22. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2019

Bemerkungen

Julian Assange und die Heuchelei der Medien

Dass Whistleblower es nicht leicht haben, ist seit langem bekannt. Der Staatsapparat tut alles, um ihm nicht genehme Nachrichten zu verhindern, die Quelle zu jagen, den Ruf des Whistleblowers zu schädigen, ihn zu diskreditieren, ins Gefängnis zu stecken.
Nun hat man also Julian Assange, den Gründer von Wikileaks, ins Gefängnis gesteckt. Vergessen ist in den meisten Medien, dass durch Assanges Mitwirken spektakuläre Amtsgeheimnisse enthüllt und zum Beispiel Kriegsverbrechen im Irak und Afghanistan ans Tageslicht gezerrt wurden. Chelsea Manning wurde erneut ins Gefängnis gesteckt, um ihr Aussagen gegen Julian Assange zu entlocken. Es gab kurze Nachrichten, keinen Aufschrei in den Medien. Eher wurden Vorwürfe gegen Assange als Person wiederholt, die dieser immer wieder vehement bestritten hatte. Die Diskreditierung hat also funktioniert und lässt die Verdienste von Assange scheinbar unwichtig werden.
Whistleblower verdienten nach Meinung vieler Medien keinen Schutz im Namen der Pressefreiheit. Dabei – wie sollten Sie Ihrer Funktion als Hüter der Demokratie nachkommen, wenn sie nicht immer wieder Quellen hätten, die über Nichtgenehmes informieren.
Edward Wassermann, Journalismus-Professor, immerhin kritisiert in der New York Times diesen Journalismus. Zitiert Journalisten, die den „Dieb“ Assange, den unkontrollierbaren Typen, der den Russen geholfen habe, vorführen. Wassermann schreibt, Julian Assange zähle ungeachtet seiner tatsächlichen oder mutmaßlichen Vergehen zu den ungewöhnlichsten Quellen des neuen Jahrtausends. „Das digitale Zeitalter verzeiht zwar die Verbreitung von Lügen und Rassismus, doch die Behörden reagieren extrem unwirsch, wenn die Informationen zutreffend, wichtig und unangenehm sind.“
„Warum sperrt man Whistleblower ein, während Reporter, die die geheimen Leaks veröffentlichen, mit Preisen überschüttet werden?“ Diese Frage bleibt bisher unbeantwortet – und der Mut von Whistleblowern wie Snowden, Manning und auch Assange erscheint angesichts der gegenwärtigen Lage selbstzerstörerisch. Ja, ihr Schicksal soll abschrecken. Und bei der Abschreckung leisten viele Medien gehorsame Staatsarbeit.

Margit van Ham

Agenda 2010 und Prekariat

Die Konjunktur schwächelt. Wachstumsprognosen werden nach unten korrigiert. Das Menetekel einer Rezession geht um. Nur ein Bereich boomt – der Niedriglohnsektor. Der umfasst, einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge, neun Millionen Beschäftigungsverhältnisse. Es arbeiten also bereits 20 Prozent aller Beschäftigten hierzulande für Hungerlöhne.
Der Europa-Korrespondent von Bloomberg, Leonid Bershidsky, befundete nach Kenntnisnahme der DIW-Studie: „Der europäische Gigant kann sich angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs auf eine Armee von schlecht bezahlten Arbeitern verlassen.“ Deren Quote, so Heinz-Josef Bontrup, Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, sei seit der Wiedervereinigung um über 20 Prozentpunkte gestiegen.
Im Ergebnis ist ein neues Dienstleistungsprekariat entstanden.
Die Experten sind sich weitgehend einig, dass dieser Sachstand ein direktes Ergebnis sozialdemokratischer Politik ist – nämlich der unter Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Werk gesetzten Agenda 2010, mit der Lethargie und Massenarbeitslosigkeit beseitigt werden sollten. Das habe geklappt, meinen die Verfechter dieser Agenda heute.
Das kann man von der zweiten Seite der Agenda-Strategie – „fordern und fördern“ – allerdings nicht behaupten. Die DIW-Studie konstatiert: „Dass der Niedriglohnsektor als Übergang oder gar als Sprungbrett dient, erweist sich für die meisten Beschäftigten als Illusion. Vielmehr gibt es eine Niedriglohnfalle.“

