von Wolfgang Kubiczek
Ein nüchtern und zynisch wirkender russischer Präsident, den der Zerfall des Sowjetimperiums tief traumatisiert hat, der europäischen Politikern einen teuflischen Pakt vorschlägt und der mit den aus Sowjetzeiten bewährten historischen Mitteln manipuliert – Sentenzen aus einem Beitrag von Julia Smirnova in der Welt vom 2. Juli über eine Rede Putins vor russischen Diplomaten. Dieser Beitrag sagt mehr über das Niveau politischer Berichterstattung in deutschen Printmedien aus, als dass er dem Leser einen objektiven Einblick in das wirkliche Geschehen gibt. Es lohnt sich daher, genau hinzuschauen, was der Präsident über die außenpolitische Strategie des Landes mitzuteilen hat.
Zur internationalen Situation stellt er fest, dass das Konfliktpotenzial in der Welt zunimmt, sich ein Sicherheitsdefizit in vielen Regionen, darunter in Europa, auftut, die globalen Wirtschafts- und Finanzsysteme aus dem Gleichgewicht geraten sind. Da das Völkerrecht nicht mehr funktioniere, gewinne das Prinzip, das alles erlaubt ist, die Oberhand.
Als Ausweg fordert er die Dominanz des Völkerrechts, eine gestärkte Rolle der UNO und Beziehungen, die auf Gleichheit, Respekt und Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen beruhen. Jedem Land müsse das Recht zugebilligt werden, sein eigenes Leben zu leben, statt von außen vorgeschrieben zu bekommen, was man zu tun habe.
Er lässt auch keinen Zweifel, dass die unipolare Weltordnung, die alleinige Dominanz der USA, nicht weiter bestehen bleiben wird. Das deklarierte außenpolitische Ziel Russlands bleibe eine multipolare Weltordnung.
Für die Autorin des Welt-Beitrags offenbart „Putins Blick auf die Welt […] einen bedrohlichen umfassenden Machtanspruch“, und sie stellt fest, „dass Russland keine Kompromisse eingehen will“. Schwer nachvollziehbar, wie sie auf eine solche Bewertung kommt.
Putin sagte zu den Prioritäten russischer Außenpolitik: Strategische Hauptrichtung auf lange Sicht sei die Integration mit den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), wobei er den am 29. Mai in Astana unterzeichnete Vertrag über die Eurasische Wirtschaftsunion als qualitativ neue Stufe des Zusammenwirkens bezeichnete. Putin sieht die Wirtschaftsunion nicht als Maßnahme zur Abschottung vor der übrigen Welt, sondern ist bereit, über Freihandelszonen mit anderen Staaten wie auch Verbünden, vor allem mit der EU, zu verhandeln. Letztere bezeichnet er als „unseren natürlichen und wichtigsten Wirtschafts- und Handelspartner.“ Zur weiteren Senkung der Handelsbarrieren mit der EU müssten die vertragsrechtliche Grundlage modernisiert sowie Stabilität und Voraussagbarkeit vor allem im Energiebereich gestärkt werden.
Für den OSZE-Raum fordert Putin die Stärkung des Prinzips der Nichteinmischung als Grundlage eines „einheitlichen Raumes der wirtschaftlichen und humanitären Zusammenarbeit […] von Lissabon bis Wladiwostok“. Diese unverfänglich anmutende Passage lässt allerdings einige Fragen offen. Es ist OSZE-Standard, dass humanitäre Fragen „ein unmittelbares und berechtigtes Anliegen aller Teilnehmerstaaten und eine nicht ausschließlich innere Angelegenheit des betroffenen Staates darstellen“, wie es etwa im Dokument des Moskauer Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE“ vom 3.Oktober 1991 heißt. Politische „Einmischung“ ist folglich in bestimmten Situationen – übrigens seit der KSZE-Schlussakte von 1975 – akzeptiert. Zum anderen sind die jüngsten Aktivitäten um die Ukraine, darunter auch Russlands, nicht gerade ein Lehrstück für die Einhaltung des Prinzips der Nichteinmischung. Auch galt für OSZE-Aktivitäten bislang die Formulierung von „Vancouver bis Wladiwostok“. Die Ersetzung Vancouvers durch Lissabon wirft weitere Fragen auf.
