„Aufstehen“ – Beobachtungen
Der Kolumnist Jacob Augstein machte zur neuen linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“, die, noch bevor sie überhaupt an den Start gegangen ist, bereits mehr Unterstützer zählt, als DIE LINKE Mitglieder hat, unter anderem folgende Beobachtungen:
a) „Wie getroffene Hunde jaulen jetzt die sogenannten Sozialdemokraten auf. Sebastian Hartmann, SPD-Politiker aus Nordrhein-Westfalen, textete: ‚Die linke Sammlungsbewegung in Deutschland ist seit 1863 die SPD. Wer mitmachen möchte, kann eintreten.‘ Ein hübsches Bonmot, aber eine Lüge. Die SPD ist sehr vieles, aber nicht links. Schlimmer: Die SPD ist das größere Hindernis jeder linken Politik. Die SPD liegt im Fahrwasser jeder linken Politik wie ein gesunkenes Schiff. Sie versperrt die Ausfahrt ins Offene. Es gibt keinen Aufbruch mit der SPD. Und das liegt nicht am Personal. Wie heißen die Leute an der Spitze? Schahles? Nolz? Das ist ganz gleich. Denn die SPD macht aus anständigen Sozialdemokraten Verlierer und Verräter. Daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Das sitzt viel zu tief.“
b) „Wenn in Deutschland einer für Gerechtigkeit aufsteht, fangen die anderen erst mal an zu murren. […] Besonders abscheulich war die Einlassung der ‚Bild‘-Zeitung, die linke Sammlungsbewegung und ihre Gründer glatt in die Nähe der Nationalsozialisten zu bringen. Weil die Nazis ja auch keine Partei sein wollten, sondern Bewegung. Das hat Michael Wolffsohn geschrieben, der ‚Bild‘-Historiker fürs Grobe. Man erinnert sich: Es ist seit jeher eine beliebte Denkfigur der Rechten, Nationalsozialisten zu Sozialisten zu erklären.“ …
Das braucht keinen Kommentar.
am
Film ab
Der Vater Horst Brasch, wiewohl die Nazibarberei im Westexil überlebt habend, schaffte es als stromlinienförmiger SED-Funktionär bis fast in die oberste Führungsriege. Dann bescherte ihm die politische Unbotmäßigkeit seines ältesten Sohnes Thomas einen Karriereknick, obwohl er diesen höchst selbst ob dessen oppositioneller Aktivitäten gegen das Abwürgen des Prager Frühlings durch sowjetische und andere Warschauer-Pakt-Truppen bei den Organen angezeigt hatte. Dieser Horst Brasch wollte sich in späteren Jahren, weil er sich von der Partei nicht mehr hinreichend geliebt glaubte, das Leben nehmen, was verhindert wurde. Das war seinen Söhnen Thomas (56), Klaus (29) und Peter (45) nicht vergönnt, die an den Verhältnissen in der DDR und in ihrer Familie, an den Zeitläuften und nicht zuletzt an sich selbst dermaßen litten, dass sie unter Zuhilfenahme von Alkohol ihre Leben vorzeitig beendeten. Zu den zeitweise Mit-Leidenden zählten die Lebensgefährtinnen von Thomas (unter anderem Bettina Wegner und Katharina Thalbach) und Peter. Diese sowie die einzige Überlebende der Brasch-Kinder, die Schwester Marion, erzählen in Annekathrin Hendels dokumentarisch montiertem Film vom Familienkrieg und -untergang der Braschs, ergänzt durch Beiträge enger Freunde von Thomas (Christoph Hein, Florian Havemann) und weiterer Zeitzeugen.
Dass die DDR dabei junge kritische Geister, denen es im Lande nicht zu viel, sondern zu wenig Sozialismus gab, als Staatsfeinde behandelte, dürfte unter den konstituierenden Facetten ihrer eigenen Untergangsursachen nicht die geringste sein.
