25. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2022

Bemerkungen

Die Queen ist tot

Die 96jährige Elizabeth Windsor, Königin von Britannien, Nordirland und weiteren 15 Ländern des Commonwealth ist am Donnerstag sanft entschlafen, umgeben von ihrer oft zerstrittenen, aber in Trauer vereinten Familie. Dass die Anstrengung, zwei Tage vorher Treffen mit dem Gauner Boris Johnson und seiner Tory-Nachfolgerin Liz Truss absolvieren zu müssen der schon lange kränkelnden, aber diensteifrigen Monarchin den Rest gegeben haben, ist sicher nur ein böses Gerücht.

Wer siebzig Jahre regiert und nur einmal beim Volk angeeckt hat, verdient Beifall. Nach dem Autotod der Lady Diana Spencer 1997 erntete die Queen ernsthafte, aber kurzfristige Kritik, sonst blieben ihr die devoten Mützenabzieher des Landes treu. Dass eine erbliche Monarchie einem gewählten Staatsoberhaupt vorzuziehen sei, glauben noch immer 62 Prozent der britischen Untertanen, nur 16 Prozent – aber immerhin 31 Prozent der 18-bis 24jährigen – sind Republikaner. Auch diese kritisieren die Queen nicht, nur die Institution an sich. Die BBC schmeißt ihre Programmplanung um, Zeitungen erscheinen schwarzumrandet mit seitenlangen Huldigungen, auch an den neuen König Charles III. – Charles I wurde geköpft, sein Nachfolger zehn Jahre lang ins Exil getrieben; ein ähnliches Schicksal droht dem 73-jährigen Charles Windsor nicht.

Doch trotz der abgesagten Streiks bei Bahn und Post bleiben horrende Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln, die Finanzlage von Großteilen des britischen Volkes ist bedroht.

Ian King, London

Dr. Ian King ist Ehrenvorsitzender der Tucholsky-Gesellschaft und hat uns diesen Beitrag kurzfristig zur Verfügung gestellt.

Entlastungspaket – 65 Milliarden zum Dritten!

Entlastungspaket – ist der Begriff bloß ein Euphemismus? Oder doch bereits Schlimmeres? Gabor Steingart jedenfalls, der Herausgeber von The Pioneer, prophezeit schon jetzt: „Innerhalb der nächsten zwölf Monate […] wird netto kein einziger Bundesbürger entlastet, es sei denn, er stellt das Heizen, das Tanken, das Einkaufen, das Arbeiten und am besten auch das Atmen ein.“ Macht der Mann Wahlkampf für die Linke? Oder die AfD?

Keineswegs. Er hat vielmehr Gründe, und die führt er aus – unter anderem:

Erstens: Die Reallöhne und damit auch die Kaufkraft der Renten würden mit hoher Fallgeschwindigkeit sinken. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut gehe für das laufende Jahr von einem Reallohnverlust in Höhe von 3,6 Prozent aus. Der Durchschnittsverdiener (49.200 Euro in 2021) verliere somit rund 1.800 Euro. Einmalzahlungen in der Größenordnung von 300 Euro würden daher keinen Wirkungstreffer erzielen.

Zweitens: Der Staat selbst – der vorgebe, seine Bürger zu entlasten – treibe deren Belastungen in immer neue Höhen. Sonntags werde entlastet und werktags kassiert. Allein mit der Gasumlage, die 34 Milliarden Euro bringen solle, halbiere sich die Wirkung des 65-Milliarden-Euro-Entlastungspakets.

Drittens: Auch ohne die Gasumlage sei mit einer spürbaren Verteuerung aller Energiearten zu rechnen. Viele Gasversorger hätten die Preise schon angehoben. Laut Check24 sei der durchschnittliche Gaspreis für Neukunden um 185 Prozent höher als im Vorjahr. Und: Die große Überwälzung der globalen Energiepreisexplosion auf den Endverbraucher stehe erst noch bevor.

Viertens: Hinzu komme die Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf alle inflationierten Waren. Auch sie wirke wohlstandsmindernd. Denn 19 Prozent auf Waren, die kürzlich noch 100.000 Euro gekostet hätten, seien 19.000 Euro. Doch 19 Prozent auf Waren, die heute 120.000 Euro kosteten, seien rund 23.000 Euro. So verdiene der Staat mit. Er entlaste sich, aber nicht seine Bürger. Allein im ersten Halbjahr 2022 habe der Staat 17,6 Prozent mehr Steuern eingenommen als im Vorjahreszeitraum.

