von Wolfgang Schwarz
Bei der Betrachtung der aktuellen Krise in der und um die Ukraine und der Zuspitzung im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland sollten folgende geopolitische, wirtschaftliche und historische Sachverhalte (zum Teil handelt es sich um irreversible strategische Konstanten) zu keinem Zeitpunkt aus dem Blick Deutschlands und EU-Europas geraten:
Erstens – Russland ist der größte europäische Staat, in unmittelbarer Nähe zur EU und zur NATO.
Zweitens – Russland wird ohne allgemeine atomare Abrüstung nukleare Großmacht bleiben; militärische Konflikte mit einer solchen bergen existenzielle Risiken in sich.
Drittens – Sicherheit in Europa (geografisch und politisch gefasst bis zum Ural), die mehr sein soll als durch Abschreckung oder auch Verträge gemanagte Unsicherheit oder ein stets unter dem Risiko der Revision stehender modus vivendi, ist nicht ohne oder gar gegen Russland, sondern nur mit Moskau zu haben. Das haben der Kalte Krieg, die Jahre der Ost-West-Entspannung der 70er und der zweiten Hälfte der 80er Jahre, aber letztlich auch die gesamte Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland seit 1990 und besonders in jüngster Zeit gezeigt.
Viertens – Russische Energielieferungen sind für zahlreiche europäische Staaten essenziell. Daran ist kurz- und mittelfristig nichts zu ändern. Langfristig eine grundsätzliche Änderung herbeiführen zu wollen, wäre eine kostspielige und unsinnige (womöglich auch unrealistische) Zielsetzung, denn während des gesamten Kalten Krieges – auch nicht in dessen heißesten Phasen – hat Moskau nie mit der Energiekarte auch nur geliebäugelt, geschweige denn sie gespielt. Die darin zum Ausdruck kommenden strategischen ökonomischen Interessen wirken weiter.
Fünftens – Die derzeitige Phase der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland wurzelt zum erheblichen Teil darin, dass der in der Endphase des Kalten Krieges entwickelte Gedanke einer Ost-West-Sicherheitspartnerschaft nach 1990 westlicherseits nicht fortentwickelt und für einen grundlegenden Paradigmenwechsel im Verhältnis zu Moskau produktiv gemacht worden ist. Anderenfalls hätte eine Entwicklung vergleichbar der in Westeuropa ab Anfang der 50er Jahre, die zur dauerhaften Überwindung von „Erbfeindschaften“ führte, Platz greifen können. Russland wäre heute gegebenenfalls Mitglied der NATO und stände unter Umständen zur EU in einem vertraglichen Verhältnis, das wenigstens einem Assoziierungsstatus entspräche. Oder es gäbe ein neues Sicherheitsarrangement von „Wladiwostok bis Vancouver“.
Derzeit scheinen alle Voraussetzungen dafür zu fehlen, Gedanken und Konzepte an eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland neu zu beleben. Mehr noch: Die sicherheitspolitische Debatte in den Mainstreammedien hierzulande und bei Verbündeten wie auch von einem Teil der deutschen Politik wird so einseitig, ahistorisch und russophob geführt – siehe unten –, als habe man es geradezu herbeigesehnt, dass Moskau (endlich wieder) die Vorlage für ein klares Feindbild liefert. „Die ‚alten‘ Strukturen der Weltpolitik sind nicht tot – Putin sei Dank“, stoßseufzte der Außenpolitik-Chef der FAZ, Klaus-Dieter Frankenberger, bereits zu Beginn der aktuellen Krise. (Allerdings bewegen sich die Tonlagen auf der anderen Seite, in Russland, derzeit teilweise auf noch schrilleren Wellenlängen: Die „Westler […] sind […] kulturelle Rassisten“, tönt im Spiegel etwa der russische Philosoph Alexander Dugin, von dem man nur wünschen kann, dass er nicht der „Vordenker Putins“ ist, zum dem ihn das Nachrichtenmagazin adelte.)
Wenn aber derzeit die Voraussetzungen für Sicherheitspartnerschaft fehlen, dann nicht zuletzt deshalb, weil sie vom Westen in den 25 Jahren zuvor nicht genutzt worden sind. Auf ihre Wiederherstellung hinzuwirken – im Westen wie in Russland –, ist dringlich geboten.
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„Das Gebaren der russischen Führung hat eine Qualität erreicht, die eine Neubestimmung des Umgangs mit ihr erforderlich macht. Derzeit sieht es nicht danach aus, als hätte der Westen das begriffen“, kommentierte dieser Tage Katja Tichomirowa mit Blick auf die Vorgänge in der Ukraine in der Berliner Zeitung.
