„Gebürtiger Linksabbieger“
Jürgen Reents war der am längsten amtierende Chefredakteur in der Geschichte des Neuen Deutschlands, das unter seiner Leitung (1999–2012) zum kleingeschriebenen neuen deutschland wurde. Bisweilen liest man, der gebürtige Bremerhavener habe sich „für einen neuen Kurs der Zeitung engagiert“, um sie vom Image des einstigen SED-Propagandablattes zu befreien.
Den „neuen Kurs“ hatte die Zeitung schon vor seiner Amtszeit eingeschlagen, aber zweifellos hat Reents mit seiner politischen Erfahrung etliche Ideen dazu beigesteuert. Zu den besten seiner Einfälle gehörte die steckbriefähnlich gestaltete Titelseite vom 17./18. Dezember 2011, auf der 15 nd-Redakteure – die einen vermummt, die anderen mit offenem Visier – als des Linksextremismus dringend verdächtig erklärt wurden. Das Bundesfamilienministerium, damals unter Führung von Kristina Schröder (CDU), hatte die Tageszeitung nämlich als „linksextremistisch“ eingestuft. Beiträge dieses Mediums „unterstützen kommunistische bzw. anarchistische Weltdeutungen und diskreditierten zugleich gegenläufige Nachrichten als ‚bürgerlichen Manipulationszusammenhang‘“, hieß es.
Reents selbst bezeichnete sich in seinem Steckbrief als „gebürtigen Linksabbieger“, der aber finde, dass „in der alten Bundesrepublik nicht alles schlecht war“. Womöglich wollte er damit auch an jene Bundestagsdebatte vom 18. Oktober 1984 erinnern, als er – damals Abgeordneter der Grünen – Helmut Kohl einen Bundeskanzler nannte, „dessen Weg an die Spitze seiner Fraktion und seiner Partei, wie wir in diesen Tagen erfahren haben, von Flick freigekauft wurde.“ (Zwischenruf Kohl: „Eine unerhörte Frechheit ist das!“) Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen (CSU) ließ sich daraufhin die schriftliche Aufzeichnung der Reents-Rede vorlegen, verlas die inkriminierte Passage noch einmal und schloss den Abgeordneten – der den Saal bereits verlassen hatte – „für diesen ungeheuerlichen Vorwurf“ von der Teilnahme an der Sitzung aus.
Als die Grünen-Abgeordnete Christa Nickels wenig später die Vertagung der Debatte beantragte, um der Fraktion wegen des Reents-Ausschlusses die Gelegenheit zu einer Sondersitzung zu geben, entzog Stücklen ihr das Wort, worauf es abermals zu heftigen Tumulten und Zwischenrufen kam. Besonders engagierte sich Joseph „Joschka“ Fischer. Nach zwei Ordnungsrufen schloss Stücklen auch ihn von der Sitzung aus. Den berühmten Fischer-Satz „Herr Präsident, Sie sind ein A…loch, mit Verlaub!“, verzeichnete das Protokoll nicht mehr, die Sitzung war bereits unterbrochen.
Als Außenminister um ein Interview gebeten, soll Fischer seinen einstigen Fraktionskollegen, inzwischen nd-Chefredakteur, und einen weiteren Mitarbeiter ironisch als das „sozialistische Kollektiv des Neuen Deutschlands“ begrüßt haben.
An den Bundestagseklat, dessen Auslöser er war, erinnerte Reents später in einem Facebook-Beitrag. Der ist inzwischen gelöscht.
Jürgen Reents ist am 7. April im Alter von nur 72 Jahren nach schwerer Krankheit verstorben. Man wünschte den Machern des neuen deutschlands von heute seinen Ideenreichtum.
Back on stage
Simon & Jan. Nun singen sie wieder, also livehaftig – auf der Bühne! Wie kürzlich im BKA zu Berlin.