Soweit Steingart.

„Wuchtig“ nannte Finanzminister Lindner (FDP) das dritte Entlastungspaket der Bundesregierung, „präzise und maßgeschneidert“ sekundierte der Kanzler. Doch womöglich den Nagel auf den Kopf getroffen hat Martin Schirdewan, der Ko-Vorsitzende der Linken. Er sprach auf der Leipziger Montagsdemo am 5. September statt von Entlastungspaket von Entlastungsfake.

Alfons Markuske

Über den Begriff der Geschichte (VII)

Bedenkt das Dunkel und die große Kälte
In diesem Tale, das von Jammer schallt.

Brecht, Die Dreigroschenoper

Fustel de Coulanges empfiehlt dem Historiker, wolle er eine Epoche nacherleben, so solle er alles, was er vom spätern Verlauf der Geschichte wisse, sich aus dem Kopf schlagen. Besser ist das Verfahren nicht zu kennzeichnen, mit dem der historische Materialismus gebrochen hat. Es ist ein Verfahren der Einfühlung. Sein Ursprung ist die Trägheit des Herzens, die acedia, welche daran verzagt, des echten historischen Bildes sich zu bemächtigen, das flüchtig aufblitzt. Sie galt bei den Theologen des Mittelalters als der Ursprung der Traurigkeit. […] Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. […] Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie immer das so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich eines der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht,in der es von einem an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.

Walter Benjamin

Gelesen

Meist schrecke ich vor Büchern, auf denen groß das Etikett „Spiegel Bestseller“ prangt, zurück. Sowas wird auf später verschoben, wenn überhaupt… Diesmal war ich aber neugierig auf Juli Zehs „Über Menschen“ – und es hat sich sehr gelohnt. Ihr Nachdenken über Menschen und über sich über andere erhebende Menschen beschäftigt auch noch lange nach der Lektüre, stellt Fragen.

Dora, die nachdenkende Heldin des Buches, verlässt ihren Partner, einen Klimaaktivisten, der mehr und mehr versucht, ihr Leben und ihre Überzeugungen zu bestimmen. Er verlangt „Gefolgschaft“. „Natürlich hält sie den Klimawandel für ein schwerwiegendes Problem. Was sie lähmt ist die Ansprache. ‚How dare you‘ statt ‚I have a dream‘.“ Dora mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf stützen „In ihr wohnt etwas, das sich sträubt. Sie hat keine Lust auf den Kampf ums Rechthaben und will nicht Teil einer Meinungsmannschaft sein. Normalerweise ist ihr Sträuben kein Sich-Wehren. Man sieht es nicht. Sie lebt angepasst. Das Sträuben erzeugt eher eine Art Trotz, ein inneres Ankämpfen gegen die Verhältnisse.“ Mit ihrem Partner Robert kann sie nicht mehr darüber reden. „Er saß vor ihr wie eine Instanz, strahlend und selbstsicher. Über jeden Irrtum, jeden Zweifel erhaben.“

Wer sind die Guten und wer die Bösen, fragt sich Dora. Sie weiß es nicht und will es auch nicht wissen. „Sie beharrt darauf, sich keine klare Meinung bilden zu müssen, wenn es keine einfache Lösung gibt, und die gibt es momentan noch weniger als sonst.“ Hier geht es um die Corona-Diskussion, die die Klimadiskussion zeitweise überlagert hatte. Sie besteht auf Ehrlichkeit in der Kommunikation, deren Voraussetzung das Bekenntnis zum Nicht-genau-Wissen sei. Keine Denkimperative.

Sie verlässt ihren Partner und zieht in ein altes Haus in Brandenburg. Dort hat sie damit zu tun, einen Alltag im Unbekannten zu meistern. Sie erhält unerwartete Hilfe vom Nachbarn, der sich vorstellt mit den Worten: „Ich bin hier der Dorfnazi“. Wie geht man mit einem ansonsten innerlich weichen, hilfsbereiten Menschen um? Das Klischee und das Sich-Abgrenzen werden in Frage gestellt.

Ein Buch zum Nachdenken. Und trotz all der theoretischen Überlegungen zum Einstieg, die zunächst dröges Lesen vermuten lassen könnten, lässt es sich wirklich gut lesen – und bekommt hoffentlich ein großes Publikum auch bei den Leuten, die meinen, alles zu wissen.