Nun hat der Westen bereits die G8- auf eine G7-Runde geschrumpft, indem er Moskau den Stuhl vor die Tür gesetzt hat. Die NATO hat ihre Zusammenarbeit mit Russland praktisch ausgesetzt und die EU ihre Verhandlungen über ein neues Basisabkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit – das erste war vor 20 Jahren, am 24. Juni 1994, unterzeichnet worden – eingestellt. Im Bereich Raketenabwehr, einer zentralen Frage des amerikanisch-russischen Verhältnisses und der nuklearen Abrüstung, hat Washington den Dialog mit Moskauer aus Sicht des russischen Außenministeriums „endgültig gestoppt“, nachdem die USA in dieser Hinsicht bereits seit Jahren im Wesentlichen mit gezinkten Karten gespielt hatten. Die Aufzählung von Sanktionsmaßnahmen ließe sich fortsetzen. Hinzu kommen militärische Nadelstiche der USA und der NATO nahe dem russischen Staatsgebiet – zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Um hier nur die mit direkter deutscher Beteiligung zu nennen: Ein Drittel der Awacs-Aufklärer, die täglich über Polen und Rumänien im Einsatz sind, stellt die Bundeswehr; sie hat die Führung eines Minenabwehrverbandes in der Ostsee inne, und ab September werden sechs deutsche Eurofighter an der Luftraumüberwachung des Baltikums von Estland aus teilnehmen. Darüber hinaus hat Deutschland einer Erhöhung der Bereitschaft des multinationalen Korps-Hauptquartiers in Szczecin zugestimmt, für das es gemeinsam mit Dänemark und Polen zuständig ist.
Die Kollegin Tichomirowa hat uns in ihrem Kommentar allerdings leider nicht wissen lassen, wie sie eine „Neubestimmung des Umgangs“ mit Moskau konturieren würde. Vielleicht durch Einfrieren aller russischen Auslandsguthaben, besser noch Konfiszierung, und Verwendung der Gelder zur Stärkung der innerrussischen Opposition? Vielleicht durch Aufstellen neuer COCOM-Listen und ein Hochtechnologieembargo? Oder durch schrittweise Reduzierung der Abnahme russischer Energieträger und Rohstoffe, gegebenenfalls bis auf Null? Oder besser gleich durch Abbruch der diplomatischen Beziehungen oder durch alles zusammen?
Das wären Maßnahmen, wie man sie im internationalen Rahmen insbesondere gegen Staaten, die Krieg vom Zaun brechen, viel öfter zur Anwendung bringen sollte. Zum Beispiel gegen die USA, Großbritannien und die anderen willigen Koalitionäre nach dem Überfall auf den Irak – nur dass seinerzeit im Westen kein verantwortlicher Politiker und auch kein Kommentator bürgerlicher Medien dergleichen auch nur erwogen hätte. Denn das vorherrschende Verhaltensmuster ist ja immer noch das in 40 Jahren Kalter Krieg – damals auf beiden Seiten – eingeübte: Verbrechen, die von den eigenen Verbündeten oder gar von der Bündnisführungsmacht verübt werden, sind keine, werden totgeschwiegen oder, wenn das nicht geht, als bedauerliche Kollateralschäden beim Einsatz für die gute, weil die richtige Sache eingestuft; Übeltäter sind stets nur die anderen.
Um gar nicht erst missverstanden zu werden: Der Verweis auf den Irak – oder den Missbrauch des UNO-Mandats im Falle Libyens durch etliche NATO-Staaten oder auf die durch das Agieren des Westens ermöglichte Separation des Kosovo von Serbien – soll hier nicht dazu dienen, die Annexion der Krim durch Russland oder dessen Verhältnis zu den südostukrainischen Separatisten als nur halb so schlimm oder noch beschönigender zu etikettieren. Völkerrechtsverletzungen oder Verstöße gegen das Regelwerk der OSZE verlieren nicht dadurch ihren Charakter, dass andere auch nicht besser oder sogar schlimmer sind. Der Verweis auf das westliche Schuldkonto soll lediglich die doppelten Standards aufzeigen, mit denen operiert wird. Dazu meinte der russische Präsident Wladimir Putin am 5. Juli auf einer Beratung mit den Spitzen-Diplomaten seines Landes: „Die Ereignisse in der Ukraine beweisen […] auch, dass ein Modell von Beziehungen voller doppelter Standards mit Russland nicht funktioniert.“
Das Anlegen doppelter Standards ist vor allem nicht dazu angetan, Krisen wie jene in der und um die Ukraine künftig zu vermeiden oder, wenn sie ausgebrochen sind, Kompromisse zu finden, um sie friedlich beizulegen. Jüngstes Beispiel: Das Verschweigen oder Bagatellisieren der Untaten der Kiewer Regierung gegen die eigene Bevölkerung durch den Einsatz schwerer Artillerie und von Kampfbombern gegen dicht besiedelte Gebiete im Südostteil des Landes. Stephen Cohen hat kürzlich die Obama-Administration sowie die Falken im US-Kongress und den US-Medien in einem Beitrag für The Nation für eine solche Haltung scharf kritisiert, weil dadurch weitere Gräueltaten ermuntert würden.