hh

Erpressung unter Partnern

Es war im Sommer 2018, als US-Präsident Trump drohte, neue Autozölle einzuführen, und obwohl BMW, Daimler und VW in den USA jährlich 750.000 Autos produzieren und dafür zusammen mit ihren Zulieferern knapp 120.000 Beschäftigte entlohnen, kuschte die EU-Kommission. Deren Präsident, Jean-Claude Juncker, eilte nach Washington und gab die schriftliche Verpflichtung ab: „Die Europäische Union wird mehr verflüssigtes Erdgas (LNG) aus den USA importieren, um ihre Energieversorgung zu diversifizieren.“ Trumps Gegenleistung? Keine. Die Sache mit den Zöllen schwelt bis heute.
Dafür stiegen die Importe des gegenüber russischem Erdgas deutlich teureren US-LNG seit Junckers Kotau rasant an – um bis dato über 270 Prozent. Der US-Anteil an den gesamten Flüssiggasimporten der EU liegt laut EU-Kommission inzwischen bei 35 Prozent; 2018 hatte er noch bei elf Prozent gelegen.
Doch das reicht den Gierschlunden aus Übersee noch längst nicht. Dieser Tage stänkerte US-Energieminister Perry in Brüssel erneut gegen den Bau der Nordstream-2-Pipeline für die Lieferung von mehr Gas aus Russland nach Deutschland und drängte die Bundesregierung wieder einmal zum Bau von weiteren Flüssiggas-Terminals. Beim deutschen Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), der auch sonst keine besonders kompetente Figur macht, rennt Perry damit offene Türen ein. Altmaier verlautbarte, Gasimporte aus den USA nach Deutschland erleichtern zu wollen.
Transatlantische Partnerschaft eben.

gm

Sieben auf einen Streich

Der Berliner Schauspieler und Regisseur Stefan Kleinert hat sich für einen wesentlichen Teil seines Berufsfeldes der Arbeit mit jungen Leuten verschrieben. Seine Gruppe YAS existiert seit rund einem Jahrzehnt und ist seit 2015 beim Berliner Schlosspark Theater angesiedelt. Im ausverkauften Haus hatte Ende April die neueste Produktion Premiere: „Faust. Eine Tragödie“ – nur der erste Teil, wenn auch in Kleinerts Bearbeitung mit Anklängen an „Faust II“.
„Habe nun, ach! …“ – der bekannte Monolog passt sehr gut auf den Faust-Darsteller Antonin Butt, der gerade Abiturprüfungen zu absolvieren hat. Trotzdem war er mit Konzentration bei der Sache. Die jungen Leute – niemand ist älter als 26 – sind ein aus früheren Produktionen eingespieltes Team. Kleinert legt Wert darauf, mit der Truppe anderen jungen Leuten Klassiker nahezubringen. Das scheint auch mit Goethe möglich zu sein. Der Regisseur hat den Text behutsam bearbeitet, und kleine Aktualisierungen geben die Würze. Auf weitgehend leerer Bühne erlebt man eine „Faust“-Collage. Das betrifft besonders die Mephisto-Figur, die sich versiebentfacht hat. Schon immer zieht es junge Mädchen eher zur Bühne als junge Männer, auch im Jungen Schlosspark Theater. Gottvater ist hier eine Göttin, und Kleinert stellt sieben Mephistos auf die Bühne, alle von jungen Damen gespielt, oft in Zweierkombination, manchmal auch alle sieben auf einen Streich. Es ist verblüffend, wie die Texte sich quasi selbst hinterfragen. Gretchen hat nun in einigen Szenen mit ihresgleichen zu tun – die Geschlechterfrage kann da neu gestellt werden!
Unterstützt wird das Spiel einfühlsam durch den musikalischen Leiter Dirk Morgenstern am Tasteninstrument, der auch eigene Kompositionen beigesteuert hat. Kleinerts Crédo „Klassiker neu entdecken!“ erfüllt diese Aufführung auf das beste, eine Entdeckung sowohl für die, die das Stück noch nie auf der Bühne sahen und anregend für die, die glaubten, es schon zu oft gesehen zu haben.