Margit van Ham

Film ab

Warnung: Wer zum Fremdschämen neigt, könnte nach diesem Film spontan suizidgefährdet sein!

Doch wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall. Gerade der totale Abgang jeglichen Feinsinns, das ubiquitäre Zartgefühl einer Dampfwalze und die durchgängige völlige politische Unkorrektheit, durch die sich die Verfilmungen der bayerischen Heimatkrimis von Rita Falk von Anbeginn an auszeichnen, hat den Streifen eine Fangemeinde zuwachsen lassen, die auch diese achte cineastische Adaption voller Ungeduld herbeigesehnt haben dürfte. Und Dorf-Polizist Franz Eberhofer (Sebastian Bezzel), sein Freund Rudi Birkenberger (Simon Schwarz) sowie die übrige Stammbesetzung der Reihe von Eberhofers Freundin Susi (Lisa Maria Pothoff) über Gas-Wasser-Scheiße Flörtzinger (Daniel Christensen) bis hin zu Eberhofers Dienststellenleiter Moratschek (Sigi Zimmerschied), nicht zu vergessen Eberhofers Vater (Eisi Gulp) und seine Oma (Enzi Fuchs) – sie alle lassen wieder keine Erwartung ihres Publikums ins Leere laufen.

Die Filmhandlung dreht sich unter anderem um einen Lottoschein der Eberhofers, der einen 17-Millionen-Jackpot knacken soll, jedoch in die falschen Hände gelangt, was, beginnend mit der Fernsehübertragung der Ziehung der Lottozahlen, genügend Anlass für Slapstick und haarsträubende Verwicklungen ergibt.

Ein weiterer Strang rankt sich um Spielsucht, dadurch exponentiell wachsende Schulden und Glücksspiel-Mafia. In diesem Kontext erschließt sich die Metapher Guglhupf erst ganz am Ende des Films. Dieses vor allem süddeutsch-österreichisch-schweizerische Nationalheiligtum sieht bekanntlich aus wie ein Vulkankegel, trügerisch ruhend, in dessen Tiefe sich womöglich Explosives zusammenbraut. Und so fliegen einem zum Schluss „Kugeln um die Ohren wie seit ‚Wild Bunch‘ nicht mehr“, wie Elmar Krekeler in der WELT zusammenfasste. Damit hat der Kollege zwar leicht übertrieben, aber mit einer weiteren Feststellung den Nagel dann doch auf den Kopf getroffen – nach diesem Film hat „man den Anblick der schlimmsten Schlüpper der Filmgeschichte überlebt“. Womit wir wieder beim Fremdschämen wären …

Clemens Fischer

„Guglhupfgeschwader“, Regie und Drehbuch (Mit-Autor): Ed Herzog. Derzeit in den Kinos.

Über die Wahrheitssuche

Es ist gut, wenn man von Zeit zu Zeit die Axt in die dichte Wildnis der Überlieferungen schlägt; es ist manchmal gut, das Joch der übernommenen Vorstellungen abzuschütteln. Es kann geschehen, daß die Wahrheit, von allen Schlacken gereinigt, schließlich heller, prächtiger leuchtet als alles, was man uns bisher gelehrt hat. Ich habe es manchmal gewagt zu zweifeln, und ich habe wohl damit getan, insbesondere, was den Scarabäus betrifft.

