25. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2022

Bemerkungen

Szczepan Twardochs Mahnungen

Der polnische Romancier Szczepan Twardoch ist ein aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens. Seine Romane „Drach“ und „Morphin“ gehören sicher zu den wichtigen europäischen Erzählwerken des 21. Jahrhunderts. Als unbestechlicher Analyst setzt er sich mit seinen Büchern zwangsläufig zwischen alle Stühle. Sie handeln vom Krieg, von Hass und Vernichtung. Sie schmerzen, weil sie von „ethnischen Säuberungen“ erzählen, an denen unser Volk als Täter federführend beteiligt war – und davon, dass diese Taten erbarmungslos auf uns selbst zurückfielen. Twardoch ist bekennender Schlesier. Handlungsorte seine Romane sind bevorzugt Schlesien und Warschau. Blutgetränkte Landschaften …

Er hat etwas zu sagen, und man sollte ihm aufmerksamer zuhören. Im Spiegel äußerte sich Twardoch jetzt voller Zorn zum „Offenen Brief“ deutscher Intellektueller an Bundeskanzler Olaf Scholz in Sachen Militärhilfe an die Ukraine: „Denn das muss ganz deutlich gesagt werden: Das Einzige, was in diesem Augenblick zwischen den Tätern von Butscha, Borodjanka, Mariupol und ihren potenziellen künftigen Opfern steht, sind die Streitkräfte der Ukraine, die ukrainische Nationalgarde und die Territorialverteidigung. Sämtliche Anrufe von Emmanuel Macron, sämtliche Appelle, Vermittlungsversuche eines Gerhard Schröder, Warnungen, Bitten und Drohungen an Putin vermögen es nicht, die Verbrechen zu verhindern. Dies vermag allein die ukrainische Armee.“

Offenbar ist das so. Und diese Tatsache muss jedem Friedensfreund das Herz zerreißen. Mir geht das nicht anders. Wir haben wohl alle die Losung von den Schwertern, die zu Pflugscharen werden müssten, verinnerlicht. Auch wenn einige sie vor Jahren „aus Gründen“ erbittert bekämpften.

Szczepan Twardoch meint, es gebe eine Art Pazifismus, der sich – sicher unbewusst, sollte man einschränken – in den Dienst der Henker stelle. Manche dieser Leute werden ihn jetzt in die Reihen der Kriegstreiber und Rüstungsfetischisten einreihen. Im günstigsten Falle noch in die Fraktion der seinerzeitigen Kriegskreditebefürworter der deutschen Sozialdemokratie.

Das macht seine Feststellung nicht unrichtiger. Einer Armee, die Großstädte von U-Booten aus mit Raketen eindeckt, darf man nicht die Tore öffnen. Jörn Schütrumpf äußerte dieser Tage im „Forum“ dieser Zeitschrift die Befürchtung, Putin werde erst im bretonischen Brest Halt machen. Das mag zugespitzt formuliert sein. Schütrumpfs Vision deckt sich allerdings mit Twardochs Einschätzung, dass die strategischen Planspiele des russischen Chauvinismus nicht an den derzeitigen Grenzen der Föderation Halt machen. Twardoch hat die (veröffentlichten!) Geschichtslektionen des russischen Präsidenten offenbar sehr genau gelesen.

Hilflosigkeit hat schon immer Ursache und Wirkung verwechselt.