Clemens Fischer
„Familie Brasch. Eine deutsche Geschichte“, Regie: Annekathrin Hendel. Derzeit in den Kinos.
„Viele Töchter haben sich als tüchtig erwiesen, du aber übertriffst sie alle“
Kurt Tucholskys Tante Ida liegt auf dem jüdischen Friedhof von Schwedt begraben. Der Grabstein von Ida Meinhardt, geborene Tucholsky auf dem jüdischen Friedhof an der Helbigstraße in Schwedt ist einer der ganz wenigen steinernen Zeugen der Familiengeschichte der Tucholskys. Ida kam am 26.1.1857 in Greifswald als Tochter des Kaufmanns Neumann Tucholsky und dessen Ehefrau Rosalie geborene Heimann zur Welt. Neumann war am 1. Oktober 1854 von seinem Heimatort Obersitzko (Posen) nach Greifswald gezogen und hatte dort am 13.11.1854 das Bürgerrecht als Kaufmann im 1. Stand erworben. 1895 zog er nach Berlin, verstarb dort aber bereits am 12.7.1896, sechs Jahre später folgte ihm seine Frau Rosalie in den Tod.
1887 heiratete Ida den Schwedter Kaufmann Max Meinhardt aus einer alteingesessenen jüdischen Familie, die den Familiennamen Meinhardt im Zuge des „Preußischen Ediktes betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ von 1812 neu angenommen hatte. Die Annahme des festen Familiennamens war Grundvoraussetzung dafür, preußischer Staatsbürger zu werden. Nur drei Jahre nach der Hochzeit verstarb Ida am 20.5.1890, bestattet wurde sie auf dem jüdischen Friedhof von Schwedt. Wie so oft auf jüdischen Grabsteinen betont die Inschrift die besondere Tugendhaftigkeit und Tüchtigkeit der Verstorbenen (siehe Titelzitat). Er ist auf beiden Seiten beschriftet, die Vorderseite in hebräischer und die Rückseite in deutscher Sprache. Der klassizistische Stil des gesamten Grabsteins wird durchbrochen von der heraus gemeißelten Umrandung der Inschrift, die dann im oberen Teil in eine orientalisch anmutende tempeldachartige Spitze mündet. Auffallend ist auch der sehr große, klobige Sockel, der den Grabstein sehr stabil erscheinen lässt und somit verdeutlicht, dass das Grab nicht nur optisch beständig ist: es ist gemäß jüdischer Tradition für die Ewigkeit angelegt und gehört dem Toten.
Max und Ida Meinhards Tochter Ilse kam am 17.8.1887 in Schwedt zur Welt. Sie heiratete 1927 in Berlin Robert Neumann, die Ehe blieb nach einer Totgeburt im Jahr 1928 kinderlos („Ilse hat ein totes Kind geboren“ schrieb Kurt Tucholsky in einem Brief vom 4.6.1928 an seine zweite Ehefrau Mary Gerold). Ein paar Jahre später hatte sich die politische Lage in Deutschland dramatisch zugespitzt, das Ehepaar Neumann konnte vor den nationalsozialistischen Verfolgungen gerade noch rechtzeitig nach Mailand fliehen, wo Robert Neumann jedoch bereits am 10.8.1937 starb. Ilses Weg führte nun zunächst nach Zürich, am 30.6.1939 konnte sie dann im englischen Southhampton auf der S.S. Washington die lange Seereise nach Amerika antreten. Es war eine Reise ohne Wiederkehr: ihre deutsche Staatsbürgerschaft hatten die Nationalsozialisten längst annulliert. Als Zieladresse war auf der Passagierliste Rose Tuholske Jonas eingetragen, die amerikanische Verwandte der Tucholskys in Saint Louis (Missouri).