Jean-Henri Fabre, Souvenirs entomologiques

Sempè zaubert in Paris verwunschene Parks

Als ich mit meinem kleinen Egon in den Ferien war, musste ich erfahren, dass der Künstler Jean-Jacques Sempè nie wieder den Stift in die Hand nehmen kann, denn er starb kurz vor seinem 90. Geburtstag am 11. August 2022. Um mich zu erinnern und Egon zu begeistern, nahm ich die Neuauflage des 1990 erschienenen Sammelwerkes „Endlich Ferien“ in die zittrigen Hände. Herrlich, wie hier Sempè seinen Stil perfektioniert hat, wie er die zarte Witzigkeit in den Vordergrund schiebt, die klein gezeichneten Menschen in ein Panoramabild setzt, sie einfach sinnend an einem Sommerabend zeigt, in die Ferne blicken lässt und an entfernten Standpunkten hauchzart auf eine Decke platzierte. So war Sempés Kunst schon immer: Sehr konservativ, melancholisch, immer heiter und doch voller Trauer. Egal, was auf den Bildern passiert, der Betrachter schmunzelt, sucht mit Freude nach den Ursachen, erkennt sie und bricht plötzlich in einen Lachanfall aus. Neben der Natur mit großen Bäumen, verwunschenen Parks, leeren Stränden, die nur von den Helden der Bilder belegt sind, wurden großartige Stadtansichten präsentiert, die mit architektonischen Details auf sich aufmerksam machen. Ist es Paris? Nein, denn die Dachmansarden, großen Fenster und schmiedeeisernen Balkons sind erfunden und erinnern doch an das Paris der 1960er Jahre. Die Einwohner der französischen Hauptstadt wären froh, wenn sie durch solche Landschaften spazieren und in diesen verwobenen und verwunschenen Häusern wohnen könnten.

Auch in dem Ferien-Buch hat Sempès Ausspruch seine Richtigkeit: „Mensch zu sein erfordert enorm viel Tapferkeit“.

Doch bevor Jean-Jacques Sempè diesen Erfolg feiern konnte, musste er als Kind viel Leid ertragen, denn er wuchs, unehelich geboren, zunächst bei gewalttätigen Pflegeltern auf, wurde von seiner Mutter zurückgeholt, um die Gewaltausbrüche des Stiefvaters zu erleben. Darauf angesprochen, sagte er einmal in einem Interview, dass er mit dem kleinen Nick das Elend, das er in der Jugend erlebt hatte, wieder aufleben ließ. Am Ende der Geschichte sollte aber immer alles gut ausgehen. Gemeinsam mit dem Asterix-Autor Goscinny schuf Sempè von 1959 bis 1964 Erlebnisse des Kleinen Nick in der Schule, zu Hause, beim Spielen und im Urlaub. Es sind meist subversive Geschichten aus der Sicht eines Jungen, der in der Schule nicht der Beste ist, viele Freunde hat und bei dem die Streitereien oft in handfesten Prügeleien enden. Bloß wenn Fußball gespielt wird und sich die Väter einmischen, hauen diese sich am Ende auf die Nasen und die Freunde essen derweil vergnügt spendiertes Eis.

Nach dem Armeedienst hatte Sempè seine Richtung gefunden und veröffentlichte ab 1957 regelmäßig in den französischen Zeitungen Paris Match, L`Express und Pilote, aber auch in der New York Times und im Punch. Für die Zeitschrift The New Yorker fertigte er über 100 Titelblätter an. Erste Buchveröffentlichungen und Illustrationen für Modiano und Süßkind machten ihn auch in Deutschland bekannt, wo er schließlich 2007 den e.-o.-Plauen-Preis überreicht bekam.

Nun also noch einmal gemütlich in den Schatten großer Bäume legen, am Meer mit Kindern im Sand spielen, ferderleicht mit dem Fahrrad die Felder erkunden oder am Ende beschwingt und alleine durch die Straßen in den Sonnenuntergang tanzen. Mit Sempè kann man die Welt neu entdecken, den Stress und die Widrigkeiten des Kapitalismus vergessen und sich in eine freie Zeit träumen, die es leider so noch nie geben hat.

Thomas Behlert

Sempè: Endlich Ferien, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 84 Seiten, 36,00 Euro.

Medien-Mosaik

Wer sich nicht für Comics interessiert, weiß vielleicht gar nicht, dass das geheimnisvolle Marsupilami bereits seit siebzig Jahren das eine oder andere Abenteuer erlebt. Immerhin erschien es auch in Zeichentrickserien. Erfunden wurde es von dem franko-belgischen Künstler André Franquin für seine Comic-Serie „Spirou et Fantasio“ (die er allerdings von Vorgängern übernommen hatte). Als er aus der Serie ausstieg, rückten Nachfolger das seltsame aus Lateinamerika stammende Tier immer stärker in den Mittelpunkt, bis es Star einer eigenen Comic-Heftreihe wurde.