Frank Burkhard

Faust. Eine Tragödie, Regie Stefan Kleinert, YAS – Das junge Schlosspark Theater, nächste Vorstellungen im Schlosspark-Theater: 26.8., 22.9. und 15.12.

„Ich bin immer auf dem Boden geblieben“

Alles spiele ich,
nur kein liebes Mädchen.
Ursula Karusseit

Ursula Karusseit konnte diesen Nachtrag zu ihren Lebensgeschichten „Wege übers Land und durch die Zeiten: Gespräche mit Hans-Dieter Schütt“, erschienen im Jahre 2009, noch vollenden und freute sich darauf, damit auf Lesereise zu gehen. Doch der Große Steuermann hat anders entschieden: Die einem Millionen-Publikum in der DDR bekannte und von diesem geschätzte Aktrice verstarb am 1. Februar dieses Jahres.
Vor diesem Hintergrund mag beim Zurhandnehmen ihrer weiteren Erinnerungen Trauer aufkommen, und das ist ganz in Ordnung so. Doch die nachgerade sanguinische Darstellungsweise der Karusseit, die sich auch von schweren Stunden nie unterkriegen ließ, schiebt die Melancholie rasch beiseite.
Ursula Karusseit war die Elsa in der legendären Diktatur-Parabel „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz. „Die Inszenierung am Deutschen Theater war der Wurf des Jahrhunderts“, urteilt sie völlig zu Recht. Und sie hatte die Größe, ihre Rolle an eine Jüngere abzutreten, als sie meinte, zu alt dafür geworden zu sein. Sie wollte, wie sie bekennt, nicht „irgendwann von Dritten darauf hingewiesen werden“.
Sie erinnert sich und uns Leser an Kollegen: „Was für ein Kaliber von Charakterdarsteller alten Schlages war Wolf Kaiser!“ Wenn’s sein muss, auch kritisch: „Henry Hübchen war eine große, schöne Ablenkung. […] Heute kommen wir nicht mehr gut miteinander aus, die Leute ändern sich eben. Er ist jemand, der immer auch Geschäftchen macht und auf seinen Vorteil bedacht ist, das hat mir nicht gefallen.“
Sie war mit dem Schweizer Regisseur Benno Besson, dem „Drachen“-Inszenierer, verheiratet, was ihr einen West-Reisepass nicht nur bescherte, sondern auch die Möglichkeit, ihn zu benutzen. Trotzdem: „Ausreise stand für mich nicht zur Debatte. Ich hatte eine Arbeit, die ich liebte und gut machen wollte. Ich hatte Kollegen, mit denen ich gern zusammen war. Ich habe nervende und völlig sinnlose Konflikte durchstehen müssen, von denen es in der DDR reichlich und an den Theatern immer noch genug gab. Aber ich habe den Westen nie als Alternative angesehen.“ Und das auch deswegen nicht, weil „wir in unserem Land […] sehr viel seltener die Ellenbogen einsetzten, als es heute üblich geworden ist“. Und ebenso, weil „es im Sozialismus eine Menge Ansätze gab, das Leben der sogenannten einfachen Leute sozial besser und gerechter zu organisieren als im Kapitalismus“.
Sie war völlig ohne Starallüren und sagte von sich selbst: „Ich bin immer auf dem Boden geblieben. Zum Spektakulären tauge ich nicht, und eine Diva bin ich schon gar nicht.“

Thaddäus Faber

Ursula Karusseit: Zugabe, Verlag neues leben, Berlin 2019, 208 Seiten, 17,99 Euro.

