Bundesanwaltlicher Zynismus
Am 12. Mai veröffentlichte der LINKEN-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko eine Erklärung, in der er sich mit der Antwort der Bundesregierung auf eine „Kleine Anfrage“ seiner Fraktion zu den Drohneneinsätzen der US-Streitkräfte auseinandersetzt. So weigerte sich die Bundesregierung in Gestalt der Staatssekretärin Dr. Stefanie Hubig (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz) folgende Einschätzung des Generalbundesanwaltes zu kommentieren: Die Nutzung von Kampfdrohnen sei keine „Heimtücke“, das Ausnutzen des „gegnerischen Überraschungsmoments“ eine „zulässige Kriegslist“. Die Kriegsgeschichte wimmelt allerdings von „Kriegslisten“. Das Holzpferd des Odysseus vor Troja war noch die harmlosere Variante. Das 20. Jahrhundert kam entschieden erfindungsreicher daher: Giftgas, Streubomben, Landminen, großflächige Entlaubungen, explodierendes Kinderspielzeug, Napalm. In jedem Falle sollte der „Gegner“ einer für ihn tödlichen Überraschung ausgesetzt werden. Über die „Zulässigkeit“ befanden und befinden natürlich die Rechtsgelehrten der listig daherkommenden Kriegsparteien. Macht sich da wirklich noch jemand Illusionen über den in der Bundesregierung herrschenden Ungeist?
Günter Hayn
Hoch den Arm
Ob per allweil stattfindender Volksabstimmungen oder Gerichtsbeschluss – in der so basisdemokratischen Schweiz werden doch immer wieder Ergebnisse gezeitigt, die, freundlich gesagt, als merkwürdig gelten dürfen. Grade eben hat zum Beispiel das Berner Bundesgericht ein Urteil einer Urner Instanz aufgehoben, die einen Mann dafür verurteilt hatte, während einer öffentlichen Veranstaltung auf der berühmten Rütli-Wiese 20 Sekunden lang den Hitlergruß gezeigt zu haben. Die justiziabel feinsinnige Begründung des Obersten Gerichts der Schweiz: Der Mann habe mit seiner Geste nur seine Gesinnung kundgetan und nicht versucht, andere für die nationalsozialistische Ideologie zu gewinnen. Der Tatbestand der Rassendiskriminierung sei erst erfüllt, wenn der Täter diese Gesinnung öffentlich „verbreite“, sprich dafür mit dem Ziel werbe, andere Menschen zu überzeugen; so nachzulesen bei Spiegel-online.
Das ist allerdings wirkliche juristische Feinkost. Und hinter ihr steht ganz gewiss keine Gesinnung, hier obwaltet natürlich objektive und damit pure Gerechtigkeit. Nun steht die Schweiz nicht im verdacht einer Faschisierung ihrer Instanzen; eine gewisse Tradition hat die dortige Zuneigung zu Extremrechts aber schon zu Zeiten des benachbarten Nazi-Unwesens gehabt, woran man sich leider denn doch ein wenig erinnert fühlt. Schöne Zeiten brechen also für alle jene in den Alpen an, die zum traditionellen „Grüezi“ nun den rechten Arm in die Höhe recken – sie wollen ja nur spielen, und sie tun dies rechtens…
HWK
Heuchel pur für Singapur
Zwischen Januar und April dieses Jahres hat Deutschland Ausfuhrgenehmigungen für Kriegsgerät im Gesamtwert von knapp 1,2 Milliarden Euro freigegeben. Sigmar Gabriel beruft sich zwar darauf, dass die dieser Tatsache zugrunde liegenden und rechtlich verpflichtenden Verträge von der Vorgängerregierung abgeschlossen worden seien, und er seinerseits den Waffenexport künftig minimieren wolle – Fakt bleibt, dass das all überall friedenschaffende Deutschland munter und hemmungslos an allerlei Kriegen mitverdient. Dass eine, was die deutscherseits so treuherzig eingeforderten Menschenrechte betrifft, nahezu archaische Diktatur wie Saudi Arabien zu den Stamm- und Hauptkunden gehört, sei hier nur angemerkt. Bereits an Realsatire allerdings grenzt der Umstand, dass ausgerechnet der Stadtstaat Singapur der Spitzenreiter unter den Empfängerländern deutscher Waffenexporte ist. Grade eben hat die 712 Quadratkilometer große Inselrepublik (entspricht etwa der Fläche Hamburgs) gebrauchte „Leopard 2“-Kampfpanzer erworben und ist damit gegen eine drohende Invasion solcher Kettenfahrzeuge aus den Nachbarländern beruhigend gesichert. Denkbar ist allerdings auch, dass mit diesem Kriegsgerät die dort drakonisch sanktionierten Straftaten wie jene des Kaugummispuckens oder des Lügens noch nun nachhaltiger bekämpft werden. Egal, es ist jedenfalls für eine gute Sache, und deutsche Arbeitsplätze sichert solches Gebaren schließlich auch – und das wollen wir doch alle, oder? Ach, Max Liebermann …