So ist es nicht verwunderlich, dass jetzt auch ein deutscher Zeichner, Flix, ein Album geschaffen hat, in dem das Marsupilami im Mittelpunkt steht. Flix (Felix Görmann) hat das Wesen mit dem erstaunlich langen und kräftigen Schwanz ins Berlin des Jahres 1931 versetzt. Im Naturkundemuseum entdeckt ein Mädchen im Magazin ein Tier, das als präpariert galt, aber zum Leben erwacht. Es gehörte zu dem riesigen Konvolut von Tieren und Pflanzen, das Alexander von Humboldt von seinen Reisen zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit nach Berlin gebracht hatte. Das Tier mit magischen Kräften und Mimmi, die Berliner Göre, freunden sich an, und Mimmi hilft dem Marsupilami bei der Suche nach seinen Kindern, die als Eier im Naturkundemuseum die Zeit überdauert haben.

Flix hat nicht nur den historischen Museumsbau nachgestaltet, auch das Brandenburger Tor und die Siegessäule, die damals noch nicht im Tiergarten stand. Immerhin bietet sie Flix eine Anspielung auf Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“. Überhaupt bleibt es rätselhaft, warum Flix seine Geschichte im Berlin von 1931 angesiedelt hat. Vielleicht, weil die Zeit der Weimarer Republik seit dem TV-Serienerfolg „Babylon Berlin“ chic geworden ist. Dabei kam es ihm auf historische Genauigkeit nicht an. Auch 1931 begann die Schule um 8 und nicht um 9, und die von ihm so genannte U6 hieß damals Linie C. Aber die Geschichte, die sich deutlich an Kinder wendet, sollte wohl Möglichkeiten der Identifikation bieten. Eine erwachsene Leserschaft wird sich auch schwerlich für den Prolog 1801 begeistern können, in dem Humboldt als überdrehter und unbedarfter Sammler durch den Urwald stolpert.

Flix: Das Humboldt-Tier, 72 Seiten, Carlsen, 16,00 Euro.

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Ist das eine neue Art Heimatfilm? Die aus Prenzlau stammende Regisseurin Annika Pinske erzählt in ihrem Film „Alle reden übers Wetter“ von Menschen, die sie gut kennt. Die junge Philosophin Clara, gespielt von Anne Schäfer, ist des Universitätsbetriebs in der Großstadt überdrüssig und froh, ihm zu entfliehen, weil ihre Mutter (Anne-Kathrin Gummich) in der mecklenburgischen Provinz 60 wird. Hier stellt sie ihren gesamten Lebensentwurf in Frage, trifft ihre Liebe von einst (Max Riemelt) wieder.

Annika Pinske zeichnet in ihrem für die dffb gedrehten Abschlussfilm die Menschen und Verhältnisse liebevoll, wozu auch das detaillierte Szenenbild beiträgt. Außer den weiteren Hauptdarstellern Judith Hofmann, Marcel Kohler und Sandra Hüller freut man sich über ehemalige DEFA-Schauspieler wie Christine Schorn, Hermann Beyer, Ute Lubosch und Frieder Venus, die in Gastauftritten auch so etwas wie Heimatgefühl vermitteln.

Alle reden übers Wetter, Buch und Regie Annika Pinske, Verleih: Grandfilm, ab 15. September in ausgewählten Kinos.

bebe

Liebeserklärung an Finnland

Musikalische Liebeserklärungen gibt es ja viele … an das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, an bella Italia … aber an Finnland? Und das auch noch von einer Folk-Band aus Dietenhofen, aus der tiefsten westmittelfränkischen Provinz! Das herrlich schräge, tief- und unsinnige Quartett Gankino Circus besteht aus den Musikern Simon Schorndanner (Klarinette und Saxophon), Ralf Wieland (Akustik- und Elektrogitarre), Maximilian Eder (Gesang und Akkordeon) und Johannes Sens (Schlagzeug und Vibraphon). Bei ihrer neuen Veröffentlichung „Suomessa“ haben sie sich teilweise mit finnischen Gastmusikern verstärkt, was den authentischen Sound verstärkt, ohne dass sie sich die Freiheit nehmen, ihren eigenen Stil einzubringen.

„Wir sehen die Volksmusik als Inspiration“, betonen die verschrobenen Franken, die heute zwischen Stuttgart und Dresden verteilt leben, aber in der fränkischen Provinzgemeinde Dietenhofen immer noch ihren kreativen Nukleus sehen. Sie scheuen sich aber auch nicht vor klassischen Anleihen – die CD endet mit ihrer Adaption der „Finlandia“ von Jean Sibelius.