Die neu gewonnene Freiheit Ilses war durch Krankheit überschattet, ein Resultat der Strapazen der Flucht aus Deutschland: am 14.8.1940, drei Tage vor ihrem 53. Geburtstag, starb Ilse Meinhardt, geborene Tucholsky in Los Angeles. Als vermögende Frau hatte sie notariell festgelegt, dass ihre Lieblingstante Berta Tucholsky bis zu deren Lebensende eine monatliche Zahlung von 100 Dollar überwiesen bekommen sollte und für sie und andere Begünstigte einen Trust eingerichtet (eine über 400 Seiten umfassende Akte darüber wird im amerikanischen Nationalarchiv aufbewahrt).
Die Familie Tucholsky ist in Deutschland fast vollständig erloschen, es lebt nur noch Kurt Tucholskys Großkusine Brigitte Rothert. Weitere Grabsteine der Familie Tucholsky findet man auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin.
Bettina Müller
Zweimal Mephisto
Das Goethesche Weltdrama. Reduziert auf drei Figuren und ihren jeweiligen Dunstkreis. Faust, Margarete, Mephisto. Breit gespiegelt in der Kunst. Theatralisch, musikalisch, literarisch, filmisch, malerisch, grafisch; in Marmor, in Bronze und im Hologramm. Bis Ende Juli beeindruckend gezeigt in der Münchner Kunsthalle. Aus der Fülle des Gebotenen entschied ich mich für Mephisto, den Vielgesichtigen. Interessanter als Faust, weitaus klüger als Margarete und gewiefter Antipode seines Herrn, dem er eine Wette abschwatzt (Faust I, Prolog im Himmel), die er am Ende doch verliert.
Der Geist, der stets verneint, in kühlem Marmor, lebensgroß und in Denkerpose. Er sitzt auf einem Felsblock – wohl zwischen Himmel und Erde –, hat das rechte Knie hochgezogen, stützt die Hände darauf und das Kinn. Von athletischer Nacktheit. Er sinniert, nicht in sich versunken, sondern bei angespannter Wachheit und zum Sprung bereit. Und in kalter Überlegenheit den Blick auf die Welt gerichtet. Kein Schelm, kein Verführer. Die Perfektion des Bösen. Man bewundert und schaudert zugleich. – Der russische Bildhauer Mark Antokolski (1843–1902) schuf die Skulptur.
Den Schalk Mephistopheles zeichnete der Schalk Robert Gernhardt (1937–2006), Schriftsteller, Maler, Karikaturist, Zeichner, Parodist. Ich vermute, ehe er seinen Beelzebub aufs Papier brachte, fiel ihm, um sich mit dem Schöpfer des Himmels und der Erde ins Benehmen zu setzen, folgendes „Gebet“ ein: „Lieber Gott, nimm es hin, / dass ich was Besond’res bin. / Und gib ruhig einmal zu, / dass ich klüger bin als du. / Preise künftig meinen Namen, / denn sonst setzt es etwas. Amen.“
Der Leibhaftige, von kräftiger Statur, behaart, mit langen spitzen Fingernägeln, zwei kleinen Hörnern auf der Stirn, großen Ohren am Kopf, lümmelt vor einem aufgeschlagenen Buch. Er reißt das Satansmaul so weit auf, dass man fast bis in den Rachen der Hölle gucken kann. Mephisto langweilt sich und gääääähnt …
Das Blatt entstammt der Reihe „Deutsche Leser“. Robert Gernhardt nannte es: „Der Teufel liest Faust II“.
Renate Hoffmann
Kurze Notiz zu Löbejün
Wer an einem Sonntag durch Löbejün streift, gewinnt schnell den Eindruck, auf dem Friedhof ginge es noch am lebendigsten zu: Dort zwitschern die Vögel, Schmetterlinge flirren durch die Luft – doch die Stadt selbst mit ihren gewundenen Straßen und Gassen scheint seltsam leer und öde.