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„In den zurückliegenden Wochen sind viele Hoffnungen, Pläne und Wünsche im Verhältnis des Westens zu Russland zu Grabe getragen worden. […] Groß ist die Ernüchterung […] in den Vereinigten Staaten“, resümierte vor einigen Wochen FAZ-Mann Frankenberger, und nicht ohne ideologisches Pathos fügte er hinzu: „Die russische Politik wird als direkter Angriff auf die amerikanische Strategie seit dem Ende des Kalten Kriegs wahrgenommen, ein geeintes und freies Europa zu schaffen.“ Dass es dabei nicht nur den USA um ein Europa ohne gleichberechtigte Einbeziehung Russlands ging beziehungsweise darum, EU- und NATO-Europa unter Ausgrenzung des östlichen Nachbarn bis an dessen unmittelbare Grenzen auszuweiten, ist eine Einschätzung, die auf einer Kette historischer Fakten beruht, von denen keiner – logischerweise, ist man versucht zu sagen, – Frankenberger einen Bezug wert ist. Ottfried Nassauer, Chef des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit, fasste dazu in der Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“ des NDR unlängst folgendes zusammen: „Die Krise in der Ukraine und das Verhalten Moskaus haben eine lange Vorgeschichte. Eine Geschichte enttäuschter Hoffnungen Moskaus auf eine gleichberechtigte Rolle in der Sicherheitsarchitektur Europas nach dem Kalten Krieg. Und eine lange Geschichte der gebrochenen Zusagen des Westens.
Schon während der Verhandlungen über die deutsche Einheit fürchtete Moskau, die NATO werde sich nach Osten ausdehnen. Die USA, Frankreich und die Bundesregierung bemühten sich, diese Befürchtung auszuräumen. […] Auf dem Territorium der ehemaligen DDR werde es keine ausländischen NATO-Truppen geben. Weiter im Osten schon gar nicht. […]
Schon drei Jahre später die Wende im Westen: Bei einem Treffen der NATO-Verteidigungsminister plädierte Volker Rühe, damals Verteidigungsminister, im Oktober 1993 für eine Öffnung der NATO nach Osten. […] Vier Jahre später stand die Aufnahme der ersten Mitglieder an: Polen, Tschechien und Ungarn. Dann folgten mit den baltischen Staaten drei ehemalige Sowjetrepubliken, Slowenien und schrittweise die Staaten auf dem Balkan. Die NATO kam den Grenzen Russlands immer näher. Um Russland die Beitritte akzeptabel zu machen, wurde 1997 in Paris die NATO-Russland-Grundakte unterzeichnet. Das Dokument offerierte Moskau eine ständige Vertretung und institutionalisierte Konsultationen mit der NATO. Hinzu kam das Versprechen, die Nuklearwaffen der NATO nicht näher an die Grenzen Russlands zu verlegen.
Doch kaum war der erste Erweiterungsschritt vollzogen, machte die NATO auf Wunsch ihrer neuen Mitglieder einen Rückzieher: Sie beschloss, mit Moskau im NATO-Russland-Rat nur über Themen zu reden, über die in der NATO Konsens herrscht. Aus Moskauer Sicht wurde der NATO-Russland-Rat damit zu einer Institution, die eher der Ausgrenzung, denn der Einbeziehung Russlands diente. Ganz ähnlich bei der zweiten Osterweiterung. Man versprach Russland, den NATO-Russland-Rat zu einem Gremium für gemeinsame Entscheidungen aufzuwerten. Russland werde über Fragen der europäischen Sicherheit gleichberechtigt mitentscheiden können. Wieder folgte die Enttäuschung auf dem Fuß […]
Begleitet wurde diese Entwicklung von wiederholten Vorstößen der NATO, Russland zu zwingen, seine militärische Präsenz in Georgien und Moldawien aufzugeben. Während Moskau den zweiten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, rasch ratifizierte, taten die NATO-Länder dies nicht. Sie machten den Truppenabzug zu einer zusätzlichen Voraussetzung. […]
Im Streit um die Raketenabwehr gab es keine Lösung. Der Westen zeigte kein Interesse an der konventionellen Rüstungskontrolle und ließ alle Bemühungen, die OSZE zu stärken, verpuffen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 kritisierte Putin all dies scharf und verwies darauf, dass Moskau auch national dafür sorgen könne, dass seine Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben.