Helge Jürgs
Besuch bei Pferdeknochen und singenden Grillen
In der Luisenstraße in Berlin-Mitte könnte jeder Pflasterstein – läge er nicht unter schalldämpfendem Asphalt – Geschichten erzählen. Neben der blutigen „großen“ wurde und wird hier auch die segensreichere Geschichte von Medizin und Wissenschaft geschrieben. Zwischen Schumann- und Invalidenstraße ist (fast) alles Charité. Deren historischem Areal gegenüber steht auf dem Grundstück Luisenstraße 56 eines der wenigen noch in Berlins Mitte erhaltenen klassizistischen Gebäude: die „Ecole Veterinaire“, die „Tierarzneischule“, von Ludwig Ferdinand Hesse aus dem Jahre 1840. An deren rechtem Flügel ist eine Tordurchfahrt. Wer diese durchschreitet, steht vor einem der merkwürdigsten Bauwerke Berlins, dem 1789/90 von Carl Gotthard Langhans – ja, das ist der mit dem Brandenburger Tor! – erbauten „Theatrum anatomicum“. Langhans errichtete einen vierflügeligen Kuppelbau, dessen kreisrunder Hörsaal 1790 von Christian Bernhard Rode mit Grisaille-Malerei ausgeschmückt wurde. In diesem für seine Erbauungszeit architektonischen Wunderwerk wurden von 1790 bis 1902 Tierärzte in der Anatomie unterrichtet. Der Volksmund sprach daher einigermaßen respektlos vom „Trichinen-Tempel“. Ursächlich ging es um militärischen Bedarf. Die ersten Studenten wurden von ihren Regimentern abkommandiert. Friedrich Wilhelm II. machte das nötige Geld locker, „weil der Schade, der aus Mangel an guten Roß- und Viehärzten entstanden, für das Land und die Cavallerie von den allertraurigsten Folgen sey“. Ursprünglich war das Gebäude vom „Reußischen Garten“, eine der schönsten Gartenanlagen des alten Berlin, umgeben. Der wurde aber – auch von der Universität – einigermaßen skrupellos zugebaut. Der Trichinen-Tempel blieb erhalten und als „Tieranatomisches Theater“ beispielhaft restauriert.
Derzeit zeigt das Helmholtz-Zentrum der Uni dort die Ausstellung „Unsere Tiere“. Mitnichten versucht man, dem fast um die Ecke gelegenen Naturkundemuseum Konkurrenz zu machen. Dargeboten werden „Siebzehn Positionen im künstlerisch-wissenschaftlichen Feld“. Das klingt furchtbar abschreckend – das Gegenteil ist der Fall. Wer sich auf die Erkundungen der Künstlerinnen und Künstler zwischen Floh und Pottwal einlässt, verlässt nachdenklich und ein wenig klüger das Haus. Ich konnte dort den chinesischen Künstler Gong Zhang kennen lernen. Er präsentiert „Singende Insekten“ (das sind Grillen und Laubheuschrecken), eine während der Kulturrevolution fast verloren gegangene Kulturtechnik, die im alten China jeder Gebildete beherrschen musste. Zhangs Großeltern arbeiteten in der Verbotenen Stadt und schmuggelten Wissen und Gerätschaften (faszinierend: eine Insektenwaage!) durch die blutigen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Das ist nicht nur wundersam zu erleben – das ist ein berührendes Bild über die Bewahrung des Geistes in schlimmen Zeiten.
Wolfgang Brauer
Unsere Tiere. Siebzehn Positionen im künstlerisch-wissenschaftlichen Feld, Tieranatomisches Theater der Humboldt Universität zu Berlin (Eingang Luisenstraße 56), bis 9. August 2014, Dienstag bis Samstag 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr.