Bunges Bilderwelten

Der Filmemacher und Fotograf Norbert Bunge betreibt in der Marienstraße in Berlin-Mitte die Fotogalerie „argus fotokunst“. Er zeigt hier dokumentarische Schwarz-Weiß-Fotografie – darunter exzellent ausgewählte Arbeiten ostdeutscher Fotografen wie Arno Fischer, Manfred Paul und Gundula Schulze – in deutlicher Distanz zur digitalen Fotokunst. Diese Bildästhetik bestimmt auch die Arbeiten Bunges selbst. 2017 brachte Mathias Bertram bei Lehmstedt in Leipzig den Band „Fotografien“ heraus, jetzt betreute Bertram im selben Verlag Norbert Bunges „Porträts“. Der Bogen spannt sich dabei von Zufallsaufnahmen Gina Lollobrigidas, die bei einem Empfang im Westberliner „Kempinski“ 1965 von einem wildgewordenen italienischen Journalisten traktiert wurde, bis zu Familienporträts, die Bunge auf Reisen durch Nordamerika und den Süden Afrikas in den 1980er- und den 1990er-Jahren aufnahm. Den Schwerpunkt des Bandes bilden aber Porträts von Kolleginnen und Kollegen Norbert Bunges von Ellen Auerbach bis Annette Wolff. Mich faszinieren besonders die Psychogramme, die dem Künstler vom türkischen Jahrhundert-Fotografen Ara Güler gelangen. Von ähnlicher Intensität die Bildfolge mit Fritz und Christa Cremer, aufgenommen 1980 und 1981 im Berliner Akademie-Atelier und auf Usedom. Bertram gelang eine angesichts der Bilderfluten, die andere präsentieren, wohltuend Maß haltende Auswahl, die dem Betrachter dennoch eine Vielfalt des menschlichen Antlitzes offenbart, die atemberaubend ist. Michaela Gericke hat für das Buch einen klugen Essay geschrieben.

Wolfgang Brauer

Norbert Bunge: Porträts. Herausgegeben von Mathias Bertram, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2018, 104 Seiten, 25,00 Euro.

Quer durch die Zeiten

Zu Ostern wiederholte der MDR einen 40 Jahre alten DEFA-Film, in dem Agnes Kraus ihrem kleinen Neffen ein Mosaik-Heft schenkt. Das war schon eine Ausgabe mit den noch heute agierenden drei Abrafaxen. Sie hatten zu Jahresbeginn 1976 die bisherigen Helden, die Digedags, abgelöst, die seit Ende 1955 durch Welt und Zeiten reisten. Ihr Schöpfer Hannes Hegen wollte nicht mehr unter den alten Bedingungen weitermachen und pochte auf seine Urheberrechte. Als das Mosaik-Kollektiv damals neue Helden entwarf, die den alten ähnelten, grollte der Meister. Nach 1990 gab er die Rechte seiner Mosaik-Hefte an den nach der Abwicklung durch die Treuhand als Tochter des Tessloff-Verlags neu gegründeten Buchverlag Junge Welt, der 2006 schließlich in diesem aufging. Hier erscheinen die Digedag-Abenteuer weiterhin in den alten Ausgaben, wovon es bis 1975 229 Hefte gab. Mit dem Mai-Heft der Abrafaxe-Mosaik-Reihe, das jetzt in den Handel kommt, liegt das 521. Abrafaxe-Heft vor, und zusammen macht das nach Adam Ries 750 Mosaiks!
Im Mosaik-Steinchen-für-Steinchen-Verlag haben die Abrafaxe 1991 ihre Heimstatt gefunden und sind jetzt das auflagenstärkste in Deutschland produzierte Comicmagazin, eine DDR-Erfolgsgeschichte, ähnlich der des DFF-Sandmännchens. Auch im Computerzeitalter werden die Zeichnungen „mit Herz und Hand gemacht“, wie der Verlag mitteilt. Zwanzig Mitarbeiter sind mit den monatlich erscheinenden Heften beschäftigt. Autor Jens U. Schubert schreibt die Geschichten, die derzeit in die Ära der Hanse führen. Dass er seit 1986 selbst jahrelang Mosaik-Zeichner war, kommt ihm zugute, denn er skizziert bereits einige Stationen der Handlung. Den Aufriss, also die Gestaltung der einzelnen Seiten, nimmt der künstlerische Leiter Jörg Reuter vor, der schon seit Beginn der achtziger Jahre fürs Mosaik zeichnet. Wenn es an die Feinarbeit geht, hat jeder Zeichner seine eigenen Figuren, die auf einem speziellen Zeichenkarton im A3-Format ihren Platz finden. Zum Schluss wird aber doch noch am Computer gearbeitet – hier erfolgt die Kolorierung.
Zum Jubiläumsheft gibt es natürlich etwas Besonderes. Es liegt ein großformatiges Poster bei, auf dem die 744 verschiedenen Titelbilder der Digedags und der Abrafaxe wiedergegeben sind. Nur 744? Das rührt daher, dass im zweiten Halbjahr 1975 sechs Hefte der Ritter-Runkel-Serie noch einmal erschienen waren, weil die Abrafaxe noch auf sich warten ließen. Nach dem Tod von Hannes Hegen 2014, der sich immer gegen eine Zusammenarbeit mit den Abrafaxe-Machern sperrte, kommen die Mosaik-Helden nun doch mal zusammen. Nicht nur die eingefleischten Fans wird es freuen.