Nur ein Jahr später demonstrierte er im Georgienkonflikt seine Entschlossenheit, in Russlands nationalem Interesse auch militärisch zu agieren. […]
Trotzdem folgte ein neues Kooperationsangebot aus Moskau. Der NATO wurde ein Abkommens vorgeschlagen, das verbindlich Konsultationen für den Fall eines drohenden militärischen Konfliktes in Europa vorsah. Von Wikileaks veröffentlichte diplomatische Depeschen belegen eindrucksvoll, dass die NATO diesen Vorschlag bewusst ignorierte und als durchsichtiges taktisches Manöver diskreditierte.
Vier Jahre später zeigen sich die Folgen dieser Geschichte enttäuschter Erwartungen. In der Ukraine-Krise demonstriert Russland erneut den Willen, seine Interessen auch gegen westliche Vorstellungen und auf Kosten seines Verhältnisses zu den Staaten der NATO zu wahren.“
Wer angesichts dieser Entwicklung die Frage, ob der Westen gegenüber Russland Fehler gemacht hat, meint, mit „Im Großen und Ganzen: nein“, beantworten zu können, wie der Historiker Heinrich August Winkler gegenüber dem Spiegel, erliegt – im besten Falle – einer Selbsttäuschung.
Klären zu wollen, warum die Entwicklung im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland seit dem Ende des Kalten Krieges, insbesondere seitens der wechselnden Administrationen in Washington, in der von Nassauer beschriebenen Weise betrieben wurde, würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Zumindest ein Teil der Wahrheit dürfte allerdings in einer Bewertung liegen, wie sie der Direktor des parteiübergreifenden britischen Thinktanks The Bruges Group, Robert Oulds, abgegeben hat: „Amerika missfällt die unabhängige Stimme Russlands in der Welt, es braucht ein politisch isoliertes und in die Enge getriebenes Russland.“
Wenn die Ernüchterung in Washington jetzt groß ist, dass Moskau die weitere Komplettierung des EU- und NATO/USA-dominierten cordon sanitaire um den europäischen Teil Russlands durch EU-Assoziierung der Ukraine – mit der nicht aufgegebenen US-Absicht im Hintergrund, das Land ebenfalls in die NATO einzugliedern, – nicht auch noch tatenlos hingenommen, sondern durch dem Westen die geostrategische rote Karte gezeigt hat – durch Annexion der Krim**, zeugt dies von der bornierten Unfähigkeit der politischen Klasse in den USA, anderen zu konzedieren, was Washington für sich ganz selbstverständlich als quasi gottgegebenes, sakrosanktes Recht reklamiert: nämlich eigene Sicherheitsinteressen zu definieren und durchzusetzen. Leider war, auf die Gefahr hin, zynisch zu klingen, die vorangegangene Georgien-Krise offenbar nicht groß genug, diese Ernüchterung in Washington bereits damals auszulösen. Anderenfalls wäre die jetzige Krise vielleicht vermieden oder zumindest nicht durch das Agieren amerikanischer Politiker und Dienste vor und hinter den ukrainischen Kulissen noch zusätzlich angeheizt worden.
Wird fortgesetzt.
* – Dieser Beitrag führt die Auseinandersetzung des Autors mit aktuellen Herausforderungen, Erscheinungsformen und Defiziten der westlichen Russland-Politik sowie mit der russophoben Berichterstattung deutscher Medien weiter, der bereits Beiträge in den Ausgaben 9/2014, 11/2014 und 13/2014 gewidmet waren.
** – Siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Wolfgang Kubiczek in dieser Ausgabe.
Schlagwörter: Baltikum, der Westen, Deutschland, Frankreich, NATO, Polen, Putin, Russland, Sicherheitspartnerschaft, USA, Wolfgang Schwarz