25. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2022

Ruben und der Kommunismus

von Erhard Crome

Peter Ruben war einer der originellsten, produktivsten und umstrittensten marxistischen Denker der DDR. Die Umstände in der DDR und nach der deutschen Vereinigung hatten zur Folge, dass er nicht – wie es seiner wissenschaftlichen Leistung angemessen gewesen wäre – schulbildend werden konnte. Gleichwohl regen seine Anstöße Kollegen, Freunde und nachwachsende Interessierte zum tieferen Nachdenken über wissenschaftliche Probleme und Fragestellungen zur weiteren Gesellschaftsentwicklung an. Zweimal aus der SED ausgeschlossen, zuletzt 1981 mit dem „Revisionismus“-Etikett versehen und mit Publikationsverbot belegt, wurde er in den Umbruchszeiten am Ende der DDR zum ersten (und letzten) frei gewählten Direktor des Zentralinstituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seine Bemühungen, das Institut als Forschungsstätte der Philosophie des vereinten Deutschlands zu erhalten, scheiterten nun an der bundesdeutschen Wissenschaftspolitik. Das kürzliche Erscheinen seiner Gesammelten philosophischen Schriften in vier Bänden mit allen wichtigen Arbeiten seit den 1960er Jahren waren Anlass einer öffentlichen Präsentation am 13. September 2022 in Berlin.

Für meine Arbeiten, insbesondere zum Ende des Realsozialismus und seinem Scheitern, zur Frage der Nation und zum Platz der DDR in der deutschen Geschichte waren seine Anregungen stets von besonderer Bedeutung. Bereits 1990 – die „Wende“ in der DDR hatte noch nicht zur deutschen Vereinigung geführt – hatte Peter Ruben den realen Sozialismus unter Bezug auf Marx als „rohen Kommunismus“ charakterisiert. Der habe einen beständigen Krieg gegen die Persönlichkeit des Menschen und seine Unterordnung unter den Apparat bedeutet.

Im Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Sozialismus und Kommunismus steht das Problem der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Es ist dies, wie Ruben betont, eines jener sozialtheoretischen Probleme, die bei Marx und Engels nicht hinreichend ausgearbeitet wurden. In den Sozialwissenschaften geht diese auf Ferdinand Tönnies zurück. Peter Ruben hat diesen Ansatz rekonstruiert und hervorgehoben, dass die Gemeinschaft schon durch die unmittelbare Kooperation in der Erhaltung des physischen Lebens via Produktion realisiert ist, die Gesellschaft aber durch den Austausch, durch den Handel. So ist die Gemeinschaft die naturhistorische Verbindungsweise zwischen Menschen, die den Grund der Produktion menschlicher Individuen bildet. Das Individuum ist Teil der Gemeinschaft, sein letzter unteilbarer Teil. Gesellschaft dagegen ist Produkt des Handelns der Individuen als Personen, vermittelt durch den Kontrakt, den sie schließen. Die Gesellschaft wird durch den Austausch gebildet; sie ist die eigentliche historische Erfindung. Sie wird mit der Entdeckung gemacht, dass Gemeinschaften Bedürfnisse mit fremden Gütern befriedigen können, wenn sie anderen Gemeinschaften eigene Güter zur Befriedigung fremder Bedürfnisse zu liefern fähig sind. Die Entwicklung der Gesellschaft beinhaltet die Produktion von Gütern über den Eigenbedarf hinaus. Sie ist notwendige Bedingung der Entwicklung des Reichtums.

So stellen Gemeinschaft und Gesellschaft nicht, wie von zeitgenössischen Geistes- und Sozialwissenschaftlern meist unterstellt, einen konträren Gegensatz dar. Auch ist nicht Gemeinschaft eine niedere Form, weil in ihr etwa die bürgerliche Distinktion der Gesellschaft nicht gelten würde. Es handelt sich um einen unaufhebbaren Dualismus, der jedoch in einem beständigen Spannungsverhältnis steht. Er erklärt sich hinreichend aus dem Verhältnis zwischen Produktion und Austausch.

Das Problem des Verhältnisses von Sozialismus und Kommunismus ist in diesem Zusammenhang zu betrachten. Die Auseinandersetzung mit geschichtsphilosophischen Kategorien gehört seit Marx, Engels und dem „Kommunistischen Manifest“ zu den vernünftigen Debatten um sozialistische Konzepte und Politik. Insofern ist die Frage, wie nach dem Scheitern des Realsozialismus in Osteuropa, im 21. Jahrhundert sinnvoll über „Sozialismus“ und „Kommunismus“ zu reden ist, zunächst eine sozial-theoretische Frage, dann eine programmatische und danach auch eine tagespolitischer Verwendbarkeit.

Die ursprüngliche Differenz, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa allgemein bekannt war, ist die zwischen zwei unterschiedlichen politischen und Gesellschaftskonzepten: Mit dem Heraufkommen der Industrie hatte sich die soziale Frage, die vordem stets die Agrarfrage, nämlich die Frage nach dem Bodeneigentum war, in die Frage nach dem Anteil der Besitzlosen, der Proletarier an der Gesellschaft verwandelt. Die „kommunistische Antwort“ auf diese soziale Frage war die Enteignung des privaten Produktivvermögens und der Versuch, die Produktion anders zu organisieren, nämlich über eine Zuteilung von Ressourcen, die Verteilung der Arbeiter auf die Produktionszweige, die Kontrolle und Verordnung der Preise und so weiter. Die Kommunisten, die 1917 in Russland und mit dem zweiten Weltkrieg in anderen osteuropäischen Ländern an die Macht kamen, sahen folgerichtig im Staat das Instrument zu dessen Durchsetzung und in der Diktatur, mithin der Abschaffung der Freiheit und der Demokratie das Mittel, dies zu verwirklichen.