Das Musikprogramm „Bei den Finnen“, mit dem sie im Herbst auch auf Tour gehen, vereint mystische Melodien, magische Klänge, wundersame Lieder und die schnellsten Polkas der Welt. Die Volksmusik der Finnen gehört zweifelsohne zu den besten und einzigartigsten dieser Erde. Ihre Tournee zelebrieren sie als Kulturspektakel und bringen Wathose, Schuhplattler und Filterkaffeemaschine auf die Bühne. Außerdem präsentieren sie eigentümliche Bräuche wie Axt- und Grashalm-Weitwurf.

Thomas Rüger

Gankino Circus: „Suomessa“, CD, Label Nordic Notes 2022, 15,00 Euro.

WeltTrends aktuell

Das September-Heft widmet sich dem Thema „Strategische Instabilitäten“. So betont im Thema der chinesische Politologe Wang Yiwei die derzeitigen „bedeutsamen Veränderungen in einem Ausmaß, das seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen wurde“. Die Hegemonie des Westens gehe zu Ende, der Aufstieg Chinas sei das Kernelement dieser globalen Veränderungen. Wulf Lapins und Walter Schilling fragen kritisch nach den Fähigkeiten in der EU. Vasily Belozerov skizziert die neue „Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation“, die mittlerweile fünfte. Für Lutz Kleinwächter ist die Ampelregierung nach über einem halben Jahr „Zeitenwende“ nicht in der Lage, das internationale Kräfteverhältnis und die eigenen Interessen realistisch einzuschätzen und eine Strategie zu entwickeln.

In der multipolaren Ordnung, die sich in den derzeitigen Krisen herausschält, seien Dialog und Kommunikation wichtig, um das strategische Vertrauen zu stärken. So in der Analyse Hans Friesen, der im gegenseitigen Respekt einen wichtigen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben sieht. Im WeltBlick setzt sich Vladimir Handl mit dem Versuch Präsident Putins auseinander, mit militärischer Gewalt die territoriale und politische Realität neu zu ordnen, während Quincy Stemmler das erste Jahr der Präsidentschaft von Pedro Castillo in Peru betrachtet. Im Kommentar interpretiert Norbert Hagemann den Taiwan-Zwischenstopp von Nancy Pelosi als ein klares Signal an den neuen Hauptgegner und Rivalen China. Bleibt zu hoffen, dass Deutschland sich nicht daran beteiligt. Es gilt, Entwicklungen nüchtern zu analysieren und klar gegenzusteuern, wenn sie den nationalen Interessen widersprechen oder aus dem Ruder zu laufen drohen.

WeltTrends – das außenpolitische Journal, Heft 191 (September) Potsdam 2022, 5,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

In der September-Ausgabe zeigen Susanne Götze und Annika Joeres, warum der deutsche Wald in Gefahr ist – und was wir dagegen tun können. Bee Wilson beleuchtet die verheerenden Auswirkungen der Produktion von Palmöl, dem meistgenutzten Fett der Welt. Nancy Fraser analysiert die selbstzerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus. Thomas Greven beschreibt, wie die Republikaner die US-Demokratie schleifen. Michael R. Krätke entlarvt Putins Rede von der Unwirksamkeit westlicher Sanktionen als Bluff. Anna Jikhareva erkennt in den ukrainischen Wiederaufbauplänen eine neoliberale Handschrift. Und Ulrich Brand sieht im chilenischen Verfassungsprozess einen Hoffnungsschimmer in dystopischen Zeiten.

Weitere Themen: Ein Jahr Ampel-Wahl: Die Koalition als Kakophonie, Infektion, Invasion; Inflation: Die Armen im Ausnahmezustand, Großbritannien: Vor dem Winter des Aufruhrs?; Italien: Postfaschisten an die Macht?; Finnland und Schweden vor dem Nato-Beitritt; Der Kampf um die Schwellenländer: Afrika und der Ukraine-Krieg; Wie afrikanische Soldaten den Zweiten Weltkrieg gewannen; Australien: Klimapolitische Zeitenwende?

Das aktuelle Heft kann im Internet bezogen werden.