Wem auch immer dieser unvergleichliche Kontrast zwischen lieblichen, nachgerade einlullenden Melodien zu klangvollen Akustikgitarren und höchst garstigen Texten (sehr viel ausführlicher dazu im Blättchen 3/2017) allein von ihren CDs nicht genügt – und welchem Fan hat schon je Konserve gelangt? –, der kann nun wieder hingehen zu ihren Konzerten und sollte diese Chance tunlichst nutzen. Denn was Corona – und vor allem mit welchen möglichen erneut lockdownigen Folgen – als nächstes in petto hat, wer weiß das schon oder könnte gar Arges verhindern? Der Karl Lauterbach mag sich ja mühen …
Ihr aktuelles Programm haben die Oldenburger Barden „Alles wird gut“ benannt, aber man weiß ja längst, dass das genaue Gegenteil längst eingetreten ist und dass genau deswegen die beiden „unsere Spezies vor das letzte Gericht [begleiten]“ (Passauer Neue Presse). Was ein politisches Statement wie das folgende (hier in der etwas eigenwilligen Niederschrift der Künstler, die für die Hörfassung allerdings irrelevant ist) keineswegs ausschließt:
Hat sich nicht bewährt
(Anleitung für Deppen)
Im Gleichschritt marschieren wir Marsch am Ende kehrt
Ham wir schon gemacht – hat sich nicht bewährt
Den Lehrer denunzieren wenn er nicht das Rechte lehrt
Ham wir schon gemacht – hat sich nicht bewährt
Die Köpfe kahl rasieren wenn uns Scheiße widerfährt
Ham wir gemacht – aber hat sich nicht bewährt
Den Flüchtling erschießen der die Grenze überquert
Ham wir schon gemacht – hat sich nicht bewährt
Sein Nazisein zum stolzen Patriotentum verklärt
Ham wir schon gemacht – hat sich nicht bewährt
Sinnentleert geblubbert wenn uns irgendetwas stört
Brr Brr Brr Brr – Brr Brr Brr Brr Brr Brr Brr
Was läuft denn bei euch eigentlich verkehrt
Ich sags nochmal es hat sich nicht bewährt
Euch hat man doch per Zange rausgezerrt
Da hat sich doch die Mutter schon gewehrt
Verzicht auf Frauenquote weil sich das von selber klärt
Ham wir schon gemacht – hat sich nicht bewährt
Fakten ignorieren weil die Wahrheit uns gehört
Ham wir schon gemacht – hat sich nicht bewährt
Männer an die Macht – Frauen an den Herd
War zwar lecker – aber hat sich nicht bewährt
Deutschland über alles ham wir lange nicht gehört
Ham wir schon gehabt – hat sich nicht bewährt
Nen braunen Idioten der uns unsre Welt erklärt
Ham wir schon gehabt – hat sich nicht bewährt
Brr Brr Brr Brr Brr Brr Brr Brr Brr Brr Brr Brr Brr
Ham wir gemacht – aber das ist längst verjährt
Euer Prinzip begreift auch wirklich jeder Arsch
Kehrt Marsch Kehrt Marsch
Nächste Konzerte: 29.04. – Anröchte, 30.04. – Minden, 19.05. – Zürich, 20.05. – Olten, 24.05. – Hamburg; weitere Termine im Internet.
Literaturkritik – ein Exempel
Von der „Höflichkeit gegenüber dem Leser“ redet U. Johnsons „Jahrestage“-Roman auf S. 1698. Doch, eine gewisse aufsässige Humoristik ist dem herzlich verhauten, um fast 1892 grauslich nölige Seiten zu langen Buch nicht abzusprechen.
Was uns unsere Demokratie so wert ist …
Angesichts der omnipräsenten wertebasierten Eloquenz unserer Außenministerin und der ebenso omnipräsenten Sorgenzerfurchtheit unseres telegenen Dreitagebartes hat es etwas gedauert, bis auffiel, dass beider Chef die persönliche Zurückgenommenheit von dessen Amtsvorgängerin mit beiläufiger Nonchalance in die nächsthöhere Potenz erhoben hat und dass die Frage, was eigentlich ohne Bundeskanzler passiert, inzwischen als beantwortet gelten darf.
Noch gar nicht weiter ins Auge gefallen ist demgegenüber jedoch der Sachverhalt, dass die rot-grün-gelbe Ampel, obwohl erst knapp im Amt, bereits jetzt ein Phänomen – im Wortsinne – vergoldet hat, für das Volkes Mund die zwar derbe, aber dafür umso anschaulichere Metapher verwendet, dass der Teufel stets auf den größten Haufen schei…t. In diesem Falle ist die Verausgabung von Steuergeldern für Zwecke gemeint, die den Verausgabenden zwar höchst schlüssig, ja nachgerade zwangsläufig erscheinen mag, denen, aus deren Taschen das Geld stammt, aber womöglich nicht.