Wolfgang Brauer

Kosmische Reiter irrlichtern mit Klaus Schulze

Ach, was waren die deutschen Hitparaden Ende der 1960er Jahre mit weichem Soul aufgeschwemmt! Da wurden Liebe und Sommer in Italien gefeiert und die deutschen Tugenden beschworen. Aussicht auf Besserung öffnete sich erst, als sich Musiker in Düsseldorf und Berlin auf die Suche nach dem musikalischen Gral machten und mit Schlagzeug, Tasteninstrumenten und allerlei gebasteltem Gerät neue Wege beschritten. Zu denen, die sich vom Genius Stockhausen beeinflussen ließen und mit Maschinen und anderen Geräuschkulissen experimentierten, gehörte Klaus Schulze, der am 4. August 947 in Berlin das Licht der Welt erblickt hatte und seit dem 26. April dieses Jahres als Kosmischer Reiter den Musikminister an Gottes Seite das Fürchten lehrt. Nachdem er als Schlagzeuger einer Beatkapelle erste Ideen ausprobiert hatte, schloss sich Schulze 1969 der Band „Tangerine Dream“ an. Ein Jahr später gründete er mit Gleichgesinnten „Ash Ra Tempel“, die Formation, die den Krautrock guthieß. Nach einer LP und einer Tournee verließ Schulze den Tempel der queren Musik und begann solo zu arbeiten. Er nahm moderne Elektronik zur Hilfe, entwickelte neue tönende Gerätschaften, die wohl mehr als 100 Drehknöpfen besaßen und für seine Geistesblitze gerade richtig waren. Mit Musikern des „Colloquium Musicum“ der Freien Universität Berlin nahm er die LP „Irrlicht“ auf und spielte die „Quadrophonische Symphonie für Orchester und E-Maschinen“ ein. Schulzes Musik ist schwer zu begreifen und benennen. „Ich versuche sie selbst erst im Nachhinein zu verstehen“, sagte er und verarbeitete Gedanken und Eindrücke. Auf dass kein geldgieriger Plattenboss seine Musik bemängele, gründete der Meister ein eigenes Plattenlabel, das den schwierigen Namen „Innovative Communication“ trug und 1983 durch INTEAM ersetzt wurde.

KS blieb ein Elektrogott in allen Gassen, produzierte die Band „Ideal“, Robert Schroeder, „DIN A Testbild“ und andere nicht alltägliche Kapellen. Gerne ging er auf Tournee, mal mit Arthur Brown durch Europa, dann wieder allein durch die Welt, immer die Elektro-Burg im Gepäck. 1981 kam das erste vollständig digital aufgenommene Werk, „Dig It“, auf den Markt. Es wurde von Fachzeitschriften zur LP des Monats gekürt und als „bestes Album überhaupt“ bezeichnet. 1983 absolvierte er eine Mammuttournee mit 106 Konzerten in 16 Ländern, 1984 machte er auch Filmmusik („Angst“). Zur Wende spielte Schulze in Dresden und vor dem Kölner Dom. Es folgten Kompositionen für die Millennium-Feier in Peking und hoch gelobte Studioalben. Für das Projekt „Schiller“ steuerte Klaus Schulze das Stück „Zenit“ bei, das mit seinen 35 Minuten den Rahmen sprengte. Dem Musikernachwuchs zeigte er, wie man Tasteninstrumente und elektronische Gerätschaften zum Wohle der Zuhörer bedient. Mit der australischen Sängerin Lisa Gerrard, die Kompositionen in ungeahnte Höhen schleuderte und ihre Stimme wie ein Instrument einsetzte, produzierte er Alben wie „Farscape“, das bis heute begeistert.

Gemeinsam mit Rainer Bloss (gestorben 2015), der in der DDR zahlreiche Soundtracks komponiert hatte und in die BRD übergesiedelt war, tourte er unter anderem durch Polen („Dziekuje Poland“). Beide schufen 1983 und 1986 zwei Konzeptalben die zu akustischen Autofahrten einladen, musikalisch über den Highway rasen, Pausen einlegen und auch die „Berliner Nachtmusik“ integrieren – zeitlose Klänge, wie ein Ritt über eine freie Autobahn gen überbordenden Klangraum. Der Kosmos der musikalischen Befreiung ist nah. Lasst uns auf ewig Schulze hören und hoffen, dass er nicht geholt wurde, um den Soundtrack für den Weltuntergang zu schreiben.

