16. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2013

Bemerkungen

Der Whistleblower-Preis 2013

Es gibt nicht häufig Veranstaltungen, gerade Preisverleihungen, bei denen man – im besten Fall – berührt wird, sondern diese zugleich beschwingt, mit neuem Mut und Hoffnung verlässt. Die IALANA (International Association of Lawyers Against Nuclear Arms), die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler VDW sowie Transparency International Deutschland haben am 30. August Edward Snowden den Whistleblower-Preis 2013 verliehen. Sein Platz blieb leer, aber er war sehr präsent in den Ansprachen, die gehalten wurden (siehe auch die Laudatio von Sonia Seymour Mikich in dieser Ausgabe). Glenn Greenwald, Journalist des Guardian, der in Brasilien lebt und – selbst gefährdet – ständig den Wohnsitz wechseln muss, machte in einer Videobotschaft deutlich, dass das Wichtigste an Edwards Snowdens Enthüllungen gar nicht die Fakten selbst sind, sondern die Erkenntnis, dass jeder Mensch etwas tun kann, um die Welt zu verändern. Snowden hat eine globale Debatte angestoßen, deren Auswirkungen sich noch gar nicht abschätzen lassen.
Glenn Greenwald berichtete über sein erstes Gespräch mit Edward Snowden in Hongkong. Snowden war sich danach sehr bewusst über die persönlichen Konsequenzen, die er zu tragen haben würde, dass er als Verräter gebrandmarkt würde, als Krimineller, dass er gejagt werden würde. Dennoch folgte er seiner Überzeugung. Ein Mandela des 21. Jahrhunderts?
Jacob Appelbaum, ein amerikanischer Internetaktivist, überbrachte eine Botschaft von Edward Snowden, der Daniel Ellsberg zitiert: Mut ist ansteckend. Edward Snowden verweist auf die vielen Unbekannten, die sich für das Recht zu Wissen unter vielen Risiken einsetzen, auf Journalisten, die der Regierung Fragen stellen, bedankt sich bei den Vielen, die mit kleinen Aktionen zeigen, dass Wandel mit einer einzigen Stimme beginnt. Die Botschaft ist, sagt er: Regierungen haben sich uns gegenüber für ihre Entscheidungen zu verantworten. Entscheidungen darüber, in welcher Art von Welt wir leben. Es ist eine öffentliche Frage, welche Rechte und Freiheiten Individuen genießen werden, nicht eine der Regierung im Verborgenen...
Beindruckend und ermutigend.

Margit van Ham 

Die Whistleblower-Preisverleihung ist per Video und Text auf der folgenden Website anzusehen:
http://vdw-ev.de/index.php/de-DE/arbeitsfelder-der-vdw/informationen-zu-qwhistleblowernq/preisverleihung-fuer-whistleblower

