In Sachen Steinmeier
Sollte das ein Churchill werden? Eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat jüngst das Volk „zur Lage der Nation“ informiert und auf „raue Jahre“ eingeschworen: „Wir müssen konfliktfähig werden, nach innen wie nach außen. Wir brauchen den Willen zur Selbstbehauptung und auch die Kraft zur Selbstbeschränkung. […] wir brauchen Widerstandsgeist und Widerstandskraft.“ Dazu gehöre zuallererst eine starke und gut ausgestattete Bundeswehr. Denn Russlands Führung sei „das Böse“. Nicht bloß Zeitenwende (Bundeskanzler Scholz) sei angesagt, sondern Epochebruch. „In dieser fundamentalen Krise müssten die Deutschen wieder zwei Dinge lernen: Bescheidenheit und Wehrhaftigkeit“, so die taz zu Steinmeiers Rede.
Womöglich.
Wodurch sich Steinmeiers bisherige Amtsbilanz auch auszeichnet, sollte man vielleicht trotzdem nicht vergessen. Fabio de Masi, früher für Die Linke im Bundestag, inzwischen ausgetreten, ist dazu folgendes in Erinnerung: „Steinmeiers politisches Vermächtnis als früherer Kanzleramts- und Außenminister bestand darin, dass er vorrangig Architekt der Agenda 2010 unter Gerhard Schröder war, die das größte Wachstum des Niedriglohnsektors in einer Industrienation schuf und durch das Lohndumping Deutschlands und die chronischen Exportüberschüsse die spätere Euro-Krise begünstigte. […] Steinmeier war zudem Beauftragter für die Nachrichtendienste und billigte in dieser Eigenschaft, dass der Bundesnachrichtendienst einen Datenknoten zur Telekommunikation in Frankfurt anzapfte, um Rohdaten deutscher Bürger an die amerikanischen Geheimdienste zu liefern. […] Zudem hat er laut Angaben der CIA 2002 ein Angebot zur Freilassung des unschuldig durch die USA in Guantanamo Bay inhaftierten deutschen Staatsbürgers Murat Kurnaz ausgeschlagen, wodurch dieser vieler Lebensjahre in Freiheit beraubt wurde.“ Und als der damalige Außenminister der USA Colin Powell am 5. Februar 2003 den UN-Sicherheitsrat mit der Lüge über angebliche irakische Massenvernichtungsmittel vergeblich für ein Mandat zum Angriff auf Bagdad bewegen wollte, wusste Steinmeier, dass dies eine auf den BND zurückgehende Propaganda-Ente war (Blättchen 20/2021).
Trotzdem spricht und wirkt der Mann wie das personifizierte Vertrauen.
Da fällt einem doch nur noch Vergils Aeneis ein, in der es heißt: „Timeo danaos et dona ferentes“ („Ich fürchte die Griechen, selbst wenn sie Geschenke bringen.“)
P.S.: Und was den westsozialisierten de Masi anbetrifft, so muss der noch etwas an seinem geschichtlichen Horizont arbeiten. Lobte er doch im obigen Kontext einen anderen Bundespräsidenten – Richard von Weizsäcker, weil „der den Deutschen zumutete, dass die Niederlage Nazi-Deutschlands am 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung gewesen sei“. Zum Zeitpunkt von Weizsäckers für einen Westdeutschen zweifelsohne bemerkenswerter Rede (8. Mai 2015) gab es knapp 18 Millionen Deutsche, denen musste dies damals bereits seit einigen Jahrzehnten niemand mehr zumuten …
Anmerkung zu einer Vision