Thomas Behlert

Medien-Mosaik

Die ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ greift oft ungewöhnliche Themen auf, und hier kommt ein Film zu einem Thema, das zu Zeiten des DDR-Fernsehfunks alltäglich war, aber heute kaum noch behandelt wird: die Welt der Arbeiter. „Die Saat“ heißt der Film, den Regisseurin Mia Maariel Meyer gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und Hauptdarsteller Hanno Koffler geschrieben hat. Er spielt einen Fliesenleger, der sich zum Vorarbeiter und Baustellenleiter hochgearbeitet hat. Dieser Rainer ist ein tüchtiger, aufrechter Handwerker, auch als Leiter, der für seine Arbeiter da ist, und ein liebevoller Familienvater. Das Drama beginnt, als er durch den jungen Chef abgelöst wird. Ein „harter Hund“ soll die Produktivität steigern, was letztlich auf Ausbeutung hinausläuft. Die Arbeiter rebellieren, stellen sich hinter Rainer, aber dem neuen Bauleiter gelingt es, einen Keil zwischen die Leute zu treiben. Meyer und Koffler haben in diesen Stoff so ziemlich alles gepackt, was sie schon immer gestört hat: Gentrifizierung und hohe Mieten, Mobbing in der Nachbarschaft, alltägliche Kleinkriminalität, Schuldenfalle. Der Film zeigt es ungeschönt und hätte es auch ins DDR-Fernsehen geschafft. Bei uns schafft er es immerhin ins Kino. Aber Vorsicht! Es sollten nur absolut glückliche Menschen wagen, diese Anhäufung von Unglück und Verzweiflung bei dräuender Musik zu konsumieren. Man sieht, was alles schiefläuft und wird hoffnungslos nach Haus geschickt …

Die Saat. Regie Mia Maariel Meyer, Verleih missingFILMs, seit 28.4. in ausgewählten Kinos)

*

Da waren Klabund, Thomas Mann und seine Frau Katia, Klaus Mann und seine Freundin Mopsa Sternheim, Paul Éluard und die schöne Gala, die mit Dalí berühmt wurde. Wo traf sich die Bohème? Mascha Kaléko gab der Ort den Titel des Gedichts „Gruß aus Davos!“ Bei Thomas Mann führte der dortige Aufenthalt zum „Zauberberg“. Die Romanistin Unda Hörner hat den Roman aufmerksam gelesen und dazu viel Memoiren- und Sekundärliteratur. In Ihrem Davos-Band erzählt sie über Paare und über einsame, die beim Kuren mehr oder minder vergeblich versuchten, die Tuberkulose zu überwinden. Auch wie die Einheimischen auf die Berichte reagierten, ist bei Hörner nachzulesen. Denn Thomas Mann war in Davos zuerst eine Unperson, aber nachdem er Nobelpreisträger geworden war, schmückte man sich nur allzu gern mit ihm. Schließlich nahm er nach Rückkehr aus dem Exil auch seinen Wohnsitz in der Schweiz.

Die Autorin erzählt über all das informativ, manchmal auch amüsant. Der Eingeweihte findet wenig Neues, der Neuling kann jedoch durchaus dazulernen.

Unda Hörner: Der Zauberberg ruft! Die Bohème in Davos. ebersbach & simon, Berlin 2022, 144 Seiten, 18,00 Euro.

bebe

Geradlinig und unverwechselbar

Der vielseitige Leipziger Künstler – Musiker, Komponist, Grafiker und Lyriker – Thomas Bachmann, Jahrgang 1961, kennt sich mit Gedichten aus. Man weiß es nicht zuletzt dank der „Schlafenden Hunde“, bisher sieben anspruchsvolle Anthologien deutschlandweiter Lyrik, als deren Herausgeber Bachmann seit 2004 fungiert. Dass er selbst schreiben kann zeigen seine anspruchsvollen Liedtexte.

Unverwechselbar bleibt er, lebendig und gehaltvoll. Davon zeugt sein neuer Lyrikband „Übers Jahr“, der zweite unter diesem Titel, der erste erschien 2016. Folgerichtig handelt es sich um eine lyrische Bestandsaufnahme der vergangenen sechs Jahre.