Genug ist nie genug

Vor einigen Monaten war eine Blättchen-Sonderausgabe der Atommacht Pakistan und deren Eigentümlichkeiten gewidmet. Dabei ging es auch darum, dass die USA Einsatzpläne vorbereitet haben, um das pakistanische Nuklearpotential im Falle eines Kollaps‘ der dortigen Staatsmacht mit Spezialkräften unter amerikanische Kontrolle zu bringen oder, wo das nicht möglich ist, mittels gezielter Militärschläge auszuschalten, um zu verhindern, dass radikale Islamisten oder andere terroristische Vereinigungen Zugriff darauf erhalten. Die Sache hatte nur einen Haken, den Obamas erster Sicherheitsberater, General James Jones, folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Wer immer Ihnen erzählt, dass man wisse, wo alle pakistanischen Sprengköpfe sich befinden, der belügt Sie.“
Islamabad, so ebenfalls in der Sonderausgabe, sei – nach Kenntnisnahme der US-Pläne – dazu übergegangen, Kernwaffenkomponenten und wohl auch weitgehend einsatzfähige Sprengköpfe in zivilen Fahrzeugen ohne erkennbare Sicherung im Lande umher zu transportieren, um Zugriffsszenarien wie die der USA damit zu konterkarieren.
Die Washington Post hat vor kurzem über ein weiteres Dokument aus dem Fundus des Whistleblowers Edward Snowden berichtet: Auf 178 Seiten finden sich die Budget-Anforderungen der 16 US-Geheimdienste für das ablaufende Haushaltsjahr; die summieren sich auf unglaubliche 52,6 Milliarden Dollar. (Mit nur wenig mehr muss in diesem Jahr die gesamte Bundeswehr auskommen!) Allein 14,7 Milliarden davon beantragte der Auslandsgeheimdienst CIA und rund zehn Milliarden der Abhörkrake NSA.
Die Zahlen allein waren ja zuvor nur geheim, aber richtig peinlich wurde die Veröffentlichung, weil zugleich aufgelistet wurde, dass es trotz gigantischer Budgets – merke: Genug ist nie genug! – ganze strategische Bereiche gibt, in denen die US-Dienste blind sind. Dazu zählt neben Nordkorea und den Fähigkeiten neuer chinesischer Kampfflugzeuge sowie den Absichten der libanesischen Hizbullah-Miliz auch: „Unzureichende Erkenntnisse hat die amerikanische Regierung […] über die Sicherheit pakistanischer Atomwaffenkomponenten beim Transport […].“

Alfons Markuske

Heimatkunde

Einer meiner Bekannten sammelt. Er sammelt die Artefakte einer untergegangenen Welt: biedermeierliche Kaminuhren und Porzellane einer berühmten Manufaktur. Er kann sich das leisten. Von Beruf ist er Erbe und hat zudem einen gut bezahlten Nebenjob.  Viele meiner Freunde sammeln auch.  Sie sammeln die Artefakte eines untergegangenen Landes:  Etiketten von Gurkengläsern, Abzeichen und Partei-Broschüren, die sie in den untergegangenen Zeiten nur mit  spitzen Fingern anfassten. Das können sie sich leisten. Von Beruf sind sie entweder im Ruhestand oder in einem unfreiwilligen Ruhezustand, von gelegentlichen „Maßnahmen“ unterbrochen. Mancher schafft frei und hat nächtens Furcht vor kommenden Zeiten, denen wir gemeinsam seinerzeit fröhlich mit Bahn bereiten halfen.
Erhard Weinholz,  Blättchen-Autor, hat über einen solchen Sammler ein berührendes Büchlein, „Ortsgespräch oder Erinnerung an Sandwegsheide“, geschrieben. Sein Held heißt Stefan Sundewitt, in die Berentung entlassener Museumsmann aus einem Kaff im Mittelmärkischen. Da war einst ein berühmter Rangierbahnhof – ich kenne das Nest, aber halt: Sandwegsheide war eigentlich überall, jeder kennt es – und Sundewitt redigiert dort die Lokalzeitung „Signal“. Auch die Handlungszeit lässt sich für DDR-Kundige leicht bestimmen. Die bleiernen Endachtziger sind es: „… die werben jetzt auf Teufel komm raus.“ Parteimitglieder nämlich, im Zusammenhang mit einer seinerzeit geplanten, aber nicht mehr zustande gekommenen „Säuberungskampagne“. Aber auch diese zeitliche Ortung wäre falsch und sinnlos zudem. Weinholz’ Geschichte, die genau genommen auch keinem stringenten Erzählfaden folgt, beschreibt die Endphase einer Gesellschaft, die ebenso wie seine Protagonisten glaubt, sie hätte noch „alle Zeit der Welt“. Er erzählt von Verlusten. Zum Beispiel davon, dass von der großen Utopie nur noch einzelne goldlackierte Pappbuchstaben der Wandzeitungslosungen übrig geblieben sind und selbst Hanka nach Berlin abhaut. Stefan bleibt nichts anderes übrig, als die kärglichen Spuren seiner im Untergang befindlichen Zeit in „bald drei Dutzend“ Sammlungen aufzubewahren: Eislöffel aus Plaste, Abzeichen, Etiketten, Notizzettel, Fotos… In Sandwegsheide benutzte niemand KPM-Tassen. Oberflächlichen Lesern mag die Geschichte wie eine böse Parodie erscheinen. Der Autor räumt dies an einer Stelle sogar ein, aber mit der Einschränkung: „Parodie mit etwas Liebe“.
Liebe? Lieben wir unser „sozialistisches Heimatland“, diese Republik? – fragt sich Stefan Sundewitt, als ihm ein altes Heimatkundebuch in die Hand fällt. Und antwortet: „Sogar sie. Aber nur aus Mitleid: Weil sie so klein ist, klein, schmutzig und verlogen. Sie lügt nicht aus Bosheit. Sie tut es aus Angst.“ Ach so, die Sammlungen. „’Mein Gott, was fürn Plunder’, sagten die Leute. […] ‚Wir ham andere Sorgen, sagen die Leute, ‚[…] neunzig verlorene Jahre…‛“
Das ist bitter, sehr bitter.

