25. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2022

Eine ausgebliebene Debatte

von Erhard Crome

Die selbsternannten Sieger des Kalten Krieges wähnten sich Anfang der 1990er Jahre am „Ende der Geschichte“ und taten alles, um die Idee des Sozialismus für alle Zukunft zu verunmöglichen. Der damalige BRD-Justizminister Klaus Kinkel forderte auf dem 15. Deutschen Richtertag 1991 vom deutschen Gerichtswesen, „das SED-Regime zu delegitimieren“. Das ist heute auch unter dem Gesichtspunkt ein delikater Vorgang, dass die deutsche Bundesregierung und die deutsche EU-Kommissionspräsidentin anderen EU-Staaten vorwerfen, dort würden das Rechtssystem der Verfügungsmacht der Exekutive unterworfen, die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Judikative infrage gestellt.

In der vereinigten Bundesrepublik Deutschland war das in den 1990er Jahren übliche Praxis. Im DDR-Jargon könnte man dazu sagen: Die Richter und Staatsanwälte der BRD folgten dem erteilten „Klassen- und Parteiauftrag“ ihres Ministers. Eine Folge waren die Prozesse gegen Erich Honecker und andere Größen der SED und der DDR-Regierung. Das wurde ermöglicht – hier zitiere ich jetzt einen Kommentar des Deutschlandfunks von 2007, also nicht ein ultralinkes Kampfblatt – dadurch, dass „einige bislang höchst sakrosankte Rechtsgrundsätze schlicht missachtet wurden“, so „das verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot, nach dem eine Tat nur strafbar ist, wenn ein bereits zur Tatzeit gültiges Gesetz sie für strafbar erklärt hat“. Der Honecker angelastete Schusswaffengebrauch an der Mauer galt als Verstoß gegen die Menschenrechte, entsprach jedoch den Gesetzen eines souveränen Staates. Zudem war im deutsch-deutschen Einigungsvertrag vereinbart worden, „dass für die Beurteilung von Straftaten in der DDR auch das Recht der DDR zu gelten habe“. Beides wurde durch das bundesdeutsche Gerichtswesen ausdrücklich und systematisch ignoriert. Das soll jetzt nicht weiter thematisiert werden, sondern nur zeigen, dass alle Debatten um Sozialismus und Kommunismus in Ostdeutschland in den 1990er Jahren in einem Umfeld von Anfeindungen, Denunziation, Hetze und Unterstellungen stattfanden.

Berliner Debatte Initial hatte sich 1990 unter Federführung von Peter Ruben als Zeitschrift und Verein konstituiert in der Tradition der Aufklärung, die auch in Berlin ihren Ort hatte. Zugleich wurde betont, sie sind „für alle Soziallehren offen, seien sie in der Tradition der klassischen Arbeiterbewegung ausgebildet oder in der der christlichen, der liberalen oder konservativen Soziallehre“. Damit war absichtsvoll kein Bruch mit marxistischem Denken erklärt, dieses aber in einen größeren wissenschaftlichen Zusammenhang gestellt.

Zugleich galt, dass Initial keinen Sonderinteressen dienen, kein ideologisches Banner aufziehen wolle. Während es im engeren Sinne um das Selbstverständnis eines kleinen Vereins und der von ihm herausgegebenen Zeitschrift ging, war der Bezug des eigenen Tuns das generelle Verhältnis von Wissenschaft und gesellschaftlichem Handeln. Wissenschaft war erklärt als „das Allgemeine aller menschlichen An- und Einsichten“; für die Bewertung von Wissenschaft waren allein wissenschaftliche Kriterien in Ansatz zu bringen. Weder ist die Philosophie Magd einer politischen Richtung oder Politik, noch eine soziale Gruppierung, politische Partei oder Bewegung, nicht Vollstrecker einer eineindeutigen Weltinterpretation. Das war der definitive, nun auch theoretisch-konzeptionelle Abschied von dem gerade überwundenen Parteimarxismus. Die Wissenschaft war befreit von der Zumutung, einer Parteipolitik zu- oder untergeordnet zu sein.

Es gibt also kein gesellschaftliches oder politisches Allgemeininteresse, das aus einer bestimmten wissenschaftlichen Einsicht oder Position bzw. Weltanschauung folgt. Zugleich war auf die Demokratie verwiesen. Politische Entscheidungen gehen nach anderen Kriterien, als denen von Wissenschaft. Verständigung über Interessenwahrnehmung in einem politischen Prozess erfolgt über Mehrheiten, deren Relevanz nicht dem Kriterium wissenschaftlicher Erkenntnis oder Einsicht folgt. Daran ist auch deshalb zu erinnern, weil heute wieder selbsternannte Avantgardisten unterwegs sind, die meinen, Vollstrecker von aus der Wissenschaft resultierenden Unausweichlichkeiten zu sein, die einer demokratischen Willensbildung nicht zugänglich seien.