Bachmanns poetische Bilder sind feinsinnig und deutlich zugleich, so poetisch wie sie politisch sind. Seine Töne und Formen, Themen und Betrachtungswinkel sind vielfältig, stets aber bleiben Präzision, Einfühlungsvermögen und Ernsthaftigkeit wesentliche Merkmale seiner bilderreichen Lyrik. Seine Ahnungen, Einschätzungen und Einsichten gehen über banalen Alltag hinaus, regen an, führen weiter – in ihrer Genauigkeit, ihrer persönlichen Sicht, ihrem gewollten Widerspruch.

die in Knüppel beißen

Da laufen sie
und schimpfen
auf Puppen von Stroh
als seien diese
denen ähnlich

die in feinen Ghettos
und an fernen Stränden
Neros Daumen proben
und private Archen bauen

Seid gewiss, ihre Herzen
sind aus Gummi
und die der anderen
aus Stein

„Nein, ihr macht mir nichts vor, ihr Herren der Welt, ihr schon gar nicht!“, könnte Bachmanns Credo lauten. Seine Gedichte sind mitunter makaber, mitunter humorvoll, auch wenn das Lachen im Halse stecken bleibt. Es sind Texte mit einem tüchtigen Schuss Bitternis und Selbsterkenntnis, die Helles und Dunkles zu spiegeln vermögen, dabei Abwegiges und allzu Vertrautes verdichten und entlarven. Thomas Bachmann weiß sehr gut, was es Wert ist, aufgelistet, gesammelt und chronologisch festgehalten zu werden. Auf seine eigene Art liefert er mit „Übers Jahr“ ein über den Tag hinaus gültiges, gewichtiges Buch, ein bereicherndes lyrisches Zeitdokument.

Gerd Puls

Thomas Bachmann: Übers Jahr II. Gedichte und Lieder 2016-2021. Verlag am Park, Berlin 2021, 160 Seiten, 14,00 Euro.

Alles über die Beatles

Sie waren die einflussreichste Band des 20. Jahrhunderts, sie schrieben eine der großartigsten Erfolgsgeschichten der Pop-Musik. Über kaum eine Musikgruppe sind so viele Bücher erschienen wie über die Beatles: Bildbände, Discografien, Biografien. Man müsste annehmen, dass die Beatles-Geschichte längst abgeschlossen ist.

Mitnichten: Der englische Journalist und Autor Craig Brown (Jahrgang 1957) gibt in „One Two Three Four – Die fabelhaften Jahre der Beatles“ Geschichten und Anekdoten zum Besten, die er in zahlreichen Quellen recherchiert hat. Ein Jahr lang hat Brown nichts anderes als Bücher, Musikzeitschriften und Artikel über die Beatles gelesen; trotzdem gesteht er, mit echten Beatles-Fans kaum mithalten zu können.

Aus hundertfünfzig Anekdoten, Erinnerungen, Partylisten, Fanbriefen und Tagebuchnotizen hat Brown ein buntes Mosaik zusammengestellt, in dem nicht nur die vier Musiker, sondern auch Weggefährten und Musikerkollegen eine Rolle spielen. Der Leser lernt etwa Jimmie Nicol kennen, der in Beatles-Biografien kaum erwähnt wird. Der Schlagzeuger war während einer Welttournee 1964 kurzfristig für den erkrankten Ringo Starr eingesprungen. Von seinen acht Konzerten als Beatle erholte sich Jimmie nie; 1988 brachte er selbst Gerüchte über seinen Tod in Umlauf.
Im Februar 1968 reisten die Beatles nach Nordindien, um an einem Kurs in Transzendentaler Meditation des Maharishi Mahesh teilzunehmen. Wie Brown erzählt, war ihr Leben in Rishikesh keinesfalls spartanisch. Der indische Guru hatte vierzig Mitarbeiter eingestellt, darunter mehrere Köche und eine Masseurin. Die Zimmer der Beatles waren mit Himmelbetten und Heizstrahlern ausgerüstet. Natürlich berichtet Brown auch vom legendären Auftritt der vier Liverpooler in der US-amerikanischen „Ed Sullivan Show“ oder von ihren Treffen mit den Rolling Stones, Elvis Presley oder Cassius Clay.