Wolfgang Brauer

Erhard Weinholz: Ortsgespräch oder Erinnerung an Sandwegsheide, trafo Literaturverlag, Berlin 2013, 110 Seiten, 9,80 Euro.

Blätter aktuell

Fünf Jahre sind vergangen seit dem Crash von Lehman Brothers, doch ein Ende der Krise ist noch immer nicht in Sicht. Michael R. Krätke, Professor für politische Ökonomie in Lancaster, zeichnet nach, wie die Krise der Banken erst zu einer Staatsschuldenkrise umdeklariert wurde und sich dann durch einseitige Austeritätspolitik in eine globale Depression verwandelte. Längst basteln EU und USA an einer Lösung zu ihrer Überwindung und damit an den Konturen einer neuen Weltordnung – der neuen transatlantischen Freihandelszone.
Als sich 2009 zum ersten Mal die BRIC-Staaten zusammenfanden, sahen viele darin die Geburt eines neuen, weltpolitisch relevanten Blocks. Doch bis heute ist von der großen Alternative zur Dominanz des Nordens nicht viel zu sehen. Vijay Prashad, Publizist und Professor für Internationale Studien an der American University in Beirut, analysiert die historische Entwicklung des Bündnisses und seine Potentiale. Sein Fazit: Was die BRICS-Staaten derzeit – und wohl auf absehbare Zeit – betreiben, ist Neoliberalismus mit südlichem Antlitz.
Als unlängst der Politikwissenschaftler Claus Offe die Benennung des Preises der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), nach Theodor Eschenburg (1904-1999) ob dessen nicht aufgearbeiteter NS-Vergangenheit kritisierte, löste dies eine intensive Kontroverse über das Selbstverständnis des Faches aus. Hubertus Buchstein und Tine Stein, langjährige DVPW-Vorstandsmitglieder, verteidigen die Haltung Offes gegen seine Kritiker. Sie plädieren für die Umbenennung des Preises – und für eine Politologie, die sich als selbstkritische Demokratiewissenschaft begreift.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem zu folgenden Themen: „Venedig im Ausverkauf: Von der Serenissima zur Benettown“, „Pyrrhussieg in Kambodscha“, „Verbrauchermacht im Supermarkt?“ und „Ein Whistleblower in der Zwangspsychiatrie“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, September 2013, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet: www.blaetter.de

