25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

Bemerkungen

Büchner-Forscher von Rang
– Henri Poschmann zum 90. Geburtstag

Der 1932 in Magdeburg geborene Literaturwissenschaftler Henri Poschmann wurde am 30. April in Weimar 90 Jahre alt. In Jena hat er bis 1957 studiert und dort 1974 mit einer Arbeit zur Epik und Dramatik des deutschen Vormärz promoviert. Mit dieser Schrift hatte der Germanist bereits ein wesentliches Zentrum seines wissenschaftlichen Interesses gefunden.

Der Forscher arbeitete nach seinem Studium bis zum Jahre 1962 am Institut für deutsche Literatur, das den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur (NFG) in Weimar beigeordnet war. Dies war der Ort, von dem aus die geschätzten, populären und gründlich kommentierten Bände der Bibliothek Deutscher Klassiker (BDK) in die literarische Welt gingen. Ein Leinenband, daran sei erinnert, kostete fünf DDR-Mark. Den Georg-Büchner-Band übernahm Henri Poschmann. Die zweite Auflage von 1967 enthielt auch die Briefe des „Woyzeck“-Dichters. Nach Unstimmigkeiten mit dem Institutsleiter Helmut Holtzhauer verließ Poschmann die Weimarer Arbeitsstelle und war acht Jahre freiberuflich tätig.

Die nächste Station seines Wissenschaftlerlebens war für zwei Jahrzehnte das Berliner Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften. Dieses existierte von 1969 bis 1991. An dem Großprojekt einer zwölfbändigen „Geschichte der deutschen Literatur“ war Poschmann, weiter in Weimar lebend, beteiligt. Einige Kapitel in den Bänden zum 19. Jahrhundert sind aus seiner Feder.

In den letzten Jahrzehnten seines Schaffens widmete sich der Forscher vor allem „seinem“ Autor: Georg Büchner. 1983 erschien die viel beachtete Monographie „Georg Büchner – Dichter der Revolution und Revolution der Dichtung“. Alexander Lang, der 1981 die denkwürdige Berliner Inszenierung von „Dantons Tod“ auf die Bretter des Deutschen Theaters brachte, hatte Henri Poschmann als wissenschaftlichen Berater an seiner Seite. Poschmann war 1988 auch Hauptinitiator des ersten internationalen Büchner-Kolloquiums in der DDR. „Wege zu Georg Büchner“ hieß der von Poschmann herausgegebene Band, der die Ergebnisse dieser Konferenz 1992 zugänglich machte

Poschmanns zweibändige Ausgabe „Büchner Dichtungen“ und „Büchner Schriften, Briefe, Dokumente“ erschien 2006 im renommierten Deutschen Klassiker Verlag. Sie umfasst 2300 Seiten. Mit Fug und Recht kann man diese Edition, die national und international Furore machte, die Gipfelleistung im Schaffen Henri Poschmanns nennen. Wer die Bände in die Hand nimmt versteht, weshalb er an den 40 Jahre zurückliegenden BDK-Band ungern erinnert wird. Der Editor hat nicht nur sämtliche Werke, Übersetzungen und Schriften exakt präsentiert und kommentiert, sondern auch bislang unbekannte Dokumente beigebracht. Poschmann ging das Wagnis ein und bot das „Woyzeck“-Fragment, dessen Original in Weimar liegt, auch in einer „Kombinierten Werkfassung“ an. Jeder Lehrende, unabhängig davon, ob sie oder er vor Gymnasiasten oder Studenten steht, wird merken, wie überzeugend und praktikabel diese schöpferische Editionsleistung Poschmanns ist.

Ulrich Kaufmann

Amerikanische Realitäten

Der amerikanische Traum „vom Tellerwäscher zum Millionär“ hat sich bekanntlich schon immer nur für ganz wenige erfüllt. Deutlich größer sind im Land der unbegrenzten Möglichkeiten heute die Chancen, von jetzt auf gleich Schusswaffenopfer zu werden. Gern auch tödlich.