Die Beziehungen zu China, Japan, dem asiatisch-pazifischen Raum, der ASEAN, Afrika und Lateinamerika wurden von Putin als weitere außenpolitische Schwerpunkte benannt. Putin trat damit der im Westen verbreiteten Illusion entgegen, Russland sei in der internationalen Staatengemeinschaft isoliert. Dass dem nicht so ist zeigt die soeben beendete Lateinamerika-Visite des russischen Präsidenten, die ihn auch zum Gipfel der BRICS-Staaten nach Brasilien führte, von denen sich kein einziger offen gegen die Ukraine-Politik Russlands ausgesprochen hat. Tatsache ist, dass Russland nach wie vor gute Beziehungen mit den meisten Staaten der Welt unterhält, vor allem zu jenen, die sich wirtschaftlich einer hohen Dynamik erfreuen.
Das Verhältnis zu den USA dagegen ist auf einem Tiefpunkt. Russland würden ultimative Forderungen gestellt und Belehrungen erteilt, beklagte Putin. Er sei dennoch zu einem konstruktiven Dialog bereit, allerdings nur auf gleichberechtigter Grundlage. Diesem Anliegen kann wohl kaum widersprochen werden.
Ein zweiter großer Teil der Rede Putins war der Ukraine-Krise gewidmet. Die Welt moniert, dass Putin, den Westen, vor allem die USA, für die Krise verantwortlich mache und sie als Ausdruck einer gegen Russland gerichteten Containment-Politik betrachte. Dazu lohnt ein kurzer Blick in die jüngste Geschichte.
Russland richtete Anfang der neunziger Jahre seine Außenpolitik nach der These von der „demokratischen Solidarität“ vollständig auf die Positionen des Westens aus. Auf eine Definition nationaler Interessen wurde verzichtet und die Sicherheit offiziell mit der der NATO verbunden. Zyniker behaupteten seinerzeit, die russische Außenpolitik würde nicht mehr im Moskauer MID, sondern im State Department konzipiert. Die Ergebnisse dieser kompromisslosen Westorientierung waren für Russland verheerend, denn die erhoffte breite finanzielle Unterstützung des Westens blieb aus, Russland wurde weder als gleichrangiger Partner der USA akzeptiert, noch wurde es in die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft aufgenommen. Zugleich begann die offensive Ausdehnung der NATO – unter Wortbruch der bei der deutschen Wiedervereinigung gegebenen Zusicherungen – nach Osteuropa. Trotzdem bemühte sich das Land bis weit in die Zeit der Präsidentschaft Putins (erfolglos) um freundschaftliche Beziehungen zum Westen, was von diesem wohl als Schwäche interpretiert wurde.
Dagegen erfreut sich die Ukraine seit den 90er Jahren der ungeteilten Aufmerksamkeit der USA, denn, wie Zbigniew Brzezinski meint, ohne die Ukraine wäre Russland keine Großmacht mehr. Die Washington Post kommentierte 1997 „[…] die Vereinigten Staaten sind zu Recht am Schicksal der Ukraine außerordentlich interessiert.“ Das strategische Ziel, der Ukraine zu helfen, sei darin begründet, nicht die latenten imperialen Interessen Russlands zu befördern. US-Staatssekretärin Victoria Nuland verkündete unverhohlen: „Wir haben mehr als fünf Milliarden Dollar investiert, um der Ukraine zu helfen, Wohlstand, Sicherheit und Demokratie zu garantieren.“ Die Vertrauensleute der USA, allen voran der Oligarch und neue Präsident Poroschenko, der als „Finanzier des Maidan“ gilt, sowie Ministerpräsident Jazenjuk – Nuland nennt ihn liebevoll „Yats“ – bekleiden nunmehr die entscheidenden politischen Posten in der Ukraine. Die Warnungen des Realpolitikers Henry A. Kissinger wurden in den Wind geschlagen. Er verlangte zu verstehen, „dass die Ukraine für Russland niemals nur einfach Ausland sein kann. Die russische Geschichte begann mit dem, was man Kiewer Rus nennt. Die russische Religion fand von hier ihre Verbreitung. Die Ukraine war über Jahrhunderte Teil Russlands […] Einige der wichtigsten Schlachten für die Freiheit Russlands […] wurden auf ukrainischem Boden ausgetragen […]“.