F.-B. Habel

junge Welt, 24.04.2019. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.

Die Fluchtgeschichte des Joseph Schmidt

September 1942, ein Ort im südlichen Frankreich. In einer Villa werden Kerzen angezündet. Für die Abendgäste gibt ein schmächtiger Sänger ein intimes Konzert. Vielleicht ein letztes. Es ist der berühmte jüdische Tenor Joseph Schmidt, der als „deutscher Caruso“ Konzertsäle füllte, der in Deutschland, Europa und Amerika ein Millionenpublikum hatte. Damals erntete er Ovationen, jetzt nur zaghafter Applaus.
Der Sohn orthodoxer Juden aus Czernowitz muss aufbrechen, er ist auf der Flucht, die ihn über Wien und Brüssel ins Vichy-Frankreich geführt hatte. Sein rumänischer Pass ist ungültig und als staatenloser Jude kommt er nicht legal über die Schweizer Grenze. Um den Nationalsozialisten, die selbst in Pétains Rumpf-Frankreich nach versteckten Juden suchen, zu entgehen, soll ihn ein Passeur mit seiner Geliebten Selma über die Grenze bringen. Die Flucht gelingt – in der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober 1942 kommt man am Genfersee illegal über die Grenze. Die Schweiz hat jedoch inzwischen eine Einreisesperre für Flüchtlinge verhängt. Der 38jährige Sänger ist einer von Unzähligen, die in dieser provisorischen Schutzzone überleben wollen. Seine Berühmtheit hilft ihm hier kaum weiter, eher hat er den Eindruck, dass man an ihm ein Exempel statuieren will.
Zunächst findet Schmidt in Zürich in einer bescheidenen Pension Unterschlupf, danach wird er im Flüchtlingslager Girenbad einer stillgelegten Textilfabrik interniert. Er erkrankt, aber noch einmal hat er Glück: ein jüdischer Lagerarzt überweist den Sänger ins Züricher Kanonsspital. Ein letzter Briefkontakt mit der Mutter. Schließlich wird er als „lagerfähig“ entlassen. Zwischen Lager und Krankenhaus hin- und hergeschoben, stirbt Joseph Schmidt am 16. November 1942. Kaum jemand gibt ihm auf dem Israelitischen Friedhof Unterer Friesenberg das letzte Geleit.
In seinem neuen Roman „Der Sänger“ erzählt der Schweizer Schriftsteller Lukas Hartmann das tragische Schicksal des großen Tenors, von einem gefeierten Weltstar zum Flüchtling. Die letzten Fluchtstationen in der Schweiz bilden dabei den Handlungsstrang, in den immer wieder biografische Rückblicke in eine glücklichere Zeit eingeblendet werden, Erinnerungen an die Kindheit in der Bukowina, an die Mutter, die starrsinnig in Czernowitz bleiben wollte, an die geliebten Frauen und natürlich an seine musikalischen Erfolge mit den ausverkauften Konzerten.
Obwohl Hartmann den Spuren aus dem Leben und der Karriere von Joseph Schmidt nachgeht, ist „Der Sänger“ keine Biografie im klassischen Sinn, eher eine tragische und rückblickende Künstlerepisode. Der Autor versucht, sich in die Situation eines jüdischen Flüchtlings hineinzuversetzen. Er erzählt, klagt aber nicht an. Kritisch setzt er sich mit der Flüchtlingspolitik der kriegsbedrohten Schweiz auseinander, wobei sich Parallelen zur gegenwärtigen (europäischen) Flüchtlingskrise geradezu aufdrängen. Es sind jedoch nicht nur offizielle Stellen, die das Schicksal bestimmen; immer wieder versagen Einzelpersonen, nur wenige zeigen Zivilcourage. Eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft durch diesen umfangreich recherchierten Roman, die sehr in unsere Zeit passt.

