengekauert und katzengleich hochschnellen. Wir sahen sie hochaufgerichtet in unnahbarer Majestät schreiten. Wir erlebten, wie sie Schillers blasses Pathos durch ein Linienspiel schwebender Bewegungen in farbigere Reiche hob.“
Die Durieux war Reinhardts Salome und Klytemnestra, war die Milford und Titania, Eboli … Einen besonderen Erfolg hatte sie in Shaws „Der Arzt am Scheideweg“. Schaubühnen-Autor Willi Handl (1872-1920) schwärmte in Nr. 48/1908: „Tilla Durieux trägt diese Schönheit wie eine Leuchte durch das Stück. In den edel bewegten Linien, im Wehen der farbigen Gewänder, in ihrem seltsam beseelten Alt leben Elemente hoher künstlerischer Form; hier schließen sie in freiem, leichten Spiel zu schöner Vollkommenheit zusammen. Wie diese Frau schön ist, schön geht, schön lächelt, schön spricht, glaubt man ohne Weiteres auch an die Schönheit ihrer Seele …“
Doch die Sympathie war immer auch geteilt. Nicht alle glaubten der Seelenschönheit, manche Autoren, wie Schaubühnen-Herausgeber Siegfried Jacobsohn (1881-1926) fanden die Durieux oberflächlich und maniriert. Über ihre Hedda Gabler schrieb S.J. in der Schaubühne 42/1912: „Diese Hedda ist hauptsächlich darum verfehlt, weil die Durieux spielt – und mit welchem Aufwand spielt! – wo sie nur zu sein brauchte. (…) Sie plantscht die schauspielerischen Moden von 1890, 1900 und leider auch 1880 zusammen. Sie bringt kleine natürliche Züge so unauffällig an, die es früher in diesem Haus (dem Lessingtheater, fbh.) künstlerische Sitte war. Daneben übt sie eine, ach du lieber Himmel, zeichnerische Schauspielkunst, die wirklich reif geworden ist, der Impotenz vererbt zu werden.“ Kurt Tucholsky nennt die Durieux gar eine „Friseur-Circe“ und nimmt sie nur zum Anlass für allgemeinere Betrachtungen: „Ich schiebe die Schauspielerin beiseite – sie interessiert mich nicht.“ (Schaubühne 7/1914)
Vielleicht lag diese Ablehnung auch darin begründet, dass die Durieux der Klatschpresse, die schon damals nach Sensatiönchen hungerte, wiederholt Futter bot. Sie hatte sehr jung den Maler Eugen Spiro (1874-1972) geheiratet, lernte durch ihn aber den einflussreichen Kunsthändler Paul Cassirer (1871-1926) kennen, dessen Geliebte sie zunächst wurde. Die Presse unterstellte, dass „die Cassirerin“ den wohlhabenden Mann ausnehmen wollte. Um seine gutbürgerliche Familie zu düpieren, heiratete Cassirer die „Dame vom fahrenden Volk“ 1910. Seiner unbedingten, nicht nachlassenden, auch selbstsüchtigen Liebe war Tilla Durieux nach anderthalb Ehejahrzehnten nicht mehr gewachsen. Als sie die Scheidung eingereicht hatte, erschoss sich Cassirer in einem Nebenraum der Kanzlei, in der er seine Unterschrift unter die Scheidungspapiere setzen sollte. Die Durieux wurde zur Witwe Cassirer, und der Boulevard hatte wieder seine Schlagzeilen.
All das liegt ein Menschenleben und mehr zurück und kann die Wirkung Tilla Durieux´ nur andeuten. Wir können es nicht überprüfen. Sie hat damals kaum gefilmt, und wir müssen dankbar sein, dass sich Kritiker damals so leidenschaftlich ihren Betrachtungen hingaben. Man sollte die Fakten aber im Hinterkopf haben, wenn es jetzt Jahrzehnte nach ihrem Tod eine Durieux-Uraufführung gibt. „Tilla“ heißt das Stück, und Christoph Hein hat sich der Frau angenommen, die Revolutionäre wie Rosa Luxemburg, Toller und Mühsam unterstützte, die sich als Antifaschistin in Zagreb Partisanen anschloss, die auch nach Rückkehr in die Wirtschaftswunder-Bundesrepublik der fünfziger Jahre einen Drall nach links nicht verhehlen konnte. (Als Neunzigjährige nahm sie die Ehrenmitgliedschaft des Deutschen Theaters an und unterzeichnete noch einen DEFA-Vertrag.)
Christoph Hein hat „Tilla“ gemeinsam mit „Jannings“ als Doppelstück über zwei exemplarische Schauspielerpersönlichkeiten am Ende ihres Lebens konzipiert. (Das könnte einen sehr langen Abend bei Castorf ergeben.) Der Tucholsky-Freund und spätere Nazi-Mitläufer Emil Jannings (1884-1950) wird zur Zeit seines von den Alliierten verhängten Auftrittsverbots am Wolfgangsee geschildert. Jörg Jannings, der Neffe des Künstlers, hat daraus schon 2004 ein beachtliches Hörspiel mit Rolf Hoppe und Dagmar Manzel gemacht. „Tilla“ gibt nun unter Regie von Gabriele Heinz den Anlass dafür, dass ein jüngeres Ehrenmitglied des Deutschen Theaters, das hier viele Durieux-Rollen vom Anfang des Jahrhunderts in den fünfziger und sechziger Jahren spielte, anlässlich des 60. Bühnenjubiläums auf die Bühne zurückkehrt. Inge Keller, ein Monument einer vergangenen Epoche, ist höchst lebendig und kann die Durieux, die sie noch erlebt hat, wiederauferstehen lassen – obwohl sie nicht die singende österreichische Sprachfärbung des Vorbilds hat: ein Berliner „Nee!“ rutscht ihr schon mal heraus und wirkt sympathisch. Bernd Stempel assistiert als guter Geist, Ausdruckstänzer, Gitarrenbegleiter und vor allem als Paul Cassirer. Denn das ist der Aspekt in Tillas Leben, der Christoph Hein am meisten interessierte. Wie verlief die sonderbare, von Besessenheit geprägte Ehe der beiden Individualisten? „Der Künstler ist ein Exhibitionist aus Demut vor der Wahrheit“, hat die Durieux einmal gesagt. Hier lässt sie der Autor nun ein paar intime Details nebst schöner Anekdoten ausbreiten. In Abschweifungen erzählt Tilla kurz von Reinhardt, von Renoir, der sie malte, von ihren anderen beiden Ehemännern, von der Arbeit im Puppentheater in Zagreb. Die Keller findet immer wieder Anlässe zu neuen ironischen Nuancen, die sie, den Text zum Teil ablesend, auskostet, und das Publikum genießt es. So wie die Keller sie zeigt, könnte Tilla Durieux gewesen sein. Aber der Autor schafft es nicht, ihr Wesen wirklich zu treffen. Tilla ist bei ihm eine selbstbewusste und selbstironische alte Dame, die viel erlebt hat. Die vielen tragischen Seiten, die dieses Leben hatte, bleibt er schuldig. Inge Keller macht es zum Teil wieder wett, und von einer „Friseur-Circe“ ist in den Kammerspielen des Deutschen Theaters keine Spur.