Ein Hippie-Fest

Jedes Jahr weist die Presse gern auf das friedliche Hippie-Fest am Fuße der Burg Herzberg im waldreichen hessischen Land hin. Die Bands werden in den höchsten Tönen gelobt, auch wenn deren Mitglieder schon hornalt sind und nach jedem harten Stück ordentlich Bier trinken müssen. Da wird geschrammelt und bis weit in den Morgen elektronisches Zeugs gespielt, das man vor Vergnügen die Augen verdreht und den schlappen Körper danach einfach über der Pritsche hängen lässt.
Wer von der Presse kommt, der kreuzt beim Burg-Herzberg-Festival unweigerlich seinen Weg mit Gunther Lorz. Irgendwie kommt einem der Mann suspekt vor, denn zuerst begrüßt er die schreibende Zunft mit Witz und Freundlichkeit, kümmert sich danach um Interviewtermine und bleibt auch vergnügt, wenn ihm Festivalteilnehmer mit verdrehten Augen ein Ohr abquatschen. Und jetzt macht der Gunther, der alte Haudegen und Firlefanz auch noch selbst Musik. Er dachte sich in den vielen Jahren der Festival-Organisation bestimmt:„Was die Krautrocker und Electronikfrickler können, kann ich schon lange“. Das Resultat konnte man in diesem Jahr am Eröffnungstag live und in Farbe erleben und darf es nun gar ehrfurchtsvoll nach Hause tragen, denn es liegt seit Ende August das erste Album von Brennente vor, das keinen weiteren Titel benötigt und so die Menschheit nicht vom Sinn des Lebens, vom Wichtigen: der Musik, ablenkt. Noch schnell zum Namen: Klären konnte ich ihn nicht. Der Duden schweigt sich aus, das Internet führt mich auf eine Seite für Geschlechtskrankheiten und meine technisch versierte Tochter erzählte etwas vom Bunsenbrenner…
Musikalisch bieten uns Gunther (an den Tastenbrettern) und seine Mannen (Gitarre: Jonas Dorn, Bass: Philipp Martin, Schlagzeug: Fabian Stevens) und eine Frau jede Menge irgendwie bekannte und doch selten gehörte Melodien an.
Das im Faust-Studio (ja, genau die deutsche Musiklegende) aufgenommene Werk beginnt mit herrlich verquastem Zeugs, einem entzückenden Song über den „Barbie Boy“. Es ist feiner Swing, der im aufmüpfigen Rock endet und gleich ziemlich groovig (wenn man dieses abgelutschte Wort benutzen darf) in die Fortsetzung einsteigt, die sich da „Could You Take Me“ nennt. Danach wird es ruhig um Brennente. Es folgen ziemlich liebliche, trotzdem sehr eindringliche Songs, die an Chanson und Schlager erinnern, aber die fast brutale Stimme von Ulrike Helmholz gut zur Geltung bringen. Ihr Organ, das aus dem inneren der schreienden Seele ans Tageslicht steigt, klingt nach verruchter Kneipe, nach Rauch und nach verdammt teurem Whisky. Irgendwie taucht dann Hildegard Knef auf und am Rock, nebst Kraut – wird noch mit wenigen, sehr eindringlichen, Tönen vorbei geschrammt. Die Texte, die Gunther bestimmt zwischen den Herzberg-Festen geschrieben hat, sind herrlich pervers und unverschämt erotisch. Mit nur wenigen Instrumenten und eben dieser eindringlichen Weibsstimme beschäftigt man sich mit verlorenen Geschlechtsteilen, der chaotischen Stadt Wahnfurt, der brutalen Liebe („Ich will dich“) und dem gewöhnungsbedürftigen Aufeinanderprallen von laut & leise, Rock & Chanson und Mann & Weib: „Rezept für einen Hirtenauslauf“.
Der Sound ist neu und interessant, er sollte in den Clubs, im Netz und vielleicht sogar beim Plattendealer eine Chance bekommen. Wenn jetzt noch das Vinyl erscheint, ist die Gemeinde vollkommen glücklich.

