17. Jahrgang | Nummer 13 | 23. Juni 2014

Sicherheitspartnerschaft statt Placebos

von Wolfgang Schwarz

Aus Anlass der jüngsten Europa-Visite von US-Präsident Barack Obama schlug der Außenpolitik-Chef der FAZ, Klaus-Dieter Frankenberger, einen großen strategischen Bogen, die vergangenen 25 Jahre umfassend: Beginnend mit George H. W. Bush im Jahre 1989 habe die amerikanische Europa-Politik seither „ein geeintes und freies Europa“ angestrebt, „das in Frieden mit sich selbst lebt“. Die Ereignisse in der Ukraine seien allerdings „ein Indiz dafür, dass dieses Ziel noch nicht vollständig erreicht ist“.
Der Frage, warum das so ist, ging Frankenberger nicht weiter nach. Ihm genügte allein der Verweis auf die jüngste Entwicklung, um zu konstatieren: „Eine Antwort darauf ist die Bekräftigung des atlantischen Bündnisses und der transatlantischen Partnerschaft. […] Die Verteidigung der territorialen Integrität von Nato-Mitgliedern ist auf die Tagesordnung zurückgekehrt.“ Damit bewegte sich Frankenberger im derzeitigen Meinungsmainstream der hiesigen wie generell der westlichen Medien und auch der Politik der USA und anderer NATO-Staaten.
Ausgeblendet wird dabei, dass Washington und die Mehrzahl seiner westeuropäischen Verbündeten auch in den vergangenen 25 Jahren nie wirklich Russland mit meinten, wenn sie von Europa sprachen – allen in all diesen Jahren gebetsmühlenartig wiederholten anders lautenden verbalen Äußerungen zum Trotz. Sich eines Europas ohne Russland als strategischen Faktors für die Eindämmung Russlands zu versichern, eines Europas, das sich durch EU- und NATO-Erweiterungen immer dichter an die Grenzen Russland heranschiebt, das macht den Kern amerikanischer Europa- wie auch Russland-Politik seit 1989 aus – eine Linie, der die westeuropäischen Staaten einschließlich der Bundesrepublik, vom Ergebnis her gesehen, nicht nur gefolgt sind, sondern die sie durch eigene, insbesondere EU-Initiativen noch zusätzlich konturiert haben.
Russland als möglichen strategischen Partner in der sich nach dem Kalten Krieg neu strukturierenden Welt zu betrachten, das war nach 1989 zu keinem Zeitpunkt eine relevante Option aus Washingtoner Sicht, jedenfalls nicht für einen nennenswerten Part der dort die Politik bestimmenden Kreise. Infolgedessen kam nicht zuletzt Obamas „Reset“ für die amerikanisch-russischen Beziehungen zu Beginn seiner ersten Amtszeit im Jahre 2009 nicht zu dauerhafter Wirkung. Das New Start-Abkommen von 2010, einst als hoffnungsvoller Auftakt für eine neue, konstruktive Phase in den Beziehungen zwischen den USA und Russland gewertet, markiert aus heutiger Sicht zwar deren Höhepunkt, zugleich aber praktisch auch deren Ende.
Washington ging es im vergangenen Vierteljahrhundert unverändert vornehmlich und auch an zweiter und dritter Stelle stets um die eigene Weltmachtposition. Die wurde und wird allerdings heute wie in der Vergangenheit letztlich durch die nuklearstrategische Fähigkeiten Russlands begrenzt. Angesichts dieser Konstante bleibt es das Geheimnis der amerikanischen Eliten, warum sie nie ernsthaft in Erwägung gezogen haben, Russland nachhaltig in den Westen einzubinden, statt nach immer neuen Ansatzpunkten zu suchen, schleichend oder auch konfrontativ weiteren Boden zu gewinnen. In den Jahren des allgegenwärtigen Niedergangs und der Schwäche Russlands unter Boris Jelzin, aber lange auch in den Jahren Putins, der vor einigen Jahren bekanntlich selbst Erwägungen über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft Russlands angestellt hat, waren die Moskauer Türen in Richtung Westen weit geöffnet. Russland wurde auch selbst aktiv – etwa in Gestalt der Medwedjew-Initiative von 2008.