Manfred Orlick

Lukas Hartmann: Der Sänger, Diogenes Verlag, Zürich 2019, 272 Seiten, 22,00 Euro.

Reden und schweigen können (2)

Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.
Elie Wiesel

Ein einziger vernünftiger Satz ist schwerer erdacht als eine ganze widersinnige Rede.
Hermann Kant

Vor allen der Politikus
Gönnt sich der Rede Vollgenuss;
Und wenn er von was sagt, so sei’s,
Ist man sich sicher, dass er’s weiß.
Wilhelm Busch

Der Westen hat, und das ist so ein alter Trick, die Moral eingeführt, um über Politik nicht reden zu müssen.
Ronald M. Schernikau

Der geschickte Journalist hat eine Waffe: das Totschweigen
– und von dieser Waffe macht er oft genug Gebrauch.
Kurt Tucholsky

Um eine gut improvisierte Rede von drei Minuten halten zu können, brauche ich mindestens drei Tage.
Mark Twain

Die ärztliche Schweigepflicht, die unter anderem darin besteht, nichts darüber zu äußern, welche Krankheiten der Patient hat und wie sie behandelt werden könnten, wird besonders von solchen Medizinern sehr ernst genommen, die weder über das eine noch über das andere irgendetwas Genaues zu sagen wüssten.
Lothar Kusche

Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.
Prof. J. G. A. Galletti

Der Gesetzgeber soll denken wie ein Philosoph, aber reden wie ein Bauer.
Rudolf von Ihering

Eingesammelt von fbh

WeltTrends aktuell

Der Streit dauert schon einige Jahre: Die USA sehen im russischen Raketensystem 9M729 eine Verletzung des INF-Vertrages von 1987, Russland verweist aus seiner Sicht auf US-Verletzungen wie Überschallkampfdrohnen und die Raketenabwehrstellungen in Rumänien sowie – demnächst – in Polen. Das Ende des für die europäische Sicherheit so wichtigen Abrüstungsvertrages ist in Sicht. Mehr noch, es droht eine neue Rüstungsrunde, nicht nur in Europa. Im Thema analysieren Autoren aus Deutschland, Polen und Russland die Lage.
Ihre Ansichten über eine neue kontinentale Friedensordnung Europas legen Vertreter der Studiengruppe Entmilitarisierung der Sicherheit vor.
Im WeltBlick geht es um die Situation in Indien vor den derzeitigen Wahlen, den Niedergang der Neocons in den USA und den „Machtwechsel” in Kasachstan.
Die Studentenproteste in Beijing am 4. Mai 1919 gelten als Meilenstein auf Chinas Weg in die Moderne. Mit diesen in Europa kaum bekannten Ereignissen und dem „Geist des Vierten Mai” beschäftigt sich Yuru Lian in der Historie.
Den Demonstranten in Algerien geht es nicht um die Person Bouteflika, sondern um das System, das den schon seit sechs Jahren amtsunfähigen Mann als Galionsfigur nutzt, betont Werner Ruf im Kommentar. 