Löbejün ist in jedem Sinne eine Ackerbürgerstadt, daran haben auch die vergangenen Zeiten der Kohleförderung nichts geändert: Auch im achten Jahrhundert des Stadtseins bestimmen niedrige und breit verlaufende Gehöfte die Szene. Geradezu mittelalterlich muten die sich schlängelnden, über für das Saaletal so untypische Hügel verlaufende Gassen an, die zu eng sind, als dass zwei Autos aneinander vorbeikämen. Löbejün schimmert rötlich vom hier geförderten und verbauten Porphyr, es riecht nach dem Raps der umliegenden Felder und auch ein bisschen nach verstaubtem Stillstand.
Die Stadt ist in vielerlei Hinsicht abgehängt worden: Weit nördlich der Saale gelegen, profitiert Löbejün weder von Halle noch vom Leipziger Flughafen. Es gibt hier nicht einmal einen Bahnhof! Und seit der Zusammenlegung mit Wettin zum sperrig klingenden Wettin-Löbejün ist die kleine Stadt zum Ortsteil ohne viel Verwaltungsapparat herabgesunken.
Warum also nach Löbejün reisen, wo selbst das Schiller-Denkmal zu fragen scheint: Was mache ich eigentlich hier?
Es sind die alten Steinbrüche, die vielleicht keine Massen, dafür aber sehr spezielle Besucher nach Löbejün ziehen. Die bis zu 40 Meter hohen Felswände sind beim Deutschen Alpenverein registrierte Kletter-Hotspots. Und die künstlichen Seen unterhalb der Felsformationen laden zum Angeln ein: Karpfen, Hechte, Störe … In der Szene ist Löbejün bekannt.
Mit dem Übernachten wird es dann aber wieder knifflig. Denn zuletzt ist Löbejün eben doch recht öde. Und so empfiehlt der Alpenverein dann eher die Jugendherberge im zwanzig Kilometer entfernten Halle. In der kleinen Stadt selbst gibt es keine Alternativen.
Thomas Zimmermann
Das andere Wittenberg
Wenn der Name „Wittenberg“ fällt … na klar, da denkt man unwillkürlich an Martin Luther … vor allem nach dem Reformationsjubiläum 2017. Bei einem Spaziergang durch die Stadt begegnet einem der Reformator auf Schritt und Tritt. Den Journalisten und Sachbuchautor Mathias Tietke, seit 1987 Wahl-Berliner, muss es jedoch irgendwie gewurmt haben, dass seine Geburtsstadt häufig auf Luther allein reduziert wird. Dabei hat Wittenberg neben dem Reformator noch viel mehr zu bieten.
Nach mehreren Wittenberg-Büchern stellt Tietke nun in seinem neuen Buch „Wittenberg. Alles außer Luther“ Sehenswürdigkeiten und Aspekte vor, die bisher vernachlässigt, ja ignoriert wurden – und das in den unterschiedlichsten Bereichen. So haben frühgeschichtliche Entwicklung und Stadtgründung, sowie Architektur, Technik und Kunst ihre Spuren hinterlassen, wenn auch einige mittlerweile verblasst sind.
Zunächst macht der Autor auf die archäologischen Funde aufmerksam, die im Umfeld von Wittenberg zu finden sind – zum Beispiel eine slawische Siedlung oder eine askanische Burg. Immerhin machten die sächsisch-askanischen Herzöge und Kurfürsten die Siedlung zur Stadt und prägten als Landesherren 242 Jahre lang den Ort. Ergänzt wird dieser Abschnitt durch einige Kurzbiografie und eine mehrseitige Chronik historischer Ereignisse.An architektonischen Sehenswürdigkeiten hat Wittenberg ebenfalls viel zu bieten, vom Alten Rathaus über die Stadtpfarrkirche St. Marien, die eindrucksvollen Jugendstilhäuser oder die sanierte Werksiedlung Piesteritz bis hin zu den Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Jüngstes Beispiel ist die Hundertwasserschule, die sich zwar abseits der Touristenmeile befindet, wodurch man aber auch andere Straßenzüge der Stadt kennenlernt.