Konkret:
- Gerade wird der „Hofstaat des Bundeskanzlers“ (Gabor Steingart) nicht einfach vergrößert, sondern – verdoppelt. Das Kanzleramt hatte bisher nämlich nur 25.347 Quadratmeter Nutzfläche. Das mag, wie einige Korinthenka…er ausgerechnet haben wollen, zwar achtmal mehr als beim Weißen Haus sein, gar zehnmal mehr als bei Downing Street No. 10 und immerhin noch dreimal mehr als beim Élysée-Palast, reicht aber nicht hinten und vorn schon gar nicht. Daher entsteht auf der gegenüberliegenden Spreeseite ein Neubau mit weiteren 600 Quadratmetern (Hubschrauberlandeplatz inklusive). Sollte mal nur 485 Millionen Euro kosten, doch schon jetzt sollen es mindestens 600 Millionen werden.
- Das Olaf-Scholz-Kabinett hat die Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre auf ein neues Rekordniveau gehoben: 37 dieser pekuniär nicht uninteressanten Posten (Monatssalär: aktuell 21.300 Euro) wurden bereits installiert. Besetzt werden sie in der Regel mit verdienten Parteisoldaten.
- Auch nicht für lau zu haben sind schließlich die 726 Bundestagsabgeordneten.
Was die kosten?
Also an Diäten, Spesen, für Büro-Mitarbeiter und Fahrbereitschaft?
Rund eine Milliarde Euro per annum. (Zum Vergleich: Im Jahr 2000 hat die Hälfte gereicht.)
Was einem dazu noch einfällt? Vielleicht abermals Volkes Mund: Wer hat, dem wird gegeben! Respektive – der nimmt sich’s …
Wissen Sie schon …?
… daß Pfingsten vor Ostern kommt, wenn man den Kalender von hinten liest?
… daß Kartoffelsalat nicht als Gurgelwasser verwendet werden kann?
… daß man ein weiches Ei nicht als Zahnstocher benützen soll?
… daß das Aussteigen aus dem Zeppelin-Luftschiff während der Fahrt verboten ist?
… daß die Haustüre nicht zu den Haustieren gehört?
Auf den Punkt gebracht
„Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter,
als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden
und zu sagen: NEIN!“
Kurt Tucholsky
Jesus verkündete das Reich Gottes
und gekommen ist die Kirche.
Alfred Loisy,
französischer Theologe,
von der Katholischen Kirche exkommuniziert
Der alte Grundsatz „Auge um Auge“
macht schließlich alle blind.
Martin Luther King
Ein Deutscher ist ein Mensch,
der keine Lüge aussprechen kann,
ohne sie selbst zu glauben.
Theodor Adorno
Wahrlich, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde,
die nicht bloß unsere Philosophen, sondern sogar
die gewöhnlichen Dummköpfe nicht begreifen.
Heinrich Heine
Wer sich an das Absurde gewöhnt hat,
findet sich in unserer Zeit bestens zurecht.
Eugene Ionesco
Das Bedürfnis nach Glaube
ist der größte Hemmschuh der Wahrhaftigkeit.
Friedrich Nietzsche
Gleichgültigkeit ist die mildeste Form der Intoleranz.
Karl Jaspers
Grüne im Reality-Check:
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
klafft der Grand Canyon.
Gabor Steingart
Die Dummheit ist die sonderbarste aller Krankheiten.
Der Kranke leidet niemals unter ihr.
Nicolas Chamfort
Wer A sagt, muss nicht B sagen.
Er kann auch erkennen, dass A falsch war.
Bertolt Brecht
In der Sackgasse leben,
heißt vom Durchgangsverkehr verschont bleiben.
Botho Strauß
Man könnte größenwahnsinnig werden:
so wenig wird man anerkannt.
Karl Kraus
Misserfolg ist eine großartige Gelegenheit,
mit veränderten Ansichten neu zu beginnen.
Henry Ford
Je mehr ein Mensch sich schämt,
desto anständiger ist er.