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 151 (Mai) 2019 (Schwerpunktthema: „Neue INF-Rüstung – alte Drohgebärden“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

Die Demokratie in der Europäischen Union ist mehr Schein als Sein. Schuld daran trägt jedoch nicht die viel gescholtene EU-Bürokratie, so der Journalist Harald Schumann. Vielmehr ist Europas mächtigster Gesetzgeber, der EU-Ministerrat, ein zutiefst antidemokratisches Organ – eine Blackbox, die sich jeder Öffentlichkeit verschließt. Daher gelte es, das Europaparlament zu stärken: Seine Abgeordneten sollten künftig die EU-Kommission bestimmen – und nicht länger die nationalen Regierungen.
Zwei Generationen lang basierte die Sicherheit (West-)Europas auf der globalen Ordnung des Westens. Aber diese Ordnung gerät zusehends unter Druck, diagnostiziert der Friedensforscher Wolfgang Zellner. Die USA büßen nicht erst seit Donald Trump ihre hegemoniale Stellung ein und ziehen sich schrittweise als Garantiemacht zurück. Europa droht dabei ein weltpolitischer Bedeutungsverlust. Um diesem zu begegnen, ist eine Strategie pragmatischer Kooperation vonnöten – nicht zuletzt mit Russland.
Nach 1945 zogen die westdeutschen Politiker der ersten Stunde die Konsequenzen aus der Katastrophe des Nationalsozialismus. Ihre damaligen Vorstellungen unterscheiden sich teilweise markant von der heutigen Lage in der Bundesrepublik, so der Politikwissenschaftler Hans-Peter Waldrich. Denn die damaligen Politiker sahen die Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus. Um der wachsenden autoritären Versuchung zu widerstehen, gelte es, die früh versäumte Chance der Vergesellschaftung von Boden und Produktionsmitteln nachzuholen.
Dazu weitere Beiträge, unter anderem: „Warlords vs. Technokraten: Der afghanische Machtkampf“, „Libanon als Exempel: Haussklaverei per Gesetz“ und „Wohneigentum verpflichtet!“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Mai 2019, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

Aus anderen Quellen

„Stand die Europäische Union (EU) in den letzten Jahren vor dem Kollaps?“, fragt Eckhard Lübkemeier, Botschafter a. D. und Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Da der Zusammenbruch „nicht eingetreten ist, fehlt der Beweis. Unstrittig ist, dass sie eine tiefe, wenn nicht die tiefste Krise seit Beginn der europäischen Integration durchlief, in der phasenweise die Existenz der Union auf dem Spiel stand. So lautet eine der wichtigsten Lehren daraus: Auch Europa (hier verstanden als politisches Gebilde mit Akteursqualität in Form der EU) ist nicht immun gegen ‚Murphys Gesetz‘: Alles, was schiefgehen kann, wird irgendwann auch schiefgehen.“
Eckhard Lübkemeier: Europas Banalität des Guten, SWP-Studie 2019/S 06. Annotiert im Blättchen 10/2019. Zum Volltext hier klicken.

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„Mehr als die Hälfte aller Waffenexporte in den Nahen und Mittleren Osten kommen aus den USA. Großbritannien und Frankreich lieferten an ein Dutzend Länder in der Region moderne Waffensysteme, eine noch breitere Palette moderner Rüstung als Deutschland. Auch Spanien und Italien exportierten an Länder der Region“, fasst Herbert Wulf zusammen und fährt fort: „Zur Debatte, die in Deutschland gerade mit Blick auf Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien geführt wird und die durch einen Konflikt über sogenannte Gemeinschaftsprojekte zwischen Deutschland und Frankreich beziehungsweise Großbritannien angeheizt wird, lohnt sich ein Blick auf die bisher geltenden Richtlinien. Folgt man der deutschen Diskussion, gewinnt man den Eindruck, als wäre die deutsche Regierung unberechenbar in ihrer Rüstungsexportpolitik und damit für die Zukunft ein unzuverlässiger Partner.“
Herbert Wulf: Das Geschäft mit der Rüstung. Warum Europa aufhören sollte, Waffen in den Mittleren und Nahen Osten zu liefern, ipg-journal.de, 02.05.2019. Zum Volltext hier klicken.