Thomas Behlert

Brennente, Herzberg Verlag, zu beziehen über www.herzbergverlag.de 

Ostdeutscher Literaturkalender

Längst sind die Diskussionen zur Existenz einer eigenständigen DDR-Literatur zu einem Spiegelgefecht geworden. Häufig wirkt die Etikettierung „DDR-Literatur“ wie eine Abwertung, dabei war sie, wenn man die ideologische Brille absetzt, abwechslungsreich, die Realität wiedergebend und lesenswert wie jede Literatur.
Im Vorjahr startete der Reichenbacher Verlag Bild und Heimat den „Ostdeutschen Literaturkalender“, um die DDR-Literatur in all ihren Facetten wiederzugeben. Auch die 2014-Ausgabe gibt wieder einen Einblick in die Vielfalt der DDR-Literatur. Auf 25 Blättern (im Zwei-Wochen-Rhythmus) werden Schriftsteller und Schriftstellerinnen der ehemaligen DDR vorgestellt – darunter so bekannte Namen wie Stephan Hermlin, Anna Seghers, Stefan Heym, Bruno Apitz, Louis Fürnberg, Brigitte Reimann, Helga Schütz oder Peter Hacks. Daneben findet der Literaturfreund aber auch Autoren/innen, die die DDR verließen oder verlassen mussten wie Einar Schleef, Monika Maron oder Jurek Becker. Allein schon diese Aufzählung verdeutlicht die Spannweite der DDR-Literatur.
Der „Ostdeutsche Literaturkalender“ überzeugt neben Auswahl der Autoren/innen vor allem durch seine grafische Aufmachung und die exzellente Papier- und Druckqualität, die besonders die kontrastreichen Schwarz-Weiß-Porträts voll zur Geltung bringt. Die ausgewählten Zitate zeugen von großer literarischer Kompetenz. Tabellarische Kurzbiografien der vorgestellten Schriftsteller/innen erhöhen zusätzlich den Informationsgehalt des Kalenders.
Der „Ostdeutsche Literaturkalender 2014“ im DIN-A4-Format bringt die DDR-Literatur wieder näher. Jeden Montag kann man sich auf ein neues Literaturerlebnis freuen. Einziges kleines Manko: es gibt im Vergleich zum Vorjahreskalender einige Dopplungen an Autoren gibt, dabei hat man sich doch die Vielfalt auf die Fahnen geschrieben.

Manfred Orlick

Ostdeutscher Literaturkalender 2014, Verlag Bild und Heimat Reichenbach 2013, 25 Blatt, 19,99 Euro.

Träume

Für die meisten Menschen versteht es sich von selbst, dass sie nicht in ihre eigenen Träume eingreifen können und sie allem hilflos ausgesetzt sind, was mit ihnen in ihren Träumen geschieht. Allerdings kommt es auch immer wieder vor, dass Menschen berichten, geträumt zu haben und sich dabei ihres Zustands vollkommen bewusst gewesen zu sein.
Solche sogenannten Klarträume sind bis vor kurzem von der Wissenschaft nicht ernst genommen worden. Doch mittlerweile weiß man, dass es tatsächlich möglich ist, Träume mit wachem Bewusstsein zu erleben und sie sogar bis zu einem gewissen Grad zu steuern. Dabei ist im schlafenden Gehirn ein Areal aktiv, das sonst im Wachzustand für die Einordnung und Bewertung von Wahrnehmungen zuständig ist. Der Umstand, dass dieses Areal normalerweise im Schlaf lahm gelegt ist, erklärt, warum Traumerlebnisse im Traumzustand normalerweise nicht auf ihren Realitätsgehalt überprüft werden können.
Klarträumer können in ihr Unbewusstes eindringen und es für sich einspannen, traumatische Erlebnisse im Traumschlaf verarbeiten und Albträume in eine andere Richtung lenken und sie dadurch bewältigen. Klarträumer sind darüber hinaus in der Lage, komplexe körperliche Bewegungsabläufe zu simulieren und so bestimmte motorische Fähigkeiten systematisch zu trainieren. Und sie sind imstande, Traumphasen dazu zu nutzen, Probleme zu lösen, mit denen sie sich tagsüber vergeblich abgeplagt haben.
Klarträume entstehen mitunter ganz von selbst. Man kann aber auch eine Reihe von Techniken anwenden, um sie hervorzurufen und sie über längere Zeiträume aufrecht zu erhalten. Um diese Techniken geht es im Wesentlichen in diesem Buch des Klartraum-Spezialisten Jens Thiemann.
Seine Träume kann man erst steuern, wenn man weiß, worin sich die eigenen Erfahrungen im Wachzustand von denen im Traumzustand im Einzelnen unterscheiden. In Thiemanns Augen kommt man deswegen nicht darum herum, seine Traumerlebnisse regelmäßig aufzuzeichnen und zu lernen, individuelle und generelle Traumzeichen aufzuspüren – beispielsweise sollen in der Welt der Träume nur deformierte Digitaluhren auftauchen können.
Die Techniken, mit denen ein Klartraum ausgelöst werden kann, wirken auf zwei verschiedene Arten und Weisen. Entweder wird er direkt aus dem Wachzustand heraus herbeigeführt, wobei der Körper in eine Schlafstarre verfällt, der Geist hingegen hellwach bleibt. Oder aber er kommt dadurch zustande, dass der Träumende mitten im Traum anhand aussagekräftiger Merkmale darauf schließt, dass er sich gegenwärtig in einer Traumwelt befinden muss.
Darüber, wie Klarträume ausgelöst werden können, erfährt man ziemlich viel aus diesem Buch, über sie selbst allerdings arg wenig. Außerdem ist Thiemanns unermüdlich wiederholte Behauptung fragwürdig, Träume ließen sich ohne weiteres weitgehend oder vollständig rekonstruieren. Und er verkündet, dass es fast nichts gäbe, was nicht in Klarträumen und durch Klarträume erreicht werden könnte.
Ein Buch, das von marktschreierischen Tönen nicht frei ist. Trotzdem: Nach seiner Lektüre weiß man gut darüber Bescheid, was man unternehmen sollte, um hin und wieder einen Klartraum zu erleben.