George Bernard Shaw
Aus anderen Quellen
„Heute lautet die zentrale Frage, wie ernst die Nukleardrohungen zu nehmen sind, die Putin aussendet, während Russland zur selben Zeit einen konventionellen Angriffskrieg führt“, meint Olivier Zajec und vermerkt: „Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zweifelt an Putins Entschlossenheit: ‚Ich denke, die Drohung mit einem Atomkrieg ist ein Bluff. Es ist eine Sache, ein Mörder zu sein. Ein Selbstmörder ist eine andere Sache. Jeder Einsatz von Atomwaffen bedeutet das Ende für alle Beteiligten.‘“
Olivier Zajec: Von der Kubakrise lernen, monde-diplomatique.de, 07.04.2022. Zum Volltext hier klicken.
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„Eine solche Bombe [wie die atomare in Hiroshima – die Redaktion] würde in einer westlichen Industriestadt bei einem Überraschungsangriff 20.000 bis 30.000 Todesopfer zur Folge haben“, schreibt der Kernphysiker Walter Rüegg und fährt fort: „In einem durchschnittlichen […] Luftschutzraum ist die Chance gross, eine Explosion wie jene in Hiroshima unversehrt zu überstehen, selbst im Nullpunkt. Doch bei einer relativ tief gezündeten grossen Wasserstoffbombe ist man chancenlos.“
Walter Rüegg: Die atomare Bedrohung – was ist genau zu befürchten?, nzz.ch, 03.04.2022. Zum Volltext hier klicken.
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„Zentrale Neuheit“ des NATO-Gipfels am 22. März in Brüssel, so Martin Kirsch, ist „die Einrichtung von vier neuen NATO-Battlegroups in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Die Stationierung von NATO-Truppen entlang der Ostflanke soll laut Generalsekretär Jens Stoltenberg von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichen.“ Doch zuvor hatte es im Bündnisgebälk wahrnehmbar geknirscht: „In Slowenien war diesem Schritt […] erheblicher Zweifel, in Bulgarien und Ungarn sogar offene Ablehnung aus Regierungskreisen vorangegangen. Erst mehrere NATO-Gipfel und diverse Besuche von hohen US-Gesandten in die Region führten in den letzten anderthalb Monaten schließlich zu einer kaum als freiwillig zu bezeichnenden Zustimmung.“
Martin Kirsch: Gastgeber wider Willen? NATO setzt vier neue Battlegroups durch, imi-online, 31.03.2022. Zum Volltext hier klicken.
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„Wir müssen uns klarmachen“, mahnt Ernst von Weizsäcker, „dass der Westen ‚Dreck am Stecken‘ hat. Für Afrika und für Entwicklungsländer in Asien und Lateinamerika ist Europa und abgeschwächt USA und Kanada der ‚Westen‘ und zugleich der Inbegriff der Kolonisierung der Welt, und das für viele Jahrhunderte. Selbst der für uns sehr positiv besetzte Begriff der Aufklärung, auf Englisch Enlightenment, hat in Afrika und anderen Gebieten den eindeutig negativen Beiklang der Kolonialregierungen.“
Ernst von Weizsäcker: Der Westen als Bösewicht?, blog-der-republik.de, 14.04.2022. Zum Volltext hier klicken.
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Zum Krieg Russlands gegen die Ukraine heißt es in der Zeitschrift GegenStandpunkt, er sei „nicht aus unerfindlichen Gründen von irgendeinem durchgeknallten russischen Autokraten vom Zaun gebrochen worden. Auch in dem Fall gilt: Die Gründe für den Krieg werden im Frieden geschaffen. Von Staaten, die es in ihrem Verkehr untereinander wieder einmal so weit gebracht haben, dass sie meinen, sich wechselseitig eine vernichtende Niederlage beibringen zu müssen. Im vorliegenden Fall sind die Gründe lange herangereift. Und dass es nun in der Ukraine losgeht, ist auch kein Zufall.“
Russland ringt um seine Behauptung als strategische Macht – Amerika um deren Erledigung, gegenstandpunkt.com, Nr. 1/22. Zum Volltext hier klicken.
Schlagwörter: Alfons Markuske, atomar, Bedrohung, Demokratie, der Westen, Detlef D. Pries, Eckhard Henscheid, Hans-Peter Goetz, Johnson, Jürgen Reents, Karl Valentin, Kuba-Krise, NATO, Simon & Jan, Ukraine