In zahlreichen Textcollagen haben auch Menschen ihren Auftritt, die den Beatles selbst nie begegnet sind. Da ist der Postbote Eric Clague, der täglich einen Sack Fanpost bei McCartneys Elternhaus ablieferte. Weniger Jahre zuvor hatte Clague als Polizei-Fahrschüler einen Autounfall, bei dem Julia Lennon, die Mutter von John, ums Leben gekommen war. Er hütete das Geheimnis, bis er 1998 von einem Reporter aufgespürt wurde. Auch Sgt. „Nobby“ Pilcher (nicht Sgt. Pepper), der diensteifrige Drogenfahnder, der die Musiker auf Schritt und Tritt verfolgte, lernt der Leser kennen. Das obskure Märchen „Paul McCartney is dead“ und das Rätsel über das Ende der Band werden ebenfalls beleuchtet … Das Personenregister umfasst 16 Seiten.

Brown, der als der witzigste Autor Englands gilt, erzählt die Geschichten mit literarischer Finesse und einer Portion britischen Humors. So kann er sich die spekulative Fiktion nicht verkneifen, dass nicht die Beatles, sondern Gerry & the Pacemakers die erfolgreichste Band der Popgeschichte seien. Ob Brown schon geahnt hat, dass deren Version von „You’ll Never Walk Alone” als Durchhalteparole in der Corona-Krise dienen würde?

„One Two Three Four“ – ein weiterer Tropfen in der Flut von Beatles-Büchern? Nein, eine unterhaltsame und informative Ergänzung.

Manfred Orlick

Craig Brown: One Two Three Four – Die fabelhaften Jahre der Beatles. Verlag C.H. Beck München 2022, 670 Seiten, 29,95 Euro.

Die Wiener Streifzüge zu Tausch – und Krieg

Franz Schandl schreibt in der Frühlingsausgabe der Wiener Streifzüge: „Draußen ist Krieg und wir reden vom Tausch. Aber vielleicht ist deswegen immer wieder Krieg, weil drinnen der Tausch tobt, das Geld giert und der Wert und seine Werte alle unsere Gesellschaften bestimmen und zerstören.“

Unbedingt auch nachdenkens- und lesenswert die Beiträge zum Krieg: So fragt sich zum Beispiel Franz Nahrada in „Make Villages not War“: „Man erfährt, was die Privatperson im Krieg zählt, nämlich gar nichts, und wünscht dem Krieg nicht das sofortige Ende, sondern die intensivierte Fortsetzung mit richtigem Ausgang? […] Eines steht fest: Aufrüstung wird den Frieden nicht sichern, sondern uns endgültig daran hindern, unsere Lebensweise auf diesem Planeten entscheidend umzubauen. […] (Es gibt) keine größere Gefahr für Natur und Mensch als den Kampf der Imperien, ihre Ansprüche, ihre Geschäfts- und Gewaltmittel und ihre totale Rücksichtslosigkeit in ihrer wechselseitigen Konfrontation.“

Thomas Konicz verlangt eine „radikale Friedensbewegung“. Er befürchtet, dass ohne eine baldige diplomatische Lösung die Söldner, Abenteurer, Islamisten und Nazis im Krieg an Gewicht gewinnen und sich die Ukraine in einen „Failed State“, in eine Art Syrien wandelt, in dem ein permanenter, von außen angefachter Krieg herrscht. Dem müsse eine „offensiv antikapitalistische Friedenspolitik entgegengestellt werden, in der die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand mit der Thematisierung der Systemkrise einherginge“.

mvh

Streifzüge, Nr. 84 Frühling 2022, Wien, 8,00 Euro oder im Internet.

Blätter aktuell

Der Einmarsch in die Ukraine lässt Russlands Geschichtspolitik der vergangenen Jahre in neuem Licht erscheinen. Der Historiker und Soziologe Mischa Gabowitsch zeigt, wie Moskau die Begriffe „Nazismus” und „Faschismus” geschichtsrevisionistisch wendet – gegen die Eigenständigkeit postsowjetischer Staaten. Allerdings könnte der Angriff auf die Ukraine Putins propagandistischem Narrativ ein Ende bereiten.

Chemiewaffen werden international geächtet und kommen doch immer wieder zum Einsatz – etwa im Syrienkrieg. Die Politikwissenschaftler Alexander Kelle und Oliver Meier analysieren angesichts des eskalierenden Ukraine-Kriegs den Zustand des globalen Regimes zu deren Eindämmung. Ihr Befund: Seit Jahren torpediert Russland im Verbund mit anderen Staaten die Umsetzung des Chemiewaffenverbots. Daher gilt es, alternative Strategien zur Einhegung dieser Massenvernichtungswaffen zu entwickeln.