Frank Ufen

Jens Thiemann: Klartraum. Wie Sie Ihre Träume bewusst steuern können, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2013, 156 Seiten, 8,99 Euro.

Aus anderen Quellen

„Der Nichtwähler“, so leitet Harald Welzer seinen Text ein, „hat keine gute Presse, ich weiß. In Deutschland zumal, das aus gleich zwei postdiktatorischen Gesellschaften zusammengesetzt ist, schauen mich die meisten Leute an wie einen Kinderschänder, wenn ich sage, dass ich nicht wählen will.“ Wählen sei Bürgerpflicht, werde häufig eingewendet, und so könne man doch wenigstens das kleinere Übel wählen. Genau das – „Aber was ist heute das kleinere Übel im Vergleich wozu?“ – hinterfragt er anschließend unter gelangt zu dem Fazit: „Keine Idee für die Bewahrung der Demokratie im 21. Jahrhundert findet sich im Angebot der Parteien, weshalb es die Kategorie des kleineren Übels nicht ernsthaft mehr gibt.“ Daher nötige allein Nichtwählen, also „der Entzug der Zustimmung“, die Parteien, „sich ihrem Legitimationsverlust zu stellen und sich daran zu erinnern, wer in der Demokratie der Souverän ist.“
Harald Welzer: Das Ende des kleineren Übels, Der Spiegel, Nr. 22/2013. Zum Volltext hier klicken.

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Zum Wesen des trotz gegenteiliger Bemühungen der Kanzlerin und etlicher Knapopen aus ihrer Entourage immer noch schwelenden NSA-Skandals vermerkt Wolfgang Michal: „Die unheilvolle Wirkung, die eine Totalüberwachung für die Demokratie hat, besteht in der Kränkung der Demokraten: Mündige Bürger werden behandelt wie unmündige Kinder.“ Was Ende der 60er Jahre in Gestalt der damaligen Notstandsgesetze – „die deutsche Gegenleistung dafür, dass die Westalliierten ihre seit 1945 geltenden Vorbehaltsrechte gegenüber Deutschland aufgaben“ – schon einmal versucht wurde, trieb seinerzeit Hunderttausende auf die Straße. „Von einer derart breiten Protestbewegung können die heutigen Verteidiger der Bürgerrechte nur träumen.“ Dessen ungeachtet hat Wolfgang Lieb, Mitherausgeber der NachDenkSeiten, zum aktuellen Skandal „die Gretchenfrage“ gestellt: „Ist das Grundgesetz nur Dispositionsmasse eines wie auch immer gearteten Besatzungsrechts? Gilt der Ausnahmezustand, ohne dass wir es wissen? Und kann es angehen, dass der BND einem ausländischen Geheimdienst dabei hilft, unsere Grundrechte zu brechen?“