Das jüngste Schulmassaker, bei dem ein erst 18-jähriger Täter am 24. Mia 2022 in einer Grundschule in der texanischen Kleinstadt Uvalde nahe San Antonio 19 Kinder und zwei Lehrerinnen ermordete, ist zwar eines der größten in den USA – nur beim Shooting an der Sandy Hook Elementary School in Connecticut 2012 starben noch mehr Menschen –, doch trotzdem bloß die Spitze des Eisbergs. Von 2012 bis 2021 ist die jährliche Gesamtzahl der Toten durch Schusswaffen (ohne Selbsttötungen) von 12.356 auf 20.912 gestiegen, die der Verletzten von 21.877 auf 40.564

Bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre hat in den USA Schusswaffengebrauch inzwischen Verkehrsunfälle als Todesursache Nummer eins abgelöst: 4368 Todesopfer standen im Jahre 2020 gegen nahezu 4000.

Aber – was soll von einem Land auch anderes erwartet werden, in dem der Zweite Verfassungszusatz jedem Bürger das Tragen einer Waffe gestattet, Gewalt Kultstatus trägt und in dem Alkohol an junge Erwachsene zwar erst ab 21 Jahre ausgeschenkt wird, aber jeder 18-Jährige bereits Waffen praktisch aller zugelassenen Arten und Kaliber käuflich erwerben kann? Laut einem aktuellen Beitrag des US-Magazins The Atlantic kommen in den USA inzwischen 120 Schusswaffen in Privathand auf 100 Einwohner. Und die Corona-Jahre seien die mit den umfänglichsten Waffenverkäufen in der gesamten US-Geschichte überhaupt gewesen: fast 20 Millionen verkaufte Schießeisen 2020 und weitere 18,5 Millionen 2021.

„Seit Sandy Hook“, so The Atlantic, „ist dieses Land rückwärts und abwärts in die Barbarei gerutscht.“

Hannes Herbst

Verbrannter Begriff

Wenn im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Eisenbahntransporte mit zur Ermordung bestimmten Juden ankamen, erfolgte direkt an der Entladerampe die Scheidung der Todgeweihten in jene, die sofort ins Gas geschickt wurden (Kinder, Greise, Frauen …) und jene, die der Vernichtung durch Arbeit, Hunger, Krankheit ausgesetzt werden sollten. Diese Auswahl wurde in der Regel von SS-Lagerärzten wie Dr. Josef Mengele vorgenommen. Deren euphemistischer Terminus technicus für den Vorgang als solchen lautete – selektieren.

Wer historisch unbedarft oder auch nur hinlänglich gedankenlos ist, benutzt den Begriff allerdings heute noch. So wurde in der Berliner Zeitung vom 28./29. Mai 2022 auf Seite 51 in einem Beitrag über Gehaltsvorstellungen im Kontext von Bewerbungen eine Personalerin von Hays Recruiting folgendermaßen zitiert: „Die Gehaltsvorstellung ist zum Teil immer noch ein Kriterium, mit dem Firmen Bewerber selektieren.“

Alfons Markuske

Auf den Punkt gebracht

[…] in meinen Augen gibt es keine nutzlosere, verachtenswertere Kreatur
als einen Moralisten. Er ist nutzlos, weil er all seine Energie damit vergeudet,
Urteile zu fällen, statt sein Wissen zu mehren, und dies nur, weil Urteile
leicht zu fällen sind, Wissen aber nur schwer zu erlangen ist. Und verachtenswert
ist er, weil sein Urteil ein Selbstverständnis spiegelt, das er in seinem Stolz
und seiner Ignoranz der ganzen Welt überstülpt.
John Irving, „Augustus“

Das Halbverstandene und Halberfahrene
ist nicht die Vorstufe der Bildung,
sondern ihr Todfeind.
Theodor Adorno

Wahrhaftigkeit und Politik
wohnen selten unter einem Dach
Stefan Zweig

Niemand hat je Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet.
Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers
und sogar des Staatsmannes zu gehören.
Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand.
Hannah Arendt

Für einen Politiker ist es gefährlich, die Wahrheit zu sagen.
Die Leute könnten sich daran gewöhnen.
George Bernard Shaw

Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen,
bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.
Mark Twain

Galgenhumor ist die Kunst,
sich den Ast zu lachen,
auf dem man sitzt.
Wolfgang Neuss

Mitten im tiefsten Winter wurde mir endlich bewusst,
dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt.
Albert Camus

Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Verbringe die Zeit nicht mit der Suche nach Hindernissen
– vielleicht ist keines da.
Franz Kafka

Die Sozialen Medien funktionieren außerhalb jeder Kontrolle
und außerhalb jedes journalistischen und menschlichen Anstands.
Damit ist eine neue Macht entstanden.
Niemand weiß, wie sie zu kanalisieren ist.
Wolfgang Benz

cf

WeltTrends aktuell

Der bereits mehr als drei Monate dauernde Krieg in der Ukraine steht auch im Mittelpunkt der aktuellen Ausgabe. Nach ersten Reaktionen auf den russischen Überfall und der Debatte über die Option Neutralität geht es nun um die Bedeutung dieses Krieges für die internationale Ordnung, denn er wird instrumentalisiert und verschärft die Spaltung der Welt in Blöcke. Die Vereinten Nationen als globale Ordnungsmacht sind marginalisiert, auch wenn deren Generalsekretär immer wieder die Beachtung des Völkerrechts anmahnt. Im Thema werden mögliche Lösungen für den Ukrainekrieg diskutiert, aber auch größere geopolitische Zusammenhänge, darunter die Frage: Steht die Welt am Beginn einer neuen geopolitischen Ära?

Im WeltBlick geht es ebenfalls um Auswirkungen des Ukrainekrieges – auf die wirtschaftliche und soziale Lage in Afrika, aber auch um das Versagen der Diplomatie und ihre Militarisierung, denn die Außenpolitik stellt sich nur zu oft in den Dienst der Eskalation, tut also das Gegenteil dessen, was eigentlich von ihr erwartet werden sollte.

Im Iran haben die Revolutionsgarden durch die jüngsten Wahlen an Gewicht gewonnen; zugleich scheint jedoch der Einfluss Irans im Nahen und Mittleren Osten zurückzugehen.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 188 (Juni) 2022 (Schwerpunktthema: „Ukrainekrieg und globale Spaltung“), Potsdam / Poznan, 5,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine liegt die europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Trümmern. Doch am Nullpunkt angekommen, muss nicht alles umgeworfen und neu erfunden werden, so die Friedensforscherin Nicole Deitelhoff. Vielmehr gelte es, aus Fehlern zu lernen und eine kooperative Sicherheitsordnung 2.0 vorzubereiten.

Angesichts der Klimakatastrophe ist auch im ökologischen Sinne dringend eine Zeitenwende nötig, mahnt der Jurist Jens Kersten. Doch dazu bedarf es nicht weniger als einer Revolution: Geboten ist die ökologische Transformation unserer Verfassungsordnung.

Nach ihren jüngsten Wahlschlappen droht die Linkspartei in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Der Sozialwissenschaftler Horst Kahrs und der Berliner Kultursenator Klaus Lederer sehen dennoch Raum für eine starke Linke – wenn sie Freiheit mit ökologischer Nachhaltigkeit verbindet und die Gleichheit aller Lebensentwürfe gegen autoritäre Tendenzen verteidigt.

Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „9-Euro-Ticket: In vollen Zügen zur Verkehrswende?“, „Machtpoker am Bosporus: Erdoğans Trümpfe im Ärmel“ und „EU-Mission in Mosambik: Aus Afghanistan nichts gelernt?“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Juni 2022, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Die Stimmung in Deutschland steht weiterhin auf Krieg“, schreibt Michael von der Schulenburg, früherer Assistant Secretary General of the United Nations, und fährt fort: „Für Frieden scheint da kein Platz zu sein. Nun dominiert in Medien und Teilen der Politik auch noch der Glaube, dass dieser Krieg gegen Russland militärisch zu gewinnen sei, wenn wir nur der Ukraine schwere Waffen lieferten. Unter diesen Umständen scheinen Friedensverhandlungen mit Russland, oder wie wir gerne abwertend sagen, mit Putin, nicht nur verwerflich, sondern auch unnötig. Gerade für Europa könnte sich das als ein gefährliches Wunschdenken herausstellen.“

Michael von der Schulenburg: In der Ukraine sollte die EU nicht den USA folgen, sondern nach Frieden streben, berliner-zeitung.de, 28.5.2022. Zum Volltext hier klicken.