In puncto Technik und Industriedenkmale braucht sich Wittenberg ebenfalls nicht zu verstecken. Tietke sucht so eine Papierfabrik, ein Eisenwerk oder ein kirchliches Forschungsheim auf. Die beliebten Othello Kekse und Hansa Kekse liefen in den Wikana-Werken vom Band. Dass in Wittenberg zwischen 1936 und 1945 auch Flugzeugteile hergestellt wurden, dürfte weniger bekannt sein. Im Direktionsgebäude der ehemaligen Arado-Flugzeugwerke befindet sich heute das Finanzamt.
Das Kapitel „Kunst“ beginnt natürlich mit der Malerfamilie Cranach, die mit ihren zahlreichen Bildnissen der Reformation ein Gesicht gaben. Aber auch später fanden viele Künstler (darunter Schriftsteller und Tonkünstler) in Wittenberg ihre künstlerische Heimat.
Mit viel historischem und technischem Detailwissen (sowie zahlreichen eigenen Farbfotos) nimmt Tietke den Leser mit auf eine Entdeckungsreise durch Wittenberg und Umgebung jenseits von Luther. Ihm geht es aber nicht darum, einen Luther-Gegenpool zu schaffen, sondern um die vielen anderen Facetten der Stadt, auf die hier teilweise erstmalig hingewiesen wird. Natürlich ist dem Autor (und dem Leser) bewusst, dass Luther der touristische Leuchtturm Wittenbergs ist und ohne ihn ganz anders aussehen würde.
Manfred Orlick
Mathias Tietke: Wittenberg. Alles außer Luther – Landschaft, Kunst, Technik, Architektur, Mitteldeutscher Verlag Halle, 224 Seiten, 12,95 Euro.
Verstecktes Foulspiel
Wenn Parteien mitten in einer Legislaturperiode ganz- und/oder doppelseitige Werbung für sich machen, deutet allein das darauf hin, dass sie die Wahrnehmung ihrer Leistungen bitter nötig haben. Nicht nur, aber besonders ist das bei der SPD so, für die sich der Wählerzuspruch in betrüblichem Sinkflug befindet. Insofern also irgendwie nachvollziehbar, wenn einem in einem der hauptstädtischen Anzeigenblätter doppelseitig vor Augen kommt, dass dank der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus die hauptstädtische Kita-Betreuung nun kostenlos ist, auch die Hortgebühren schrittweise abgeschafft werden und die Lernmittelfreiheit wieder eingeführt worden ist, zunächst für Grundschulkinder, bis 2021 für Schüler aller Altersstufen. Das sind nun wirklich soziale Errungenschaften, keine Frage. Und korrekt ist auch, dass ihnen allen eine – schon länger andauernde – Initiative der Sozialdemokraten zugrunde liegt. Indes: Diese allein hätte ja nun nicht genügt, diesen Vorhaben auch Gesetzeskraft zu verleihen. Dafür braucht es in einer Koalitionsregierung nun mal die Zustimmung d e s, oder in Berlin sogar d e r Partner in gemeinsamer Regierung. Für einen Hinweis darauf, und sei er auch noch so klein, müsste auf einer textlich sehr luftigen Anzeige doch Platz sein, statt ausschließlich sich selbst zu meinen, wenn überall von „Wir“ die Rede ist. Im Sport würde man in einem solchen Fall von einem versteckten Foul sprechen, schade, denn ob man sein Renommee auf diese Weise wirksam aufbessert?
HWK
Eingezogene Schwänze
Das kommt uns doch ziemlich bekannt vor: Fachleute raten dringlich zu finanz- und/oder ökonomischen Änderungen zum Wohl des Staates und damit seines Volkes, nicht nur die deutsche Regierung aber tut in der Regel nichts oder doch nur extrem selten dergleichen: Die seit 1972 (!) vorgeschlagene Tobin-Steuer etwa, mittels derer Finanztransaktionen internationaler Devisengeschäfte in die Besteuerung einbezogen werden könnten, sei hier nur als Beispiel genannt.