Sozialismus dagegen ist die „systematische Entwicklung der Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit“ (Lorenz Stein). Auf diese Unterscheidung hat Peter Ruben nachdrücklich hingewiesen. Danach ist Kommunismus die Herstellung einer Gemeinschaftsordnung, die auf dem Prinzip der Abschaffung des persönlichen Produktivvermögens beziehungsweise Eigentums beruht, Sozialismus dagegen eine Gesellschaftsordnung, die die Institutionen der Gesellschaft nicht abzuschaffen, sondern zu nutzen trachtet, um sie den Interessen der Mehrheit, die nicht über großes Kapitaleigentum verfügt, nutzbar zu machen.

Aus der Sicht der ursprünglichen Vorstellungen des Marxismus, wie sie bereits auf Marx zurückgehen und später von Stalin in den Katechismus der Lehre des „Marxismus-Leninismus“ eingefügt wurden, ist Kommunismus dagegen ein Stadium der Entwicklung höchster Produktivkraft, in dem Geld und Kredit, Ware und Preis, das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft sind und das Prinzip gilt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, und der Sozialismus dessen unfertige Vorstufe.

Nach dem Scheitern des osteuropäischen Staatssozialismus oder, mit Ruben, des kommunistischen Herrschaftssystems ist festzustellen, dass ein gesamtgesellschaftlich vergemeinschaftetes Eigentum, das über den Staat reguliert wird, die menschlichen Produktivkräfte nicht voranbringt, sondern fehlleitet. Zudem sind die „Springquellen des Reichtums“ angesichts der Vernutzung der natürlichen Ressourcen nicht unendlich, sondern müssen sparsam genutzt werden. Es gibt bisher keine Alternative zu Ware-Geld-Beziehungen und Preisen. Es geht also nicht darum, alles zu vergemeinschaften, sondern über den Staat, Gesetze und politische Entscheidungen durch die Mehrheit der Menschen Produktion, Verteilung und Austausch zu kontrollieren und im Dienste der Mehrheit zu gestalten.

Von Friedrich Schiller stammt die berühmte Unterscheidung zwischen dem „philosophischen Kopf“ und dem „Brotgelehrten“, dem es in seinem Fleiß stets nur darum geht, „die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig“ werden kann. In diesem Sinne hatten viele Brotgelehrte der auslaufenden DDR ihren Marxismus schneller vergessen gemacht, als sie ihn einst gelernt hatten. Es hatte ihnen jedoch meist nichts genützt. Die Übernahme der Wissenschaftslandschaft der DDR durch die neuen Herren sah nicht gewendete, sondern gar keine Personen aus dem Osten vor. Selbst der viertklassigste Westprofessor brachte seine Gehilfen mit.

Jetzt, da der Weltkapitalismus in einen Zyklus multipler Krisen geraten ist, da Finanzkrisen, ökologische Krise, imperialistische Kriege, Weltwirtschaftskrieg, Versorgungskrisen angesichts fehlender Nahrungsmittel, Medikamente und Energie, Inflation und explodierende Wohn-, Heiz- und Lebenskosten vom Fäulnisprozess des Spätkapitalismus zeugen und sich diese Krisen überlagern, fällt der Blick wieder auf den „Kommunismus“. Inzwischen umgekleidete frühere Brotgelehrte und neuromantische Schwärmer verwandeln sich nun in Wanderprediger kommunistischer Erlösung. Die reicht aber nur bis zu Stalins zwei Phasen und zu der Vorstellung, der Kommunismus würde neuen Reichtum jenseits der Zumutungen des realexistierenden Kapitalismus sprudeln lassen.

Peter Ruben hatte schon vor einem Dutzend Jahre betont, der Kommunismus bleibt uns erhalten „als der fortlaufend reproduzierte Protest gegen den Egoismus des persönlichen Privateigentums; er ist dessen alter ego“. Die „Wendung gegen das Privateigentum definiert jeden Kommunismus überhaupt – sowohl den älteren als auch den neueren. Dieser Feststellung kann man nur entgehen, wenn man die Bedeutung des Wortes Kommunismus mythologisiert, das heißt mit ihm einen fernen, fernen Zustand benennt, der sich nun wahrlich kaum von dem unterscheidet, der sonst auch Paradies genannt wird“. Ruben lesen hilft. Seine klare kategoriale Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus bewahrt uns davor, neuen Rattenfängern nachzulaufen, ob sie nun ehemalige Brotgelehrte oder Neukonvertiten sind.

Peter Ruben: Gesammelte philosophische Schriften, herausgegeben von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke in Verbindung mit Karl Benne. Band 1: Zu den philosophischen Grundlagen; Band 2: Zu philosophischen Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft; Band 3: Zu philosophischen Fragen der Naturwissenschaften. Zur Geschichte der Philosophie; Band 4: Peter Ruben und Camilla Warnke: Zum philosophischen Denken in der DDR. Berlin, Verlag am Park 2022, jeder Band 49,00 Euro.