Wir von hier, ihr von dort
Einer mochte mich nicht. Das ist sein gutes Recht und er forderte mehr Demut von mir. Für frühe Artikel , als ich noch das Banner der Zukunft ins glühende Morgenrot trug und nicht sah, nicht sehen wollte, dass das, was da zu leuchten schien, nur noch das Verglühen zu Asche war.Wir saßen da, der beste deutsche Kolumnist Harald Martenstein (West), ein Thüringer Kolumnist (Ost) und die junge Kollegin Lavinia Meier-Ewert (Deutschland) befragte uns nach diesen Ost-West-Geschichten. Es war nicht das angekündigte „Duell“, es war ein freundliches Plaudern, ein Erzählen von Geschichten und irgendwie ist es ja die Summe von Geschichten, die sich zur Geschichte fügt.
Eine Frage ging, was denn eigentlich typisch Ossi sei und meine Antwort war, das sei der Legitimationsdruck mit seinen Folgen. Zum Beispiel, denke ich, reißen wir manchmal die Klappe weiter auf, als es uns, die wir den Kandidaten der Nationalen Front zu überwältigenden Wahlsiegen verhalfen, zukäme. Und es sind nicht so sehr viele, die sich da ausnehmen dürfen. Manchmal, wenn ich manche so reden höre, denke ich, 90 Prozent der Ost-Menschen haben damals die Nationale Front gewählt – und die anderen 90 Prozent das Regime bekämpft.
Was wir im Osten nicht so gut können, ist, Unangenehmes, unser Leben betreffend, auszuhalten. Doch, man kann sich kritisch sehen, ohne gleich sein ganzes Leben auf den Müll zu werfen. Das ist, was von Ost-Menschen im Allgemeinen und Ost-Journalisten im Besonderen erwartet werden kann. Aber manche von denen, die das erwarten dürfen, machen es einem schon recht schwer.
Henryk Goldberg
Mit überregionalem Anspruch
Randregionen gehören in der Regel nicht zu den kulturellen Zentren der jeweiligen Länder, auch, wenn sie dank der EU-Erweiterung nun mitten in Europa liegen. Zumindest einmal im Jahr ist es im Dreiländereck von Zittau anders. Filmenthusiasten aus dem nahegelegenen Großhennersdorf haben vor zehn Jahren das Neiße-Filmfestival aus der Taufe gehoben, das das Kinoleben in allen drei Ländern belebt. Aus Polen, Tschechien und Deutschland kommen die Wettbewerbsfilme und aus halb Europa und manchmal auch aus Übersee die Filmemacher, um über ihre Arbeit zu berichten. Reich war das Themenspektrum in diesem Jahr: litauische Flüchtlinge, deutscher Döner-Imbiss, polnische Homos, tschechoslowakische böse Clowns, jüdisches Leben Osteuropas, sarmatische Pferdefreunde, schlesische Kumpel, dalmatinische Verhütungsfeinde, böhmische Kinobetreiber, lausitzer Landvermesser…
Wiederum sagten sich in diesem Jahr die Festivalmacher um Andreas Friedrich: Wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen! Auch und gerade in kulturell benachteiligten Regionen sollte das funktionieren. Tatsächlich gab es zum Bersten volle Säle, aber eben auch Vorstellungen in den Nebenspielstätten im In- und Ausland mit mehr als enttäuschendem Zuspruch. Das lag oft an unzureichender Information. Nach wie vor blieb der Appell an die zuständigen Medien unerhört, dem Festival eine passende Tribüne zu bieten. Wenige Artikel in einzelnen Lokalausgaben der Sächsischen Zeitung oder Kurzberichte auf MDR Figaro genügen eben nicht. Der Sachsenspiegel des MDR kümmerte sich einzig um den Ehrengast Andreas Dresen, dem eine liebevolle Retrospektive gewidmet war. Doch das Programm bewies eindeutig überregionalen Anspruch.