Ein Jahrzehnt lang ließen Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Kanzleramtschef Hans Globke den engsten Führungszirkel der SPD illegal ausspähen. Nach der Aktenöffnung durch den Bundesnachrichtendienst seziert der Historiker Klaus-Dietmar Henke diesen wahrscheinlich größten politischen Skandal der Bonner Republik. Sein Fazit: Das Komplott zwischen Kanzler und Geheimdienst gefährdete den Rechtsstaat und die politische Kultur der jungen Demokratie aufs Äußerste.

Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Kornkammer Ukraine: Auf Krieg folgt Welthunger“, „Israels neue Verbündete: Frieden statt Flächenbrand?“ und „Philippinen: Die Rückkehr des Ferdinand Marcos“.

am

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Mai 2022, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

WeltTrends aktuell

Russlands Krieg in der Ukraine zeigt täglich seine menschenverachtende Fratze. Hierzulande wird die Debatte um einen Stopp russischer Gasimporte und Waffenlieferungen an die Ukraine immer heftiger geführt. Die Fragen, wie dieser Krieg beendet und ein Frieden gestaltet werden kann, spielen kaum eine Rolle. WeltTrends nimmt mit dem Thema „Neutralität“ eine Idee auf, die in den ersten Gesprächen zwischen den Kriegsparteien in der Türkei erörtert wurde. Die Ukraine hatte über zwei Jahrzehnte die Neutralität in ihrer Verfassung festgeschrieben, dies dann jedoch durch das Bestreben, Mitglied der NATO zu werden, ersetzt. Neutralität ist, wie Pascal Lottaz vom Neutrality-Forschungsnetzwerk schreibt, die „Kehrseite des Krieges“, „eine außenpolitische Maxime“, die von allen Staaten angewandt werden kann. Österreich, Irland und Finnland stehen als Beispiele für (aktive) Neutralitätspolitik der letzten Jahrzehnte. In der Analyse erläutert Chunchun Hu die chinesische Sicht und verweist auf Europas historische Verantwortung im Ukrainekrieg. Im WeltBlick geht es um die Wahlen in Südkorea, bei denen der Kandidat der konservativen Volkspartei siegte, die Lage in Sudan und das enorme Engagement Russlands im syrischen Bürgerkrieg.

WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 187 (Mai) 2022. (Schwerpunktthema „Neutralität und Ukraine“) Potsdam / Poznan, 5,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

Wie im Kreml über den Ukraine-Krieg und dessen Perspektiven gedacht wird, kann zwar ansatzweise in den Medien wiedergegebenen Äußerungen von Präsident Putin oder seinem Außenminister Lawrow entnommen werden, doch fehlt es an umfassenderen, einordnenden Quellen. Hilfreich – bei aller gebotener Vorsicht im Hinblick auf allzu mechanische Deduktionen – sind Ausführungen Dritter, bei denen eine Verbindung zur russischen Machtzentrale besteht oder auf der Hand liegt.

So hat Der Tagesspiegel ein Interview mit Sergej Karaganow, „Putins Vordenker“, publiziert, das ursprünglich im britischen New Statesman erschienen war. Auf die Frage, ob derzeit „ein Moment höchster Gefahr für Russland“ bestehe, antwortet Karaganow: „Ich würde sagen, ja, dies ist ein existenzieller Krieg. Wenn wir nicht irgendwie gewinnen, dann werden wir meiner Meinung nach alle möglichen unvorhergesehenen politischen Auswirkungen haben, die viel schlimmer sind als zu Beginn der 1990er Jahre.“