Die heutige Ukraine-Krise ist das Ergebnis der Strategie des Westens zur Zurückdrängung russischen Einflusses im postsowjetischen Raum. Dabei war ein wichtiges Ziel, die Möglichkeiten Russlands zur maritimen Machtprojektion im Schwarzen Meer und im Mittelmeerraum durch den Übergang der Krim in den Einflussbereich der NATO drastisch einzuschränken. Russland konnte, wie Putin sagt, „nicht erlauben, dass unser Zugang zum Schwarzen Meer bedeutend eingeschränkt […] und das Gleichgewicht der Kräfte im Raum des Schwarzen Meeres grundlegend verändert wird.“ Die Eingliederung der Krim in den Bestand Russlands, erleichtert durch den Mehrheitswillen der russischstämmigen Bevölkerung, war die vom Westen offensichtlich nicht einkalkulierte geostrategische Gegenreaktion Moskaus. Die Blaupause für das Verfahren hatte der Westen ja bereits mit seiner Kosovo-Politik geliefert.
Putin machte weiter klar, dass Russland auch künftig aktiv die Rechte der Russen, „unserer Landsleute im Ausland“ verteidigen wird. Neu ist die Ergänzung „unter Benutzung der ganzen Palette vorhandener Mittel – von politischen und ökonomischen bis zu den im Völkerrecht vorgesehenen humanitären Einsätzen und dem Recht auf Selbstverteidigung.“ Hier greift er die im Westen entwickelte, mit der UNO-Charta nicht vereinbare und beispielsweise in Libyen zur Rechtfertigung des Militäreinsatzes genutzte Formel von der „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect, R2P) für seine Zwecke auf. Man sieht sich im Leben halt immer zweimal, wie ein deutsches Sprichwort sagt. In jedem Fall ist die Entwicklung in der Ukraine, und da kann man Präsident Putin uneingeschränkt zustimmen, „der Höhepunkt der negativen Tendenzen in der internationalen Politik, die sich seit Jahren zusammenbrauten.“
Bezogen auf Sanktionen erwähnte Putin amerikanischen Druck auf französische Banken. Dies spielte in der Öffentlichkeit bislang eine eher untergeordnete Rolle, weise aber auf eine Methode politischer Machtprojektion der USA in Richtung Finanzmärkte hin. Hintergrund ist die von US-Gerichten gegen die französische Bank BNP Parisbas verhängte Strafe in Höhe von neun Milliarden US-Dollar wegen Umgehung amerikanischer Sanktionen gegen Kuba, Iran und Sudan. Da die Geschäfte in Dollarwährung abgewickelt wurden, liefen sie letztlich über New York und unterlagen so der US-amerikanischen Regulierung. Allerdings waren sie nach französischem und europäischem Recht völlig legal. Der Londoner Economist warf daher völlig zu Recht die Frage nach der Zumutbarkeit von Maßnahmen auf, mit denen Amerika anderen seine Außenpolitik mittels des internationale Finanzsystems und seiner dominanten Währung aufzuzwingen versucht. Die Zeitschrift warnte die USA, dass damit Anreize für Banken geliefert würden, Zahlungssysteme auf der Grundlage anderer Währungen zu schaffen. Putin verwies in seiner Rede in diesem Zusammenhang übrigens zu Recht darauf, dass Sanktionen in der internationalen Politik nur entsprechend Artikel 7 der UN-Charta verhängt werden dürften. Alles andere sei Erpressung und politischer Druck.
Die Ukraine-Krise zeigt, dass die heutigen internationalen Konflikte nicht auf dem Widerstreit von Weltanschauungen und Ideologien beruhen. Sie sind das Ergebnis offen ausgetragener Großmachtinteressen, und zwar von allen beteiligten Seiten. Auch wenn es zynisch klingt, möchte man der These des russischen Akademiemitglieds Aleksej Arbatow zustimmen: „Für die Umsetzung der nationalen Interessen sind völkerrechtliche Normen, moralische Prinzipien, Appelle an die Hoffnungen der Völker und historische Argumente lediglich frei austauschbare Instrumente zur Erreichung des gestellten Zieles.“ Die konzeptionellen Gedanken Gorbatschows von einem Neuen Denken in der internationalen Politik zur Lösung globaler Probleme, die Vorstellungen Linksliberaler von einem Europa der gleichen und gemeinsamen Sicherheit, die These von Frieden durch Demokratisierung erscheinen demgegenüber wie illusionäre Seifenblasen aus einer anderen Zeit.
Zum Schluss ein kluges Wort von Henry Kissinger für unterbelichtete Politiker und Journalisten: „Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist für den Westen keine Politik; Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit einer solchen.“
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