Die trinationale Jury des Hauptwettbewerbs unter dem polnisch-deutschen Schauspieler Adrian Topol zeichnete nicht unbedingt nur publikumsträchtige Streifen aus. Sicherlich war die kroatische Komödie „Gott verhüte“ von Vinko Bresan über einen Pfarrer, der die Kondome in seiner Gemeinde zerstechen lässt, nicht tiefgründig genug. Der Publikumspreis bestärkt den Verleih Neue Visionen aber in seinem Vorhaben, den Film im Sommer in deutsche Kinos zu bringen. Mit dem Hauptpreis des Festivals wurde der tschechische Streifen „Mirakel“ von Juraj Lehotský ausgezeichnet. Die eindringliche soziale Studie um eine 15jährige, die Erfahrung mit Drogen und Prostitution hat und auf realen Ereignissen beruht, gewinnt durch die Darstellung von Michaela Bendulová an Authentizität, weil sie eigene Erfahrungen in die Rolle einbringen konnte. Leider wartete man vergeblich auf neue Aspekte in einer schon hundertmal erzählten Geschichte. Neue Fragen nach unserem Umgang mit sogenannten Behinderten stellte hingegen der unter dem internationalen Titel „Life Feels Good“ gestartete polnische Film von Maciej Piepryca. Gehen wir auf Menschen mit Handicap wirklich einfühlsam ein? Genügen die praktizierten Untersuchungsmethoden den Erkenntnissen der modernen Medizin? Auf einer wahren Begebenheit beruhend erzählt er von einem jungen Mann, der seit der Kindheit an zerebraler Bewegungsstörung leidet. Dawid Ogrodnik wurde für seine authentische Darstellung mit einem Preis ausgezeichnet.
Begleitet wurde das Festival von Ausstellungen, Lesungen (unter anderem mit der Schauspielerin Carmen-Maja Antoni) und Konzerten (so mit den überragenden Londoner Tiger-Lillies in Görlitz) und sozialen Würdigungen (wie dem Besuch des Zittauer jüdischen Friedhofs). Der Termin für das 12. Neiße-Filmfestival steht schon fest. Medienmacher diesseits und jenseits der Neiße sollten es schon jetzt in den Kalender eintragen!
F.-B. Habel
Diplomatischer Euphemismus
Vom Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, stammt die Einschätzung: „Die Ukraine-Krise ist schlicht die Rechnung dafür, dass wir unser Klassenziel bei der Anbindung Russlands an den Westen und das westliche Bündnis nicht erreicht haben.“
Verehrter Herr Botschafter a.D., das ist reichlich diplomatisch, soll heißen: euphemistisch formuliert. Denn diese Krise ist zu einem erheblichen Teil die Konsequenz fortgesetzter Verletzungen russischer Interessen durch den Westen in den vergangenen knapp 25 Jahren. Das betrifft insbesondere:
– die Ost-Erweiterungen der NATO und der EU,
– den Kosovo-Krieg samt Zerlegung Jugoslawiens,
– die Nicht-Ratifizierung des KSE-Anpassungsabkommens von 1999 durch die NATO-Staaten,
– die US-Raketenabwehrprojekte für Ost-Europa, das Mittelmeer und die Türkei,
– die Ablehnung Moskauer Initiativen für ein neues Sicherheitsarrangement zwischen Russland und dem Westen („von Wladiwostok bis Vancouver“) sowie
– das Bestreben der USA und anderer Staaten, die NATO durch Integration Georgiens und der Ukraine auch im Süden bis direkt an die russischen Grenzen vorzuschieben.
Mit dem an Moskau vorbei verhandelten Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Kiew sowie den dadurch induzierten Entwicklungen war aus russischer Sicht das Maß voll. Die Völkerrechtswidrigkeit der Annexion der Krim dürfte Moskau im Übrigen umso weniger angefochten haben, als der Westen sich mit eigenen Völkerrechtsverletzungen (vom Einmarsch in den Irak über die Abtrennung des Kosovo von Serbien bis zur Pervertierung des UNO-Mandats gegenüber Libyen) hinreichend diskreditiert hatte, um seinerseits noch glaubwürdig auf der Einhaltung von Völkerrecht bestehen zu können.
Verehrter Herr Ischinger, sollten Sie allerdings gemeint haben, „sowas kommt von sowas“, dann wollen wir Ihnen keinesfalls widersprechen.
Alfons Markuske
Katholische Veganer
Der uninspirierte Titel „Alle mal herhören!“ ist der einzige Schwachpunkt im neuen Programm der „Stachelschweine“, neben der „Distel“ das letzte Berliner Ensemble-Kabarett. Das Autorenteam Linus Höke und Volker Surmann wurde durch Peter Gitzinger und Roger Schmelzer erweitert, und das war ein guter Griff. Jede Nummer zündet, und die bewährten Kabarettisten Birgit Edenharter, Kristin Wolf, Holger Güttersberger und Detlef Neuhaus (der endlich wieder einmal schlagfertig improvisieren darf) können unter der temporeichen Regie von Norman Zechowski ihrem Affen Zucker geben. Gleich zu Beginn wird versprochen, keine Witze über Berliner Flughäfen zu machen, und das ist auch gut so. Andere bekommen genügend Fett weg, wie etwa „katholische Veganer mit badischem Migrationshintergrund“. Diesmal bleibt das Programm nicht im Lokalen, sondern bietet Anspielungen auf die internationale Politik, etwa wenn Spandauer Bootsflüchtlinge in die „Enklave Wannsee“ vordringen. Man knüpft sich die Bundeskanzlerin vor, die sich für eine sehr witzige Nummer sogar vervierfacht und in Bürgersprechstunden zu Auskünften verdammt ist. Beginnend mit dem Eröffnungssong von Rio Reiser zeigen die vier Kabarettisten eine musikalische Wandlungsfähigkeit, die in den letzten Programmen zu kurz kam. Jetzt kann man in Abwandlung des Titels getrost sagen: „Alle mal hingehen!“
Frank Burkhard
Alle mal herhören! Bis 11.7., Dienstag bis Freitag 20.00 Uhr, Kabarett-Theater im Europa-Center Berlin, Tauentzienstraße 9-12, 10789 Berlin.