Wolfgang Michal: Überwachung und Verfassungsrecht. Die Kränkung der Demokraten, FAZ.NET, 05.08.2013. Zum Volltext hier klicken.

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Vor einigen Wochen wurde an dieser Stelle ein Beitrag annotiert, der Auskunft darüber gab, zu welch‘ frustrierender Odyssee heutzutage die Suche nach einer Wohnung in deutschen Großstädten entarten kann – in diesem Fall in Stuttgart. Heute folgt, wenn auch nicht eben auf dem Fuße, so doch zum Trost (merke: Schlimmer geht’s immer!) ein Hinweis auf Alexander Osangs entsprechende Erlebnisse in New York (merke: Von unten aus gesehen kommt oben erst die Spitze, dann eine ganze Weile gar nichts und dann – Amerika!). Zum Schluss war der Papierstapel „so dick wie das Manuskript der ,Brüder Karamasow‘.“

Alexander Osang: Nackt. Wer in New York eine Wohnung mieten will, hat keine Angst mehr vor der NSA, Der Spiegel, Nr. 29/2013. Zum Volltext hier klicken.

Medien-Mosaik

Erst 27 war der Guerillaführer Camilo Cienfueges, der neben Che Guevara, Fidel und Raúl Castro als einer der Helden der kubanischen Revolution galt, als er 1959 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.
Sein Todestag wurde zum Nationalfeiertag, an dem die kubanischen Schulkinder begleitet von dem Spruch „Una flora para Camilo“ (eine Blume für Camilo) eine Blume in die Karibische See warfen.
Rosa, die Heldin des britisch-kubanischen Films „Hasta la vista, Sister!“ ist eine schottische Linksaktivistin, deren Eltern zu den vielen westeuropäischen Linken gehörten, die das sozialistische Projekt Kuba leidenschaftlich mit Rat und Tat an Ort und Stelle unterstützten. Rosas Mutter starb auf Kuba, und da die Witwe des nun verstorbenen Vaters höchst obskure Absichten mit seiner Asche verfolgt, vertauscht Rosa seine Urne unbemerkt und bringt sie nach Kuba, um sie an eben jenem „Tag der Blumen“ im Dunstkreis der Mutter ihrer Bestimmung zu übergeben.
Der Film in der Form eines Road-Movies ist ein Lustspiel, das oft mit Klischees spielt. Rosa, begleitet von ihrer etwas oberflächlichen Schwester Ailee und ihrem besten Freund Conway, lernt von Station zu Station neue Menschen kennen, die ihr nicht nur Gutes tun wollen. Eva Birthistle als Rosa, Charity Wakefield als Ailie und Bryan Dick als Conway sorgen für eine komödiantische Atmosphäre und auch wenn es dem Film an Tiefe fehlt, kann er vor einem realistischen Hintergrund unterhalten.
Hasta la vista, Sister!, seit Ende August in ausgewählten Kinos

