In ihren Betrachtungen zum Charakter totalitärer Bewegungen machte Hannah Arendt einen Unterschied zwischen fanatischem Idealismus, der unabhängig von seiner Verstiegenheit individuell bleibe, und kollektivem totalitären Fanatismus: „Solange aber die Bewegung hält […], ist das fanatisierte Mitglied weder von Erfahrungen noch von Argumenten zu erreichen […], daß es scheint, als sei die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überhaupt vernichtet …“. Wenn man es nicht besser wüsste – man könnte meinen, Arendt habe hier Putins Russland analysiert.
Noch „hält die Bewegung“; so ist es nicht besonders schwierig, Berichte wie den nachfolgenden aufzutun: Die Betreiberin eines Schönheits-Salons in der Ukraine berichtete, wie russische Soldaten ihre Stadt überfielen, in ihren Salon einbrachen, ihren Bruder erschossen, wie sie mordeten, raubten und plünderten. Sie erzählte das ihrer bei Moskau wohnenden Tante, die alles abstreitend sagte, das könne nicht sein; es müsse sich um als russische Soldaten verkleidete Ukrainer handeln. Selbst Söhnen glaubten Väter nicht … Die Putinsche Propaganda fällt also auf fruchtbaren Boden respektive hat diesen über Jahre bereitet. So sollen rund 80 Prozent der russischen Bevölkerung den Krieg in der Ukraine, der nicht so genannt werden darf, unterstützen; andere Meinungsforscher sprechen von 57 Prozent. Wie dem auch sei, es ist bestimmt eine deutliche Mehrheit. Das Vertrauen in Putin steigt.
Die staatlichen Medien werden in Russland rigide kontrolliert; „ungünstig“ formulierte Passagen etwa im Internet wurden schon häufig in Windeseile gelöscht. Deshalb ist auch der von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti Anfang April verbreitete Kommentar des „Polittechnologen“ (was immer das auch sei) Timofej Sergejzew, der eigentlich Filmregisseur ist, kein Zufall; sein Text ist überschrieben mit „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“. Der leitende Gedanke lautet: „Укронацизм несет в себе не меньшую, а большую угрозу миру и России, чем немецкий нацизм гитлеровского извода“; zu gut deutsch: „Der ukrainische Nazismus stellt eine viel größere Gefahr für die Welt und Russland dar als die Hitler-Version des deutschen Nazismus“.
Oha, das muss man erst mal schlucken … „ukrainischer Nazismus“ anstatt „Brudervolk“ (O-Ton Putin)? Ein Versehen? Keineswegs! Vertieft man sich in das Elaborat Sergejzews, wird schnell klar, dass offenbar – „offenbar“ deshalb, da das Papier kein regierungsamtliches ist – die Putinsche Propaganda grundlegend „umgestellt“ wurde: Nicht mehr die ukrainische „Marionetten-Regierung“ des Westens, die von einer „Bande von Rauschgiftsüchtigen und Neonazis“ geführt wird und deshalb „entnazifiziert“ werden müsse, steht im Fokus, sondern die Ukraine generell, das Land und seine Menschen. Zu lesen ist unter anderen, dass die Entnazifizierung nur durch die Sieger des Krieges – also Putins Armee – durchgeführt werden könne, dass sie deshalb die bedingungslose Kontrolle über den Prozess der Entnazifizierung innehaben müsse. Auch könne das zu entnazifizierende Land, die Ukraine, niemals souverän sein. Der entnazifizierende Staat, Russland also, könne unmöglich einen liberalen Ansatz der Entnazifizierung verfolgen; mehr noch – die Entnazifizierung werde unvermeidlich eine Ent-Ukrainisierung beinhalten müssen und eine Ent-Europäisierung gleich mit dazu. Die Entnazifizierung als Ziel der militärischen Spezialoperation bedeute den Sieg über das Kiewer Regime und die Befreiung des Territoriums von den bewaffneten Unterstützern der ukrainischen Nazis. Verständlicherweise müsste dazu auch die Führung eliminiert werden.
Anschließend treibt der Autor seine Suada aber noch ein Stück weiter: Der soziale Sumpf (gemeint sind die Ukrainer als Gesellschaft – St. W.), der diese Führung aktiv und passiv unterstützt habe, müsse die Härte des Krieges spüren.
Im Klartext: Das ukrainische Volk kann also durch Putins Armee zusammengeschossen und -gebombt werden; was ja schon mit brutaler Gründlichkeit geschieht. Und das deshalb, weil die Menschen zu ihrer demokratisch gewählten Regierung stehen und so zu „bewaffneten Unterstützern der Nazis“ mutiert seien.