Als ich im Blättchen Nr. 23 den letzten Absatz im ersten Artikel las, der Karl Marx, Antonio Negri und Franz von Assisi in einen Zusammenhang mit der kommunistischen Utopie und mit Stalin stellte, da fiel mein Blick auf drei Bücher: „So habe ich gelebt“ von Irina Ehrenburg, die 1911 in Nizza geboren wurde, Kindheit in Russland, Jugend in Paris, und ab 1933 in Moskau: „…wir unterhielten uns nur im Flüsterton unter der Bettdecke… (wir) trauten nicht dem Telefon. Auch anderen Menschen gegenüber waren wir misstrauisch“. Ist es vielleicht das, was in besagtem Beitrag „stalinistisches Brauchtum“ genannt wurde? Das zweite Buch, von Anna Larina Bucharina: „Nun bin ich schon weit über zwanzig“, die Erinnerungen an Nikolai Bucharin, der 1938 ermordet und erst 1988 rehabilitiert wurde, „der sein Ende bis August 1936 nicht voraussah“, eine erschütternde Biographie, geschrieben von einer Frau, die 25 Jahre im Lager verbrachte und nur drei mit Bucharin. Und schließlich Wolfgang Ruges „Berlin-Moskau-Sosswa“, die Erinnerungen eines später bedeutenden Historikers, ich sehe ihn mit seiner Frau Taja noch vor mir, der sein Leben durch 20 Jahre sibirische Verbannung rettete, die von seinen Hoffnungen, die der Junge aus Deutschland mitgebracht hatte, wohl wenig Utopisches übrigließ. Josef W. Stalin war für die Ermordung von vielen Millionen Menschen verantwortlich, was damals wie auch heute verbietet, ihn mit einer Utopie in Zusammenhang zu bringen, die er nahezu vernichtet hat.
Atomwaffen, Atomkrieg
Der US-amerikanische Experte Fred Kaplan (Blättchen 6/2020) hat im Online-Magazin Slate jüngst noch einmal ein paar Essentials zu Atomwaffen und Atomkrieg zusammengefasst – für alle, die diese Zusammenhänge immer noch nicht begriffen haben, und auch für jene, die das alles am Ende des Kalten Krieges schon einmal wussten, sich aber nicht mehr erinnern (wollen?): „Atomwaffen können einen Feind davon abhalten, Atomwaffen einzusetzen oder überhaupt in einen Krieg einzugreifen. Putins Arsenal ist schließlich der einzige Grund, warum die NATO keine eigenen Truppen in die Ukraine entsandt hat. Aber sobald die nukleare Schwelle überschritten ist, ist alles möglich. Was nach dem ersten ‚nuklearen Schlagabtausch‘ passiert – welche Seite mehr Einfluss hat, wer gewinnt, wer verliert oder was diese Worte bedeuten – weiß niemand. Trotz all der ausgefeilten Bände und Aufsätze, die im Laufe der Jahrzehnte über nukleare Kriegsführung und Eskalationsmanagement geschrieben wurden, ist das alles ein undurchdringlicher Nebel. Dieser Mangel an Klarheit macht die Planung einer rationalen Militärstrategie im Zusammenhang mit Atomwaffen schwierig, wenn nicht gar unmöglich.“
DER SPIEGEL wartete in seiner Ausgabe 44/2022 mit einigen Zahlen auf: „Nach einer aktuellen Civey-Umfrage […] sieht das Stimmungsbild so aus: 52 Prozent der Deutschen machen sich Sorgen, dass es zu einem Atomkrieg kommen könnte. Einen russischen Nuklearschlag gegen die Ukraine befürchten 57 Prozent, gegen Deutschland 37 Prozent.“
So verbreitet war die Atomkriegsangst in den alten Bundesländern schon einmal – Anfang der 1980er Jahre. Manche werden dabei gewesen sein: Am 10. Oktober 1981 demonstrierten im Bonner Hofgarten 300.000 Menschen gegen die Nachrüstung; am 10. Juni 1982 waren es auf den Bonner Rheinwiesen eine halbe Million Teilnehmer und am 22. Oktober 1983 insgesamt 1,3 Millionen Menschen in Bonn und anderen Städten sowie in einer Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm.
Und heute?
Nichts. Nada. Niente. Nothing.