Nun ist von einem analogen Verhalten der politischen Macht gegenüber der fiskalisch-wirtschaftlichen in Russland die Rede. Aufs Tapet gebracht worden war da durch einen Berater Putins, eine Sondersteuer auf Extraprofite zu erheben, die die russischen Rohstoffexporteure infolge des Verfalls des Rubelkurses eingestrichen haben. Etwa 500 Milliarden Rubel, so die Schätzung, könnten dadurch dem Staatshaushalt zufließen, und da dieser ja nun wirklich nicht nur aus dem Posten für Militär und Rüstung besteht, wäre vermutlich auch die eine oder andere erhoffte soziale Wohltat möglich. Aber ach – wie das auch hierzulande sattsam bekannt ist, ist in Russland umgehend die Bourgeoisie auf die Barrikaden gegangen und hat alles beschworen, was aus einer solchen Steuer dem Land an Ruin erwachsen würde: Ausbleibende Investitionen, Pleiten, Stilllegungen, Arbeitslosigkeit und anderes mehr. Und – dito bestens vertraut – hat auch die russische die Macht umgehend ihren Schwanz eingezogen. Finanzminister Anton Siluanow jedenfalls erklärte nach einem Gespräch mit dem Spitzenverband der russischen Industrie, das Projekt werde nicht weiterverfolgt. Im Gegenzug verpflichtete sich die Industrie, ihre Profite im Lande zu investieren. Wie grundfalsch und manipulativ lauthalse Klagen der Wirtschaft in der Regel sind, weiß man in Deutschland spätestens seit die Wirtschaftsverbände die Einführung des Mindestlohns zum Ende der Wirtschaft überhaupt erklärten, die einschlägigen Stichworte waren seinerzeit die gleichen. Ebenso wissen wir bereits, was von pseudodemokratischen „Selbstverpflichtungen der Wirtschaft“ zu halten ist. Ob in Russland, Deutschland oder sonstwo im real existierenden Kapitalismus gilt ungebrochen: Egal, wer unter den Wirtschaftsverbänden regiert, er regiert immer und zuvörderst ihrem Sinn. Dass dabei in guter ökonomischer Lage und durch soziale Kämpfe der Lohnabhängigen auch das eine oder andere Fortschritt möglich ist, ist unbenommen, prägend allerdings nun nicht wirklich nicht.
Helge Jürgs
Sternchen am Publikationshimmel
Publikationen, die meinen, den immer differenzierteren Ansprüchen von (derzeit noch) Minderheiten solidarisch gerecht zu werden, haben es nicht leicht, auch das ND nicht, weiß Gott. So ist – nur als Beispiel – in einem Beitrag vorbildlich von Vietnames*innen, Migrant*innen oder Vertragsarbeiter*innen die Rede, in einem Text gleich darunter aber schnöde gefühlsverletzend-neutral von „Senioren“, eine Seite zuvor lediglich von Neonazis; als wenn es da keine *innen gäbe. Als Marx immerhin nahestehende Publikation sollte sich gerade das ND künftig kompromisslos dessen fixiertem Feuerbach-Diktum beugen, das da lautet: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu vergendern.