„Die Entnazifizierung der Ukraine“, so Sergejzew weiter, „ist gleichzeitig ihre Entkolonialisierung, was die ukrainische Bevölkerung begreifen muss, wenn sie beginnt, sich aus dem Rausch, der Versuchung und der Abhängigkeit der sogenannten europäischen Wahl zu befreien.“
Die einzige plausible Erklärung für diesen manischen Ausbruch an Intoleranz und Hass liegt darin, dass Putins „Blitzkrieg“ grandios gescheitert ist. Daher braucht der Krieg – pardon die „Spezialoperation“ – eine neue Begründung: Meinte man in völliger Verkennung der Tatsachen seitens Russlands anfangs, man müsse nur die drogensüchtige, faschistische Regierungsbande auseinanderjagen und würde von den Ukrainern im Übrigen mit Brot und Salz empfangen, so sieht man sich seit Wochen mit einer kampfstarken ukrainischen Armee und auch Bürgerwiderstand konfrontiert. Und flugs erklärt man alle uniformierten und „normalen“ Bürger zu Faschisten, die damit zu – aus russischer Sicht – legitimen Kriegszielen wurden. Und da wird auch die Aufwertung des „ukrainischen Nazismus“ gegenüber der „Hitler-Version“ sinnfällig: Die ukrainischen Faschisten seien zwar schlimmer als die deutschen, aber letztere wurden von den Vätern besiegt, und dieser Sieg sei Ansporn und Garant dafür, jetzt den Faschisten in der Ukraine den Garaus zu machen.
Konterkariert diese Lesart aber nicht das Putinsche Propagandakonstrukt von der bloßen „Spezialoperation“? Der Krieg gegen das deutsche Nazi-Reich war und ist in sowjetisch-russischer Lesart der „Große Vaterländische Krieg“ – also ein Krieg! Und gegen die ukrainischen Faschisten sollte es diesmal ohne Krieg abgehen? Kaum glaubhaft; und es gibt Zeugnissw dagegen. Beinahe zeitgleich zu Sergejzews Suada machte ein Interview Dmitri Peskows, des Pressesprechers Putins, die Runde: „Wir haben bedeutende Verluste, das ist eine gewaltige Tragödie für uns.“ Zuletzt hatte Russland von lediglich 1351 getöteten Soldaten gesprochen; „Tragödie“ klingt jedoch nach wesentlich höheren Opferzahlen.
Peskow behauptete überdies, die russischen Truppen seien aus den ukrainischen Gebieten Kiew und Tschernihiw zurückgezogen worden, um „guten Willen“ während der ukrainisch-russischen Verhandlungen zu zeigen. Westliche Geheimdienste und Militärexperten hingegen werten den Abzug als russische Niederlage.
„Unser Militär tut sein Bestes, um diese Operation zu beenden“, so Peskow weiter, und Russland hoffe, dass „in den kommenden Tagen“ oder der nahen Zukunft der Militäreinsatz die von Putin gesetzten Ziele erreiche oder die Verhandlungen mit der Ukraine ein Ergebnis brächten. Ein Erfolg der Gespräche hänge stark davon ab, inwiefern Kiew auf Moskaus Forderungen eingehe (sic!). Und natürlich dementierte Peskow, dass Russland irgendetwas mit den Gräueltaten in der Ukraine zu tun habe.
Um auf den Anfang zurückzukommen – es ist unbestritten: Die Propaganda und der autoritäre Druck des Regimes erklären die große Zustimmung der Russen zum Krieg. Deren Zustand bezeichnete Alexander Dubowy, Russland-Experte der Berliner Zeitung, als „passive Konformität“.
Andererseits ist niemand gezwungen, Putins Propaganda zu folgen; und der Autor dieses Beitrages hält es für falsch, die Bevölkerung Russlands grundsätzlich als arme, uninformierte Naivlinge darzustellen, die gar nicht anders könnten, als einen Angriffskrieg und nun auch Kriegsverbrechen zu unterstützen. Es gibt auch in Russland genügend Indizien dafür, dass Menschen sich fragen (lassen) müssen, ob die „allgemeine Bequemlichkeit und die Sehnsucht nach Verantwortungsverlagerung auf die Schultern des paternalistischen Staates“ (Dubowy) noch so ohne weiteres hinnehmbar sind. Oder ob nicht doch allmählich auf der schweigenden Mehrheit eine wachsende Mitverantwortung dafür, was in der Ukraine geschieht, lastet? Und ob die wohl entscheidende Frage – Wahrt der sich hinziehende Krieg tatsächlich russische Interessen? – von der Kreml-Propaganda zutreffend beantwortet wird …
Beendet am 14.04.22.
Schlagwörter: Krieg, Nazis, Propaganda, Putin, Stephan Wohanka, Ukraine