Durchaus stringent erscheint die Russland-Politik der USA allerdings, wenn man ihr das Ziel unterlegt, das Land über den Zerfall der Sowjetunion noch weit hinaus und nicht zuletzt dauerhaft zu marginalisieren. Zbigniew Brzezinski hat solche strategischen Vorstellungen in seinem Buch „The Grand Chessboard. American Primary and Its Geostratetic Imperatives“ von 1997 auf den Punkt gebracht, als er von einem „lockerer konföderierten Rußland – bestehend aus einem europäischen Rußland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik“ – sprach und als einen entscheidenden Hebel auf dem Weg dorthin die Ukraine identifizierte. (Ganz in diesem Sinne agiert Brzezinski im Übrigen seit Ausbruch der dortigen Krise.)
Um auf Klaus-Dieter Frankenberger zurückzukommen – der schrieb auch: „Von strategischer Partnerschaft mit Russland ist und kann […] derzeit nicht die Rede sein.“ Recht hat er – mit einer Ergänzung: auch bisher war von strategischer Partnerschaft mit Russland allenfalls die Rede. Und selbst dabei war de facto in der Regel lediglich eine Art nachgeordneter Juniorpartnerschaft zu westlichen, vornehmlich amerikanischen Bedingungen gemeint – begleitet von einer gutsherrlichen Attitüde, mit der dann schon mal partielles Entgegenkommen gegenüber Russland – hier die Erweiterung der G7- zur G8-Runde durch Beteiligung Moskaus – als „Belohnung für das gewaltlose Ende des Kalten Krieges“, so Frankenberger, quasi „verliehen“ wird. Und bei Unbotmäßigkeit auch wieder entzogen. Es wäre natürlich blanke Blasphemie, sich dergleichen für die USA, etwa im Zusammenhang mit dem Überfall auf den Irak, auch nur vorzustellen.
Tatsächlich wurde Moskau seit 1989 faktisch immer wieder mit Placebos abgespeist. Das begann mit dem Statement von US-Außenminister James Baker 1990 in Moskau, es werde keine NATO-Ausweitung nach Osten geben. Das eindrucksvollste dieser Placebos aber war zweifellos der 2002 gebildete NATO-Russland-Rat während seines bisherigen Daseins. In diesem Gremium tat der Westen so als ob, während sich der Rat jedoch in allen Fällen, in denen Substanzielles anstand – wie etwa bei den amerikanischen Plänen für Raketenabwehrsysteme in Mittelost- und Südeuropa – als virtuelle Inszenierung einer Kooperation erwies, zu der die Mehrheit der NATO-Staaten in der Praxis gar nicht bereit oder fähig war. Auf jeden Fall die USA nicht – und deren Verbündete kuschen im Zweifelsfalle ja fast noch jedes Mal wie weiland die Warschauer Paktstaaten vor Moskau.
Die Krise in der und um die Ukraine zeigt letztlich nicht nur, dass ein Europa, „das in Frieden mit sich selbst lebt“, infolge der Ausgrenzung Russlands nicht nur noch nicht erreicht ist, sondern in Konfrontation mit Russland auch nicht erreicht werden kann. Es ist daher hohe Zeit, den in der Spätphase des Kalten Krieges entwickelten Gedanken eines grundlegenden Paradigmenwechsels im Verhältnis zu Russland durch Umsetzung des Prinzips der gemeinsamen Sicherheit und durch Errichtung einer vertraglich geregelten Sicherheitspartnerschaft zwischen dem Westen und Russland neu zu beleben.
Es war der Kardinalfehler der deutschen Außenpolitik seit 1989, eine solche Linie, die sich damals in Ansätzen bereits herausgebildet hatte, nicht weiterverfolgt zu haben. Auf gemeinsame Sicherheit und Sicherheitspartnerschaft wird daher in diesem Magazin – im Sinne eines konstruktiven ceterum censeo – sicher noch des Öfteren zurückzukommen sein.