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„Eine dolle Nummer, eine hervorragende Tänzerin, eine außerordentliche Frau“, schwärmte Peter Panter in der Weltbühne Nr. 7/1921 von Valeska Gert. Die Ausdruckstänzerin und Schauspielerin schuf das Genre der Tanzpantomime, scherte sich kein bisschen um Konventionen und führte in ihren Programmen Charakterstudien vor, die an die Grenzen des Darstellbaren gingen.
Im vergangenen Jahr wurde ihr 120. Geburtstag, in diesem Jahr ihr 35. Todestag begangen. Aus diesem Anlass hat Elke-Vera Kotowski für die Jüdischen Miniaturen eine kurze, aber gehaltvolle Biografie der Künstlerin erarbeitet. Sie berichtet von vielen Künstlern, die von der Gert fasziniert waren und mit ihr arbeiteten. Dazu gehören die Regisseure Jean Renoir, G.W. Pabst, Sergej Eisenstein, Alberto Cavalcanti, Federico Fellini, Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff, Autoren wie Tennessee Williams und eben Tucholsky, Schauspieler wie Klaus und Pola Kinski. Doch trotz aller künstlerischer Erfolge hatte die Tochter eines jüdischen Unternehmers in ihrem Leben viele Niederlagen zu verkraften. Dazu zählen nach Auftrittsverboten die Flucht in die USA, der Kampf mit den dortigen Behörden ebenso wie ihre vergeblichen Bemühungen, nach dem Krieg in Westberlin als NS-Verfolgte anerkannt zu werden. Mehrere Bücher von Valeska Gert und auch über sie sind in letzter Zeit erschienen, aber in diesem Band ist das Wichtigste so kompakt wiedergegeben worden, dass er den Einstieg für eine intensive Auseinandersetzung mit ihrem Schaffen bietet.
Elke-Vera Kotowski: Valeska Gert – Ein Leben in Tanz, Film und Kabarett, Jüdische Miniaturen Nr. 123, Hentrich & Hentrich 2012, 64 Seiten, 6,90 Euro.

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Wirsing

Als einziges Beispiel dafür, welch wichtige Informationen aus erhaltenswerten alten Zeitungen zu entnehmen sind, wählte das Nordmagazin des NDR ein Exemplar der Greifswalder Zeitung vom 31. Dezember 1899. Aus diesem Blatt sei ersichtlich, so die Autorin des Beitrags, „daß die Jahrtausendwende in der Berichterstattung keine Rolle spielte.“ Solch Erkenntnisgewinn lob‘ ich mir! Wir alle erinnern uns daran, wie wir jahrzehntelang dem Jahr 2000 entgegenfieberten, an dessen Ende ein neues Jahrtausend begann. Und genau 101 Jahr zuvor war kein bisschen die Rede davon! Waren unsere Altvorderen Ignoranten? Oder konnten sie nur besser rechnen als junge Frauen, die gern „was mit Medien arbeiten“ wollen?

Fabian Ärmel

… längst überfällig

Wäre es ein Quiz, dann lautete die Frage: „feindliches Grün“ – was ist das?
A – der militärischer Ausdruck für ein Wald- oder Heckengebiet, in dem sich Taliban und ähnliche Zeitgenossen verbergen können?
B – der terminus technicus, mit dem im Sport bei Fußball-, Polo- oder Hockeyspielen die Hälfte der gegnerischen Mannschaft bezeichnet wird?
Oder C – die botanische Brandmarkung für Unkraut, das sich in öffentlichen Grünanlagen ausbreitet und gesundheitliche Gefahren birgt?
Nichts davon. Man befindet sich vielmehr im Bereich des öffentlichen Straßenverkehrs: Als „feindliches Grün“ bezeichnet die Amtssprache den Defekt einer Lichtzeichenanlage (= Ampel), die für mehrere konkurrierende (= sich kreuzende) Fahrtrichtungen gleichzeitig Grün anzeigt. Es handelt sich also um eine Art „friendly fire“, wovon die Soldaten unter uns sprechen, wenn sie von den eigenen Leuten um die Ecke gebracht worden sind.
Mehr Licht in solcherlei Vernebelungs-Kauderwelsch hat jetzt Langenscheidt gebracht – mit einem (Un-)Wörterbuch der Behördensprache. Das war längst überfällig!

Alfons Markuske

Unwörterbuch Behördisch, Langenscheidt Verlag, München 2013, 128 Seiten, 5,99 Euro.