Werner G. Kießig (10.2.1924–27.3.2014)
Zu der „Goldenen Pyramide“, die Ernst Fuchs entworfen hatte, 18 Meter hoch, am 30. April 1997 auf dem Schlossplatz vor dem Palast der Republik eröffnet, hat Werner Kießig mit dem „Gästebuch der Stadt Berlin“, das zum „Größten Gästebuch der Welt“ erhoben werden sollte, beigetragen. Für eine Million Eintragungen war es angelegt. Nicht solide finanziert, hat das Unternehmen, das bis zum 30. September 1998 stehen bleiben sollte, bereits zum 1. September 1997 schließen müssen. Es war für Kießig eine Herausforderung. Baugebundene Aufgaben waren ihm zuvor schon übertragen worden. Seit 1965 Mitglied der internationalen Vereinigung der Meister der Einbandkunst (MdE), hat er, schon seit 1948 Buchbindermeister, sein Können als Buchgestalter und als Restaurator nach und nach erweitern können. Er bevorzugte Leder für die Gestaltung der Bücher, die Auftragswerke waren oder in seiner eigenen Sammlung Aufnahme finden sollten. Anlässlich seines 60. Geburtstages wurde am 8. Februar 1984 im Vestibül der Deutschen Staatsbibliothek Unter den Linden eine imposante Schau seines Werkes präsentiert. Für Kießig war das Buch ein Gesamtkunstwerk, das in allen seinen Teilen beachtet werden sollte. Es war für ihn selbstverständlich, sich dem Inhalt und seinem Schöpfer zu nähern. In Berlin waren auch zu seinem 70. und 80. Geburtstag Ausstellungen zu sehen. Kießig, unterstützt von seiner Gefährtin Christine, war bis in sein hohes Alter, wenn auch nicht mehr mit der Intensität früherer Jahrzehnte, tätig. Er genoss internationales Ansehen. Mitglieder der Pirckheimer-Gesellschaft schätzten seine Hilfsbereitschaft, wenn es darum ging, einem alten Buch ein neues Gewand zu geben. Kießig schätzte seine Freundschaft zu Max Schwimmer und Werner Klemke, auch zu dem jüngeren Hermann Naumann. Unter den Schriftstellern, die sich ihm verbunden fühlten, waren Hedda Zinner, Fritz Erpenbeck und deren Sohn John Erpenbeck.
Hartmut Pätzke
Medien-Mosaik
Wer unrein ist, spreche den Namen des Herrn nicht aus. Wahrscheinlich deshalb heißt der neue polnische Film „Im Namen des …“, der 2013 auf der Berlinale den „Teddy“ gewann. Gerade für Polen ist er ungewöhnlich, ja fast revolutionär. Er erzählt von den Nöten des Pfarrers Adam (Andrzej Chyra, beim Neiße-Filmfestival 2013 mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet), der mit gestrauchelten Jugendlichen arbeitet und nicht eingestehen darf, dass er Männer liebt. In verzweifelten Momenten greift er zum Alkohol. Als immer deutlicher wird, dass er und der junge Lukasz sich zueinander hingezogen fühlen, muss eine Entscheidung fallen. Hier kommt der Bischof ins Spiel, der von Altstar Olgierd Lukaszewicz in aller Widersprüchlichkeit gespielt wird. Regisseurin Malgorzata Szumowska hat den Film gemeinsam mit Kameramann Michal Englert sehr sensibel erzählt, und es fehlt bis zum überraschenden Schluss nicht an Spannungsmomenten. Mit dem zweiten, attraktiven Hauptdarsteller Mateusz Kosciukiewicz ist die Regisseurin übrigens seit den Dreharbeiten verheiratet.