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In der jüngsten Ausgabe der dgksp-Diskussionspapiere wird unter anderem ein Zeitungsbeitrag des chinesischen Botschafters in Moskau dokumentiert, der, so Herausgeber Rainer Böhme, Aufschluss über die Haltung Chinas zu den Hintergründen des Ukraine-Konflikts gibt und „Einschätzungen Russlands zur USA–Nato-Politik und zum gemeinsam [zwischen Peking und Moskau – die Redaktion] entwickelten strategischen Konzept“ für eine neue Weltordnung gibt. Darüber hinaus werden drei sicherheitspolitische Dokumente der Ukraine vorgestellt, die bisher nicht in deutscher Übersetzung zugänglich waren.

Rainer Böhme: Strategische Konzepte für Donbass – Krim. Global Governance im Diskurs (VIII), dgksp-diskussionspapiere, Mai 2022. Zum Volltext-PDF hier klicken.

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Über die Hintergründe des Ukraine-Krieges aus russischer Sicht vermerkt Dmitri Trenin, Carnegie-Chef in Moskau bis zur Schließung des Zentrums im April 2022: „Tatsächlich strebt der Westen danach, Russland als unabhängigen Faktor aus der Weltpolitik zu drängen und die russische Wirtschaft vollständig zu zerstören. Ein Erfolg dieser Strategie würde es dem US-geführten Westen ermöglichen, die ‚Russland-Frage‘ endgültig zu lösen und günstige Bedingungen für einen Sieg in der Konfrontation mit China zu schaffen. Die Haltung eines solchen Gegners impliziert keinen Raum für einen ernsthaften Dialog, da auf der Grundlage eines Interessenausgleichs praktisch keine Aussicht auf einen Kompromiss besteht, vor allem nicht zwischen den Vereinigten Staaten und Russland.“

Dmitri Trenin: Wie Russland sich neu erfinden muss, um dem hybriden Krieg des Westens zu begegnen, rtde.live, 27.05.2022. Zum Volltext hier klicken.

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Zu den EU-Sanktionen gegen Russland fasst Simon Jenkins, Kolumnist des Guardian, zusammen: „Das Ziel, Russland zum Rückzug seiner Truppen aus der Ukraine zu zwingen, wurde offenkundig nicht erreicht. […] Aber der Schaden für das übrige Europa und die Außenwelt ist jetzt offensichtlich. Die EU sollte sich auf die Unterstützung der Kriegsanstrengungen der Ukraine beschränken und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufheben. Sie sind selbstzerstörerisch und sinnlos grausam.“

Simon Jenkins: The EU should forget about sanctions – they’re doing more harm than good, theguardian.com, 30.05.2022. Zum Volltext hier klicken.

Letzte Meldung

5,7 Millionen Euro für ein angebliches Corona-Testzentrum, das nie existiert hat, sind einem 20-Jährigen in Freiburg von der dortigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) überwiesen worden. Der Täter hatte sich 2021 mit wenigen Mausklicks bei der KV registriert, als Adresse für sein „Testzentrum“ eine Straße in der Freiburger Partymeile angegeben und anschließend für die Monate März bis Juni 491.000 Corona-Tests abgerechnet.

Den Anstoß zu dieser Köpenickiade habe eine Schnapsidee beim Feiern gegeben, gestand der 20-Jährige jetzt vor dem Freiburger Amtsgericht. Und: Er habe zeigen wollen, wie leicht man die KV übers Ohr hauen könne.

Letzteres dürfte als gelungen gelten.

Das Gericht wertete die Leichtigkeit, mit der der Betrug zu begehen war, als strafmildernd.

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