Um hier aber nicht nur destruktiv zu kritisieren, gleich noch ein, wie ich meine, ziemlich revolutionärer Vorschlag dazu, wie auch in der vokalen Kommunikation klar gegendert werden könnte. Setzt man zum Beispiel den bei den südafrikanischen Xhosa gebräuchlichen Klicklaut an jene Stelle, an der im Schriftlichen ein Sternchen oder Unterstrich gebräuchlich ist, würden auch hier klare Verhältnisse herrschen; eigentlich müsst man nur wollen…
Hella Jülich
Aus anderen Quellen
Am 26. August 1978 ist Sigmund Jähn vom kasachischen Weltraumbahnhof Baikonur in den Weltraum geflogen. „Als erster und einziger DDR-Bürger, aber auch als erster Deutscher.“ Daran erinnert Jana Hensel und konstatiert: „Bis heute kennen den ersten Deutschen im Weltraum viele Westdeutsche nicht.“ Dass das so bleibt, ist offenbar auch ein Anliegen der Bundesregierung, denn die gratulierte Jähn weder im vergangenen Jahr zu dessen 80. Geburtstag, noch jetzt zum 40. Jahrestag seines Fluges. Zumindest versicherte das Kanzleramt auf die Einlassung eines Bürgers, ob „die Vernachlässigung der historischen Leistung dieses Mannes nicht dem Umstand geschuldet ist, dass er aus der DDR stammt“, „dass die Herkunft von Herrn Sigmund Jähn aus der DDR nicht das Kriterium für die Entscheidung darstellte, ihm kein Glückwunschschreiben der Bundeskanzlerin im letzten Jahr zu übersenden“. Doch was gab’s dann für einen Grund für die Ignoranz?
Dafür, dass Jähn auch künftig kein gesamtdeutscher Held mehr wird, sorgen nicht zuletzt solche Westgazetten wie DIE ZEIT, die Hensels Beitrag ihren Westlesern gar nicht erst zumutet, sondern den lediglich in ihrer Regionalausgabe Ost (Auflage? 500?) Lesern zu Gesicht bringt, denen man nun wirklich nicht erklären muss, wer der erste deutsche Fliegerkosmonaut ist.
Jana Hensel: Sigmund Jähn. Warum ist dieser Mann kein Held?, zeit.de, 22.08.2018. Zum Volltext hier klicken.
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Zu Andreas Dresens am 23. August in den Kinos angelaufenen Film bemerkt Birgit Walter: „Es sei ein Stasi-Film geworden. Was denn, wirklich? Regie führte doch Andreas Dresen, Meister der Abwägung und der Genauigkeit, vertraut mit den Lebensverhältnissen im Osten im Allgemeinen, dem Werk von Gundermann im Besonderen. Er wird doch die Lebensdramen des allseits verehrten Helden aus dem Kohlebergbau von Hoyerswerda nicht auf diese elenden Spitzel-Episoden fokussiert haben! Doch.“ Zugleich räumt Birgit Walter ein: „Ist schon klar, was Andreas Dresen und die Drehbuchautorin Laila Stieler reizte, Gundermann auf die Stasi-Schiene zu setzen – mehr Widerspruch in einer Person geht nicht. Er war Spitzel und Bespitzelter, Täter und Opfer, Held und Antiheld, dabei bis zum Schluss ein Überzeugter, wie der Kommunismus nur wenige hervorgebracht hat […].“ Den Stab über Gundermann bricht die Autorin nicht, den über das System schon: „Dass die DDR nicht mal Halt machte vor ihren glühenden Anhängern, sondern sie perfide zum Ausspionieren anstiftete, kann man ihr gar nicht übel genug nehmen.“
Und das Fazit der geschätzten Kollegin zum Film?
„Es bleibt trotzdem ein liebevoller, packender Film.“
Birgit Walter: „Gundermann“. Stasi-Spitzel, Liedermacher und Baggerfahrer, berliner-zeitung.de, 14.08.2018. Zum Volltext hier klicken.
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In einem Beitrag über den Bürgerkrieg in Russland nach der Oktoberrevolution von 1917 schreibt Reinhard Lauterbach: „Dass der Aufbau der Roten Armee wahrscheinlich die wichtigste Einzelleistung ist, die zum Überleben der Sowjetmacht beigetragen hat, ist in der Forschung unstrittig. Aber natürlich siegten die sowjetischen Truppen in den drei Kampagnen der Jahre 1918 bis 1920 […] gegen ihre konterrevolutionären Gegner nicht nur deshalb, weil hinter jedem gewendeten Zarenoffizier ein Kommissar mit der Pistole in der Hand stand. Sie siegten erstens, weil sie die industrialisierten zentralrussischen Gebiete kontrollierten, und zweitens, weil sie über das in Moskau zusammenlaufende Eisenbahnnetz verfügten. Da in Zentralrussland der Großteil der russischen Bevölkerung lebte, besaßen sie gegenüber ihren Gegnern zudem auch die größere Rekrutierungsbasis. Vor allem aber siegten sie, weil die Antirevolutionäre der überwiegend bäuerlichen Bevölkerung kein politisches Programm bieten konnten, das ihnen das garantiert hätte, was der zentrale Inhalt der Agrarrevolution von 1917/18 gewesen war: Land für die Bauern.“
Reinhard Lauterbach: Verlorene Illusionen, jungewelt.de, 04.08.2018. Zum Volltext hier klicken.