Im Namen des …, Edition Salzgeber, seit 15. Mai in ausgewählten Programmkinos.
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Bis vor wenigen Jahren hat Coco Schumann noch Konzerte gegeben. Inzwischen tritt er kürzer, aber seinen 90. Geburtstag hat er in seiner Heimatstadt Berlin groß gefeiert. Der berühmte Jazzmusiker hat die Nazi-Zeit überlebt. Für ihn als Sohn einer jüdischen Mutter war es lebensgefährlich. Er überlebte Theresienstadt, Dachau und Auschwitz, weil er Musik machen konnte. Nach seinen 1997 erschienenen Erinnerungen „Der Ghetto-Swinger“ entstand jetzt ein Comic-Buch, das sein Leben bebildert. Es ist für alle Leser geeignet, wendet sich aber besonders an ein jugendliches Publikum. Zeichner Niels Schröder hat einen einfachen, manchmal fast ungelenken Stil gewählt, der in der Farbigkeit an Kinderzeichnungen erinnert. Auch der Erzählstil der Autorin Caroline Gille ist für junge Leser eingängig. In chronologisch erzählten Episoden wird plastisch, wie aus Heinz Schumann Coco wurde – nämlich durch eine französische Freundin. Man erlebt den fast noch unbekümmerten jungen Mann, der vor 1943 in Nachtbars spielt und sogar in einem Ufa-Film mitwirkt. Wegen seiner Nähe zur Widerstandsgruppe Herbert Baum kommt er nach Theresienstadt, wo er in einem makabren Werbefilm mitspielen muss. Was er an Tod und Vernichtung erlebt, ist kaum zu schildern, aber das Comic-Buch findet dafür den richtigen Ton, auch in den Zeichnungen.
Auch die Nachkriegsjahre werden immer im Kontext zur politischen Entwicklung erzählt. Coco Schumann erträgt nicht, wie die Alt-Nazis die BRD erobern und wandert nach Lateinamerika aus. Doch nach fünf Jahren kehrt er zurück, unterstützt Willy Brandt im Wahlkampf. Die vielen berühmten Kollegen, mit denen Coco musiziert, liefern bunte Farbtupfer, etwa Marlene Dietrich, Louis Armstrong oder Heinz Erhardt – sympathisch, wenn auch die Porträtkarikatur nicht gerade Schröders Stärke ist. Das Buch ist historisch aufschlussreich und ein gutes Geschenk für Kinder und Enkel.
bebe
Caroline Gille/Niels Schröder: I got rhythm, be.bra verlag 2014, 160 Seiten, 19,95 Euro.
Mit musikalischer Breite beeindrucken
Wer sich etwas genauer mit ostdeutscher Musik beschäftigt, wird feststellen, dass von dieser Ära nicht viel übrig geblieben ist. Da singen zumeist nur noch Rentnercombos ihre alten Lieder, weil die Fans eben nur „Am Fenster“ von City und „Rockerrente“ von den Puhdys hören wollen. Ute Freudenberg bejammert die „Jugendliebe“ und Dirk Michaelis verschlimmert ab und an schmalzige Hits anderer Sänger oder interpretiert „Als ich fortging“, was man aber schon lange nicht mehr hören kann. Eine wohltuende Ausnahme ist die Berliner Band Keimzeit, die sich 1984 formierte und mit unpeinlichen Texten und verdammt coolen Rhythmen der absterbenden DDR-Musik neue Impulse gaben und zu den alternativen Gruppen gezählt werden konnten. So richtig bekannt wurde Keimzeit, die von den Gebrüdern Leisegang (Norbert, Hartmut, Roland) angeführt wird, erst nach der Wende. Ihr blueslastiger Rockstil veränderte sich mit den Jahren und erlebte mit den Alben „Irrenhaus“ und „Kapitel 11“ einen ersten Höhepunkt. Ab da ging es bergauf, könnte man dann einfach schreiben, denn die Platten verkauften sich gut, die Konzerte waren zumindest im Osten immer ausverkauft und bis zum heutigen Tag kann man den Überhit „Kling Klang“ auf vielen Kanälen hören. Mit jedem neuen Keimzeit-Album kommen musikalische „Aha-Erlebnisse“ angetrabt und der typische Sound bleibt erhalten. Es kracht an allen Enden, ab und an schimmert etwas Blues durch, aber vor allem der reichhaltige Bläsersatz und die intelligenten und aussagekräftigen Texte sorgen für Stimmung und interessierte Zuhörer. Damit Norbert Leisegang die beeindruckende musikalische Breite noch lange stimmlich meistern kann, nahm er 2005 Gesangsunterricht bei der Hallenserin Christiane Heboldt, die viele noch als wunderschöne Bobo aus dem White Wooden Houses kennen. Keimzeit scheut sich nicht vor Überraschungen, so ziehen einige Mitglieder durch kleinere Klubs und präsentieren ihre Musik unplugged. Mit bratzigen Gitarren und griffiger Hook, aber mit nur wenigen Bläsern, geht es an die Songs vergangener Jahre. Immer mit dabei: die Leisegangschen Liebeserklärungen an alle weiblichen Wesen.