Daher verursachte die nur von wenigen Medien überhaupt aufgegriffene Meldung des Magazins Politico keinerlei Welle: Danach soll der Austausch der veralteten US-Atombomben auf dem Fliegerhorst Büchel der Bundesluftwaffe (zum Einsatz mit deutschen Tornado-Kampfbombern) gegen das qualitativ völlig neuartige System B61-12 (Blättchen 17/2011) nicht erst, wie ursprünglich geplant, im kommenden Jahr erfolgen, sondern schon bis Jahresende abgeschlossen sein. Ebenso wenig lockte es irgendeinen Protestierer hinter dem Ofen hervor, als bekannt wurde, dass westliche Geheimdienste Ende vergangenen Jahres Funksprüche der russischen Marine bei einem Manöver auf der Ostsee abgefangen hätten, in denen die Rede von Nuklearschlägen gegen Deutschland gewesen sein soll. Konkret ging es um drei Ziele: Berlin, die US-Air Base in Ramstein und den Fliegerhorst Büchel.
Schon Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Maler Francisco Goya auf dem 43. Blatt seiner Caprichos vermerkt: „El sueño de la razón produce monstruos“ („Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“).
Feindfahrt
Was ein Mensch
braucht?
Die Freiheit seiner Gedanken.
Was ein Schriftsteller
braucht?
Die Freiheit des Denkens.
Was ein Despot
fürchtet?
Die Freiheit von beidem.
Aus anderen Quellen
Über den Auftritt des russischen Präsidenten im „Waldaj-Klub“ ist hierzulande von den Mainstream- und Qualitätsmedien praktisch nicht berichtet worden. Die Frankfurter Rundschau (online, 4.11.2022) widmete ihren Beitrag „Putins bizarrem Witz“. Rainer Böhme hat wieder einmal wesentliche Teile des Auftritts auf Deutsch zugänglich gemacht.
Rainer Böhme (Übersetzer): Podium im Diskussionsklub „Waldaj“ (27.10.2022), Rede, Interview, Antworten von Wladimir Putin. Zur Übersetzung hier klicken.
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„Bei der Entwicklung der deutschen Rüstungsexportzahlen“, schreibt Jürgen Wagner, „handelt es sich leider um eine regelrechte ‚Erfolgsgeschichte‘: Wurden im Jahr 2004 noch Exporte im Wert von 3,80 Mrd. Euro bewilligt, erreichte dieser Wert 2021 mit 9,35 Mrd. Euro einen bisherigen Höchststand.“ Allerdings hatte die Ampel in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, sich für ein nationales Rüstungsexportkontrollgesetz einsetzen zu wollen. Jetzt liegen Eckpunkte für dieses Gesetz vor, doch Wagners Befund ist höchst ernüchternd: „Tatsächlich lässt der Entwurf zahlreiche Schlupflöcher augenscheinlich bewusst offen und macht sogar eine ganze Reihe neuer Exportoptionen auf. Faktisch handelt es sich damit sogar um einen Rückschritt gegenüber den bestehenden Rüstungsexportrichtlinien, die an entscheidenden Stellen noch weiter aufgeweicht werden. Dies gilt insbesondere für Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete sowie für die Regeln für den Export länderübergreifender europäischer Rüstungsvorhaben.“
Jürgen Wagner: Frieden schaffen mit deutschen Waffen!, IMI-Analyse 2022/57, 09.11.2022. Zum Volltext hier klicken.
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Diesmal, schreibt Mitra Keyvan, sehe sich das Regime in Teheran, im Unterschied zu früheren Protestbewegungen, „mit einer umfassenden Unzufriedenheit konfrontiert. Vor allem die Frauen und die Jugend beteiligen sich stark an den Protesten. Fast 51 Prozent der Menschen in Iran sind jünger als 30 Jahre, bei einer zu drei Vierteln städtischen Gesamtbevölkerung von 86 Millionen. Die Jungen ertragen das eingeschränkte Leben nicht mehr, in dem alles, was anderswo normal ist – wie mit Freunden in der Öffentlichkeit Musik hören –, zu Schwierigkeiten mit der Obrigkeit führt.“
Mitra Keyvan: Iran – die Mauer aus Angst ist gefallen, monde-diplomatique.de, 10.11.2022. Zum Volltext hier klicken.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Atomkrieg, Atomwaffen, Fabio de Masi, Frank-Walter Steinmeier, Fred Kaplan, Iran, Max Klein, Putin, Russland, Rüstungsexport, Sarcasticus, Thomas Bachmann, Waldaj