Aus anderen Quellen

„Aktuell ist eine die Interessen Deutschlands in den Vordergrund rückende Außenpolitik noch nicht mal im Ansatz zu erkennen“, stellt Oskar Lafontaine fest und buchstabiert durch: „Die führenden Politiker der Ampel, Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner, sind treue US-Vasallen. Scholz befürwortet Aufrüstung und ist stolz, in immer kürzeren Abständen Waffenlieferungen an die Ukraine ankündigen zu können. Er handelt, als habe er von der Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts nie etwas gehört. Die Außenpolitik der FDP wird von der Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann dominiert, die jeden zweiten Tag neue Waffen für die Ukraine fordert. Die Grünen haben sich von einer Partei, die aus der deutschen Friedensbewegung kam, zur schlimmsten Kriegspartei im deutschen Bundestag gewandelt. Die Äußerungen von Annalena Baerbock, wir sollten ‚Russland ruinieren‘, muss man schon faschistoid nennen. Auch die größte Oppositionspartei fällt aus. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz ist als ehemaliger Angestellter des US-Finanzgiganten Blackrock ein treuer Atlantiker, fordert noch mehr Waffenlieferungen und wollte sogar Nord Stream 1 abschalten.“

Oskar Lafontaine: „Deutschland handelt im Ukraine-Krieg als Vasall der USA“, berliner-zeitung.de, 30.08.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Seit Langem ist bekannt“, schreibt Klaus-Dieter Kolenda, dass ein großer Atomkrieg die moderne Zivilisation zerstören und einen Großteil der Menschheit auslöschen könnte. Aber was ist mit einem ‚begrenzten‘ Atomkrieg, der nur in einer Region der Erde stattfindet oder bei dem bloß ein kleiner Teil des weltweiten Arsenals zum Einsatz kommt?“ Ein aktueller IPPNW-Bericht fasse „die jüngsten wissenschaftlichen Studien zusammen, die zeigen, dass sich ein sogenannter ‚begrenzter‘ oder ‚regionaler‘ Atomkrieg weder begrenzt noch nur regional auswirken würde. Ganz im Gegenteil, er hätte Auswirkungen auf den gesamten Planeten.“ Lili Xia, Klimawissenschaftlerin an der Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, prognostiziert: „Ein großer Prozentsatz der Menschen wird verhungern.“

Klaus-Dieter Kolenda: Neue Studien zu „nuklearer Hungersnot“, heise.de, 23.08.2022. Zum Volltext hier klicken.

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Alexander Dugin, dessen Tochter in Russland vor kurzem durch eine Autobombe ermordet worden ist, „gehört zu den bekanntesten und schillerndsten geostrategischen Intellektuellen in Russland“, vermerkt Ulrich Schmid und erläutert dessen heutige Weltsicht: „Dugin knüpft in seinem politischen Programm an den Eurasismus aus den 1920er Jahren an. Damals versuchten russische Emigranten wie Nikolaj Trubezkoi oder Pjotr Sawizki, die bolschewistische Revolution nicht als Einbruch der asiatischen Barbarei in die europäische Zivilisation zu deuten, sondern umgekehrt das 300 Jahre währende Mongolenjoch als positive Kulturerscheinung zu verstehen. In dieser Tradition beschreibt Dugin Russland als im Raum verwurzelte Trockenkultur, die einen starken Staat, gesellschaftliche Solidarität und geistige Ideale hervorgebracht hat. Er verbindet damit ein hegemoniales Denken: Für den eurasischen Großraum beansprucht Dugin neben dem Territorium der Russländischen Föderation auch Belarus, die Ukraine, den gesamten Kaukasus, Zentralasien und die Mongolei. Dieser Raum wird vom Westen scharf getrennt, der als Wasserkultur auf dem Austausch von Waren und Ideen basiere und Egoismus und Materialismus hervorgebracht habe.“

Ulrich Schmid: Alexander Dugin, dekoder.org, 22.08.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist die Autoindustrie“, beginnt David de Jong und fährt fort: „Sie macht nicht nur etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Marken wie Porsche, Mercedes, BMW und VW gelten weltweit als Symbole für deutschen Erfindungsreichtum. Diese Unternehmen geben Millionenbeträge für Branding aus, um sicherzustellen, dass sie so wahrgenommen werden. Weniger Geld und Energie hingegen wird dafür aufgewendet, über die eigene Geschichte zu sprechen. Dabei können genannte Unternehmen ihren wirtschaftlichen Erfolg direkt auf die Nazis zurückführen […].“

David de Jong: Stoschek, Quandt, Flick: Wie sich deutsche Dynastien von NS-Schuld reinwaschen, berliner-zeitung.de, 06.07.2022. Zum Volltext hier klicken.

Zusammenstellung: Hannes Herbst