Nun überrascht Keimzeit erneut, nämlich mit einem Album, dass sie gemeinsam mit dem Babelsberger Filmorchester eingespielt haben. Welche Wunderwelt der Musik tut sich vor einem auf. Die Babelsberger, die man schon von der Zusammenarbeit mit Udo Lindenberg kennt, sind kein bisschen schmalzig oder gar pompös. Nein, jeder spürt vielmehr das Können der Teilnehmer und vernimmt Songs in einem reinen Gewand, voller jubilierender Töne. Ein auf und nieder der Streicher und Bläser, wobei hier sogar der frühere Keimzeit-Saxophonist Ralf Benschu zu vernehmen ist. Mal eine verzerrte Gitarre, ein dumpfer Schlagzeugton und immer die fast näselnde, Gänsehaut erzeugende, Stimme von Norbert Leisegang. Die Spanne der Songs reicht von den Bandklassikern aus den frühen Neunzigern, wie „Maggie“, „Singapur“ und „Kling Klang“, über Lieder aus den 2000er Jahren („Ein schöner Tag“, „Seltsamer Vogel“ und „Valentinstagsblumen“) bis hin zu Stücken jüngeren Datums, wie „Leuchte, leuchte Leuchtturm“ und „Picassos Tauben“. Besonders hinhören sollte man bei den neuen Songs „Rohfassung“ und „Der verkaufte Kasper“, die sich nahtlos einfügen und neue Lust und Laune bei Keimzeit zeugen. Wer kann, sollte eins der seltenen Konzerte von Band und Orchester besuchen, denn so etwas kommt nie wieder.
Thomas Behlert
Keimzeit & Das Deutsche Filmorchester Babelsberg: Zusammen, Edel Records (auch als LP!), zirka 17,00 Euro.
Aus anderen Quellen
„[…] geht es überhaupt noch um Demokratie, den Kampf gegen Korruption, um eine lebenswerte Zukunft für die ganz normalen Ukrainer“ fragt Holger Schmale und kommt zu dem Fazit: „Nein, all dies ist untergepflügt worden in dem großen Machtspiel, das von der Ukraine Besitz ergriffen hat wie zuvor von Syrien. In beiden Ländern ist Putins Russland ebenso engagiert wie es Obamas USA sind, und in deren Gefolge auch die EU und Deutschland. Alle sind sie nun Partei, verbündet mit der einen oder der anderen streitlustigen Seite, die keine Rücksicht auf Verluste nimmt und wenig Interesse an der Vermittlung eines fairen Ausgleichs hat.“ Zu befürchten ist, dass „der Irsinn seinen Lauf [nimmt]“.
Holger Schmale: Syrische Ukraine, Berliner Zeitung, 15.05.2014. Zum Online-Volltext hier klicken.
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In einem Beitrag für das von Außenminister Frank-Walter Steinmeier initiierten Projekt „Review 2014 – Außenpolitik weiter denken“ plädiert Blättchen-Chefredakteur Wolfgang Schwarz trotz (oder besser gesagt: auch wegen) der Ukraine-Krise für Kooperation statt Konfrontation und die Perspektive einer Sicherheitspartnerschaft zwischen dem Westen und Russland. Die Idee entstand im Westen in der Endphase des Kalten Krieges – geboren aus der Erkenntnis, „dass Sicherheit im Nuklearzeitalter nicht mehr gegen-, sondern nur noch miteinander erlangt werden kann“. Es sei „der Kardinalfehler der Außenpolitik der Bundesrepublik seit 1990, diesen Grundgedanken nicht konsequent fortgeführt zu haben, um – nach Beendigung der früheren Feindschaft – einen fundamentalen Paradigmenwechsel im Verhältnis des Westens zu Russland zu erreichen“.