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Es sei, so der Psychologe und Journalist Martin Tschechne, „immer wieder […] ein eigenes Weltbild, das in den Bedrohungs- und Erlösungsszenarien von ‚Harry Potter‘ bis zu ‚Star Wars‘ und zum ‚Herrn der Ringe‘ Struktur, Moral und, tatsächlich, Übersichtlichkeit gewinnt. Die wimmelnden Massen der Protagonisten und ihre gordischen Verknüpfungen – sie sind nur so eine Art pseudo-intellektueller Dornenhecke, damit das Wesen der Erzählung am Ende, pardon, nicht gar so doof daherkommt. Denn es ist, so hat der amerikanische Mathematiker und Wahrscheinlichkeitstheoretiker Leonard Savage diese Art geschlossener Systeme einst beschrieben – es ist eine ‚small world‘, eine kleine, überschaubare, in sich geschlossene Welt, die etwa der Kabelsender HBO […] seinem Publikum ins Haus liefert.
Martin Tschechne: Fantasy-Serien wie „Game of Thrones“. Die große und grobe Vereinfachung der Welt, deutschlandfunkkultur.de, 29.04.2019. Zum Volltext hier klicken.

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Günter Gaus’ über 250 zwischen 1963 und 2004 – überwiegend unter dem Titel „Zur Person“ – geführte Fernsehinterviews mit Prominenten aus Politik, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft sowie Religion sind zeitgeschichtliche Dokumente von bleibender Relevanz. In der Ausstrahlung vom 11.02.2004 war seine Gesprächspartnerin Sarah Wagenknecht.
Gaus: […] wie lebt es sich damit, eine Dissidentin zu sein?
Wagenknecht: Also, ich kann damit eigentlich leben, weil ich das Gefühl habe, dass ich nicht so eine winzige Minderheit nur repräsentiere. Wenn ich jetzt den Eindruck hätte, dass ich auch insgesamt keine Resonanz bekäme, dass das, was ich vertrete, nur von einem ganz winzigen Kreis von Leuten auch geteilt wird, dann würde das sicher irgendwann auch entmutigen. Aber ich habe sowohl von dem, was ich an Post bekomme, als auch ganz direkten Reaktionen tagsüber in der S-Bahn, wenn ich unterwegs bin, schon das Gefühl, dass gar nicht so wenige Leute ähnlich denken. Also das Gefühl haben, dass es so wie jetzt nicht weitergeht und dass sie nach Auswegen suchen. Und ich denke auch – bezogen auf Vergangenheit – das hat sich ja nun inzwischen auch gezeigt, dass die Leute sich nicht einreden lassen, dass die DDR so war, wie die Bundesrepublik sie darstellen wollte.
Gaus: Hat sich das verstärkt, dass die Leute Sie anreden?
Wagenknecht: Das hat sich in den letzten vier, fünf Jahren schon deutlich – also gerade ein, zwei Jahren deutlich verstärkt, ja. Also, was ich interessant finde, ist vor allem, dass ich vor allem im letzten Jahr sehr, sehr viel Post von jungen Leuten bekommen habe. Also es war so – sicherlich ich hatte immer Resonanz und ich hatte auch immer Menschen, die mich angesprochen haben, aber dass es vor allem ganz junge Leute sind, dass es Schüler sind, die auch in meine Veranstaltungen kommen, das ist neu. Und das finde ich schon sehr ermutigend.
Günter Gaus im Gespräch mit Sahra Wagenknecht, RBB, 11.02.2004. Zum Volltext hier klicken.