Im Blättchen 9/2022 hatte sich Stephan Wohanka mit einem Beitrag von Timofej Sergejzew auseinandergesetzt, den die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti Anfang April verbreitet hatte. Diesen Beitrag haben die Blätter für deutsche und internationale Politik in ihrer aktuellen Ausgabe im Wortlaut dokumentiert. Eine von Sergejzews Ungeheuerlichkeiten lautet: „Kriegsverbrecher und aktive Nazis müssen hart und exemplarisch bestraft werden. Es muss eine vollständige Lustration (Reinigung) durchgeführt werden. Alle Organisationen, die sich mit der Praxis des Nazismus verbunden haben, müssen beseitigt und verboten werden. Neben den Spitzenkräften ist jedoch auch ein erheblicher Teil der Masse des Volkes schuldig, nämlich die passiven Nazis, die Kollaborateure des Nazismus. Sie unterstützten und umschmeichelten die Nazi-Regierung. Die angemessene Strafe für diesen Teil der Bevölkerung kann nur darin bestehen, dass die Betroffenen die Lasten hinzunehmen haben, die der gerechte Krieg gegen das nazistische System unvermeidlich mit sich bringt […].“

Hans Monath / Bruno Maçães: „Die Demokratie in ihrer jetzigen Form wird im Großteil Europas nicht überleben“, tagesspiegel.de, 06.04.2022. Zum Volltext hier klicken.

Timofej Sergejzew: „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“, blaetter.de, Mai/2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Die konsequentesten und gefährlichsten US-Vasallen in der Bundesregierung und im Deutschen Bundestag sind die Grünen“, so Oskar Lafontaine in einem Namensbeitrag für die Schweizer Weltwoche, „deren einstiger Vormann Joschka Fischer mit seiner späteren Geschäftspartnerin Madeleine Albright Deutschlands Beteiligung am völkerrechtswidrigen Jugoslawienkrieg vorantrieb. Man dachte, es könne nicht schlimmer kommen, aber die neue Aussenministerin Annalena Baerbock bedient sich schon mal faschistoider Sprache und will Russland ‚ruinieren‘.“

Oskar Lafontaine: Amerika treibt Europa in einen Atomkrieg, weltwoche.ch, 29.04.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Die Welt steht an einem Scheideweg“, konstatiert der Olof-Palme-Bericht 2022: „Sie steht vor der Wahl zwischen einer Existenz auf der Grundlage von Wettbewerb und Aggression oder einer Existenz, die auf einer transformativen Friedensagenda und gemeinsamer Sicherheit beruht. Im Jahr 2022 ist die Menschheit mit den existenziellen Bedrohungen eines Atomkriegs, des Klimawandels und von Pandemien konfrontiert. Hinzu kommt eine toxische Mischung aus Ungleichheit, Extremismus, Nationalismus, geschlechtsspezifischer Gewalt und schrumpfenden demokratischen Handlungsspielräumen.“

Zu diesem Bericht vermerken Peter Brandt, Reiner Braun und Michael Müller: „Die Bekämpfung der Ostpolitik verkennt völlig, dass die Fortschritte in Europa erst durch die Entspannungspolitik möglich geworden sind. Natürlich wurden auch Fehler gemacht, aber der Kern des Versagens liegt darin, dass nach 1989 die Idee der gemeinsamen Sicherheit immer stärker an den Rand gedrängt wurde.“

Olof-Palme-Bericht: Gemeinsame Sicherheit 2022, berliner-zeitung.de, 23.04.2022. Zum Volltext hier klicken.

Peter Brandt / Reiner Braun / Michael Müller: Ukraine-Krieg: „Wir brauchen Friedensgespräche und nicht Aufrüstung“, berliner-zeitung.de, 23.04.2022. Zum Volltext hier klicken.

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„Je mehr über den Krieg gegen die Ukraine gesprochen wird“, bemerkt Katharina Körting, „desto häufiger fallen Worte wie ;Atomkrieg‘, ‚Atombombe‘, ‚Atomwaffen‘, ‚Dritter Weltkrieg‘. Der ‚Einsatz von Atomwaffen‘ – schon das ist ein Euphemismus – erobert sich schleichend den Anschein des Normalen. Und fast alle machen mit. So entsteht nach und nach der Eindruck, dass ein Atomkrieg ‚führbar‘ sei. Damit treiben Politiker den Dritten Weltkrieg in die Köpfe – und bereiten ihn als akzeptable Option vor.“

Katharina Körting: Debatte über Krieg und Aufrüstung: Fortschreitende Verharmlosung, freitag.de, 24.04.2022. Zum Volltext hier klicken.