Wolfgang Schwarz: Sicherheit für Deutschland braucht Sicherheit für Russland. Drei Fehler deutscher Außenpolitik, Review 2014 – Außenpolitik weiter denken. Zum Volltext hier klicken.
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„Wenn man Google mit einem Wort beschreiben könnte, dann mit dem Ausdruck ‚absolut‘. Das Lexikon definiert ‚Absolutismus‘ als ein System, in dem „die herrschende Macht keiner geregelten Kontrolle durch irgendeine andere Instanz unterworfen ist“, schreibt Shoshana Zuboff und fährt fort: „Vor sechs Jahren fragte ich Eric Schmidt (Verwaltungsratschef, zuvor CEO von Google – die Red.) einmal, welche Unternehmensinnovationen Google einsetze, um sicherzustellen, dass seine Interessen mit denen der Endnutzer übereinstimmten. Wäre Google bereit, deren Vertrauen zu missbrauchen? … Schmidts Antwort klang […] wie der Inbegriff von Absolutismus: ‚Vertraut mir. Ich weiß es am besten.‘ In diesem Augenblick war mir klar, dass ich da etwas Neues und Gefährliches vor mir hatte, dessen Auswirkungen weit über den ökonomischen Bereich hinaus- und tief ins alltägliche Leben hineinreichten.“
Shoshana Zuboff: Die Google-Gefahr. Schürfrechte am Leben, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.04.2014. Zum Volltext hier klicken.
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In Sachen NSA-Skandal hatte die Schriftstellerin Juli Zeh im Juli 2013 gemeinsam mit über 30 Autoren einen offenen Brief an Angela Merkel verfasst. Darin wurde die Kanzlerin aufgefordert, den „größten Abhörskandal in der Geschichte der Bundesrepublik“ nicht hinzunehmen. Eine Antwort hat Juli Zeh bis heute nicht erhalten. Jetzt schickte sie eine Mahnung, in der es unter anderem heißt: „Wir müssen uns überlegen, welche ethischen Konsequenzen aus der Digitalisierung folgen. Soll die Gesundheitsbiografie eines Menschen für Krankenkassen, Arbeitgeber und Pharmaindustrie offenliegen? Wollen wir, dass unsere Kinder in jeder Minute ihres Schullebens Evaluierungen ausgesetzt sind, weil Lernprogramme permanent und in Echtzeit Scorings über den aktuellen Leistungsstand erstellen? Wollen wir, dass ein Mensch in Gewahrsam genommen wird, weil ein Algorithmus errechnet hat, dass er mit 87 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Verbrechen begeht? Wollen wir, dass uns das Auto vorschlägt, welches Restaurant wir besuchen, und dass das Restaurant für diesen Vorschlag bezahlen kann? Und was machen wir mit der exponentiell wachsenden Übermacht von Google?“
Brief von Juli Zeh an die Kanzlerin, Die Zeit, 17.05.2014. Zum Volltext hier klicken.
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„Ein Drittel der Lebensmittel, die weltweit erzeugt werden, verdirbt oder landet auf dem Müll, in den Industrieländern sogar die Hälfte“, beginnt Valentin Thurn seinen Beitrag. Und konkret: „Weltweit werden jährlich rund 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel umsonst produziert. Die Welternährungsorganisation FAO kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass es effizienter sei, ‚in der gesamten Wertschöpfungskette Verluste zu begrenzen, als mehr zu produzieren‘. Damit rückt sie von ihrer früheren Position ab, das Hungerproblem einer wachsenden Weltbevölkerung könne nur durch Produktionssteigerungen gelöst werden.“ Ein Aspekt der Vergeudung besteht darin, dass „Hersteller […] den Verbraucherschutz als Vorwand für immer kürzere Haltbarkeitsfristen“ nutzten. Es geht aber auch anders: „Die niederländische Supermarktkette Jumbo hatte eine geniale Idee: Wer ein Produkt mit einer Ablauffrist von ein oder zwei Tagen im Regal entdeckt, darf seinen Fund umsonst mitnehmen. So wird die Optik umgedreht: Die Kunden suchen nicht mehr nach Produkten mit möglichst langem Haltbarkeitsdatum, sondern nach solchen, die sonst aussortiert und vernichtet würden – und erledigen nebenher das Aussortieren, für das normalerweise die Angestellten des Supermarkts zuständig sind.“
Valentin Thurn: Das große Wegwerfen, Le Monde diplomatique, 09.05.2014. Zum Volltext hier klicken.
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