Zugleich betonte Initial bereits 1990, dass zwar die vereinfachten, dichotomischen Antworten auf die soziale Frage erledigt waren, die der Realsozialismus gegeben hatte, die soziale Frage aber nicht: Sie wird „durch die Wirtschaftsentwicklung beständig reproduziert“, der Kapitalismus reproduziert sie unausweichlich immerfort. Den ersten Heftschwerpunkt zum Marxismus brachte Initial bereits im Heft 3/1993. Zusammengestellt hatte ihn Peter Ruben, mit Beiträgen unter anderem vom Peter Furth, Helmut Fleischer und Manfred Lauermann. Rubens eigener Text hatte den Titel: „In der Krise des Marxismus. Versuch einer Besinnung“. Den nächsten entsprechenden Schwerpunkt hatte Udo Tietz besorgt, er trug den Titel: „Marx – Deutungen nach dem Funeral“ (Heft 1–2/1997). Die Debatten wurden nicht nur unter dem Marxismus-Oberbegriff geführt. Eine wichtige Richtung war mit dem Thema: „Gemeinschaft und Gesellschaft“ eingeschlagen, das Peter Ruben seit den 1990er Jahren aufgerufen und entwickelt hatte.

Die Grundidee besteht darin, dass Kommunismus die Herstellung einer Gemeinschaftsordnung ist, die auf dem Prinzip der Abschaffung des persönlichen Produktivvermögens bzw. Eigentums beruht, Sozialismus dagegen eine Gesellschaftsordnung, die die Institutionen der Gesellschaft nicht abzuschaffen, sondern zu nutzen trachtet, um sie den Interessen der Mehrheit, die nicht über großes Kapitaleigentum verfügt, nutzbar zu machen (Das Blättchen 20/2022). Damit sind Sozialismus und Kommunismus nicht zwei Phasen eines zusammengehörigen Ganzen sondern zwei unterschiedliche, in vielem gegensätzliche Gesellschaftskonzepte. Anders gesagt: das Scheitern des „realen Sozialismus“ in der Sowjetunion und Osteuropa hat die Idee des Kommunismus desavouiert, nicht aber die eines zeitgemäßen Sozialismus.

In diesem Sinne waren Redaktion und Verein in den 1990er Jahren mit „fliegenden Fahnen“ auf die Rubensche Position übergelaufen. Zu den kontroversen Themen, so zu den Erträgen der „Transformationen“ in Osteuropa, den Resultaten der deutschen Einheit und zur Nationsproblematik in Deutschland und Osteuropa, wurden verschiedene öffentliche Debatten veranstaltet, teils in Berlin, teils in Kooperation mit WeltTrends in Potsdam, die dann publizistische Nachläufer hatten. Das wollten wir auch mit dem Thema: „Sozialismus und Kommunismus“ machen. Peter Ruben hatte Michael Benjamin zum Streitgespräch eingeladen. Der war damals sozusagen der geistige Kopf der „Kommunistischen Plattform“ in der PDS. Die Veranstaltung fand im Frühsommer 2000 statt und verlief erwartungsgemäß recht kontrovers; Benjamin vertrat den Standpunkt der zwei Phasen, Ruben seinen der zwei Konzepte. Wir hatten am Ende vereinbart, dass er seinen Beitrag überarbeitet und wir dann beide in Initial publizieren. Benjamin sagte, er müsse zuvor ins Krankenhaus für eine Operation und werde danach liefern. Dazu kam es nicht, weil er im August 2000 infolge der Operation starb. Wir fanden es unanständig, aus dem Mitschnitt und unseren Aufzeichnungen einen Text zu verfertigen, den er nicht mehr autorisieren konnte. Deshalb blieb eine offene publizistische Auseinandersetzung zwischen den beiden Standpunkten aus. So finden sich Rubens Positionen in den verschiedenen Texten, die man in seinen Gesammelten Schriften nachlesen kann.

Meine kürzliche Teilnahme an einer größeren Veranstaltung zum Thema Kommunismus, an der viele junge Menschen mit heißen Herzen und leuchtenden Augen teilnahmen, die die Welt retten wollen, stieß mich darauf, dass diese alten Debatten beileibe nicht erledigt sind. Die heutigen Krisenphänomene des Spätkapitalismus mit Kriegen, Wirtschaftskriegen, Boykotthetze, steigender Waffenproduktion, Inflation, rascher Verarmung ganzer Bevölkerungen und geopolitischer Abschottung liegen auf der Hand. Nur ist es leider eine nach wie vor umgehende romantische Vorstellung, all dies ließe sich durch schlagartige Einführung kommunistischer Verhältnisse lösen, die Abschaffung allen Privateigentums an Produktionsmitteln, des Kredits, der Märkte, gar des Geldes. Die heutigen Diskussionen um diesen Themenkreis bleiben ohne ernsthaften theoretischen Unterbau, wunschgeleitet.

Mit Ruben kann man sich eine sozialtheoretische Perspektive erschließen. Das Hoffen des reinen Herzens auf das kommunistische Paradies kann sich nach Belieben bei Marx, Stalin, Antonio Negri oder Franz von Assisi bedienen. Im Sinne des Initial-Credos von der Aufklärung läuft dies jedoch darauf hinaus, sich die Welt als „Wille und Vorstellung“ zurechtzulegen. Oder es ist klammheimlicher Ausdruck stalinistischer Brauchtumspflege beziehungsweise intellektueller Indolenz.