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Sonderermittler Robert Mueller, Ex-FBI-Chef und mit zwölf Jahren an der Spitze des Dienstes nach J. Edgar Hoover der Direktor, mit der zweitlängsten Amtszeit, sehen ob seiner Untersuchungen gegen Präsident Trump viele in den USA „als grundehrlichen Mann, der dem Interesse des amerikanischen Volkes dient“. Kevin Ryan hält dagegen: „diese Einschätzung kann nicht verteidigt werden, wenn man über Muellers Vergangenheit Bescheid weiß. Nicht viele kennen Muellers lange Geschichte als Leiter von Regierungsuntersuchungen, die Ablenkungsmanöver oder Vertuschungen waren. Dazu gehört die Untersuchung des Bombenanschlags von Lockerbie 1988 (Pan-Am-Flug 103), die Untersuchung zur Bank of Credit and Commerce International (BCCI), die Terroristen finanzierte, und die FBI-Untersuchungen der Verbrechen vom 11. September 2001.“
Kevin Ryan: Der talentierte Mr. Mueller, Rubikon, 15.08.2018. Zum Volltext hier klicken.
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Die Blätter für deutsche und internationale Politik publizieren auf ihrer Homepage regelmäßig aktuelle zeitgeschichtliche Dokumente. Darunter vor kurzem einen Bericht von „Reporter ohne Grenzen“, in dem zur Lage in Deutschland festgehalten ist: „Immer wieder geraten Journalisten ins Visier von Geheimdiensten und Strafverfolgungsbehörden. Gleichzeitig werden Institutionen wie die Behörde Zitis geschaffen, um verschlüsselte Kommunikation anzugreifen. Das gefährdet die vertrauliche Kommunikation insbesondere zwischen Investigativjournalisten und ihren Informanten. Nach einer erfolgreichen Klage von Reporter ohne Grenzen wurde dem Bundesnachrichtendienst in einem wegweisenden Urteil erstmals seit Jahrzehnten bei der Metadatensammlung Schranken gesetzt.“ Auch dabei die Ergebnisse einer Umfrage der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN): „Mehr als zwei Drittel aller Bundesbürger sind für einen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland sowie den Beitritt Deutschlands zum internationalen Atomwaffenverbot.“
„Deutschland liegt auf der Rangliste der Pressefreiheit im Mittelfeld der EU-Staaten“, Bericht von Reporter ohne Grenzen, 09.07.2018. Zum Volltext hier klicken.
Mehr als zwei Drittel der Bundesbürger ist für einen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland“, Umfrage der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), 06.07.2018. Zum Volltext hier klicken.
Schlagwörter: "Aufstehen", Andreas Dresen, Berlin, Bettina Müller, Birgit Walter, Blätter für deutsche und internationale Politik, Bürgerkrieg, Clemens Fischer, Familie Brasch, Gender, Gundermann, Helge Jürgs, Hella Jülich, HWK, Jacob Augstein, Kurt Tucholsky, Löbejün, Manfred Orlick, Mark Antokolski, Mephisto, ND, Oktoberrevolution, Pressefreiheit, Renate Hoffmann, Robert Gernhardt, Robert Mueller, Russland, SPD, Stasi, Thomas Zimmermann, Trump, US-Atomwaffen, Wittenberg